Zusammenfassung
Das Kleinhirn ist entwicklungsgeschichtlich eine der ältesten Strukturen des Gehirns. Es liegt in der hinteren Schädelgrube und spielt neben der Gleichgewichtskontrolle eine zentrale Rolle für die Abstimmung von Bewegungsabläufen. Aufgrund der unterschiedlichen Funktionen teilt man das Kleinhirn in mehrere Bereiche ein: Das Vestibulo-, Spino- und Pontocerebellum. Daneben gibt es eine anatomische Einteilung in die beiden Kleinhirnhemisphären und den Kleinhirnwurm.
Über drei Kleinhirnstiele ist das Kleinhirn mit dem Hirnstamm verbunden. Über diese verlaufen afferente und efferente Bahnen, die das Kleinhirn mit anderen zerebralen Strukturen verbinden. Genauso wie das Großhirn lässt sich auch das Innere des Kleinhirns in das Kleinhirnmark (mit den Kleinhirnkernen) und die Kleinhirnrinde gliedern.
In der Kleinhirnrinde erfolgt die Verarbeitung der Informationen. Anschließend werden die integrierten Informationen in den Kleinhirnkernen gesammelt, die den Ausgang des Kleinhirns für die Ansteuerung der Efferenzen darstellen.
Makroskopische Anatomie des Kleinhirns
Steckbrief
- Funktion
- Erlernen, Feinregulation und Koordination von Bewegungsabläufen
- Aufrechterhaltung des Muskeltonus
- Lage
- In der hinteren Schädelgrube
- Dorsal von Medulla oblongata und Pons
- Wird vom Tentorium cerebelli überdacht
- Form: Im Sagittalschnitt baumartige Form
- Größe: Etwa 1/6 der Größe des Großhirns
- Gewicht: Etwa 140 g
Aufbau
Anatomische Einteilung des Kleinhirns
- Das Kleinhirn lässt sich in zwei Kleinhirnhemisphären und den Kleinhirnwurm einteilen
- Kleinhirnhemisphären (= Hemispheria cerebelli)
- Kleinhirntonsillen (= Tonsillae cerebelli): Kaudalster Abschnitt der Kleinhirnhemisphäre
- Kleinhirnwurm (= Vermis cerebelli): Befindet sich zentral zwischen den Hemisphären
- Kleinhirnhemisphären (= Hemispheria cerebelli)
- Betrachtet man das Kleinhirn von rostral nach kaudal, so lassen sich Hemisphären und Wurm in drei Lappen einteilen, die durch zwei Fissuren voneinander getrennt sind
- Lappen
- Lobus cerebellaris anterior
- Lingula cerebelli: Am kranialen und medianen Ende des Vermis gelegener Teil des Lobus cerebellaris anterior, der dem Velum medullare superius aufliegt
- Lobus cerebellaris posterior
- Lobus flocculonodularis: Besteht aus dem Nodulus vermis und den beiden Flocculi
- Nodulus vermis: Kaudaler Abschnitt des Kleinhirnwurms, der nur von ventral sichtbar ist
- Flocculus: Anteile der Hemisphären, die beidseits lateral des Nodulus liegen
- Lobus cerebellaris anterior
- Fissuren
- Fissura prima: Teilt die Hemisphären in Lobus cerebelli anterior und Lobus cerebelli posterior
- Fissura posterolateralis: Trennt Lobus flocculonodularis vom Lobus cerebelli posterior
- Lappen
- Ist über drei Kleinhirnstiele mit dem Hirnstamm verbunden
Untere Einklemmung
Bei gesteigertem intracraniellem Druck kann es zu einer sog. unteren Einklemmung kommen. Hierbei werden die Kleinhirntonsillen zwischen Medulla oblongata und Foramen magnum eingeklemmt, wobei lebenswichtige Strukturen in der Medulla oblongata (z.B. das Atemzentrum) komprimiert werden können.
Gefäßversorgung
Im Kleinhirn verlaufen die arteriellen und venösen Gefäße getrennt voneinander. Die arteriellen Gefäße anastomosieren untereinander, sodass bei Verschluss eines Gefäßes die Versorgung des Kleinhirns weiterhin sichergestellt wird.
Gefäßversorgung | |
---|---|
Arteriell | |
Venös |
|
Topografie
- Lage: Befindet sich in der hinteren Schädelgrube (= Fossa cranii posterior)
- Begrenzungen
- Ventral: Medulla oblongata, Pons und IV. Ventrikel
- Kranial: Wird vom Tentorium cerebelli überdacht
- Kaudal: Foramen magnum
Mikroskopische Anatomie des Kleinhirns
Das Kleinhirn dient der Koordination und Feinabstimmung von Bewegungsabläufen. Hierfür erhält es Bewegungsinformationen aus unterschiedlichen Bereichen des ZNS, die in der Kleinhirnrinde verschaltet werden. Die integrierten Informationen werden in den Kleinhirnkernen gesammelt und von hier an die Efferenzen des Kleinhirns weitergeleitet.
- Das Innere des Kleinhirns lässt sich gliedern in
- Kleinhirnrinde (Cortex cerebelli)
- Kleinhirnmark (Corpus medullare cerebelli) mit den Kleinhirnkernen (Nuclei cerebelli)
Kleinhirnrinde
Schichten der Kleinhirnrinde
Die Kleinhirnrinde besitzt einen dreischichtigen Aufbau (von außen nach innen).
Charakteristika | Spezifischer Inhalt | |
---|---|---|
Stratum moleculare (=Molekularschicht) |
|
|
Stratum ganglionare (=Purkinje-Zellschicht) |
|
|
Stratum granulosum (Kleinhirn) (=Körnerschicht des Kleinhirns) |
|
|
Zelltypen der Kleinhirnrinde
In der Kleinhirnrinde kommunizieren verschiedene Nervenzelltypen miteinander. Von diesen Nervenzelltypen bilden die Purkinje-Zellen die zentrale Verschaltungsstelle. Die übrigen Zelltypen sind jeweils auf unterschiedliche Weise mit den Purkinje-Zellen verschaltet und wirken dort überwiegend hemmend.
Neuronentyp | Zellname | Wirkung | Charakteristika |
---|---|---|---|
Projektionsneurone |
|
|
|
Interneurone |
|
| |
| |||
|
| ||
|
|
| |
Gliazellen |
|
|
|
Die Körnerzellen sind die einzigen erregenden Zellen innerhalb der Kleinhirnrinde!
Die Axone der Purkinje-Zellen wirken hemmend und verlassen als einzige efferente Fasern die Kleinhirnrinde!
Faserarten der Kleinhirnrinde
Afferente Verbindungen
Die Kleinhirnrinde hat zwei Eingangssysteme: das Kletterfasersystem und das Moosfasersystem. Beide Systeme sind exzitatorisch und nutzen hauptsächlich Glutamat als Neurotransmitter. Nach Verarbeitung der Informationen verlassen diese die Rinde über die Fasern der Purkinje-Zellen und gelangen so zu den Kleinhirnkernen.
- Zwei afferente Fasersysteme
- Kletterfasern
- Ursprung: Contralaterale Ncll. olivares inferiores
- Direkte Verschaltung
- Kletterfasern enden direkt am Dendritenbaum der Purkinje-Zellen und erregen diese
- Dabei ist eine Kletterfaser mit jeweils einer Purkinje-Zelle verschaltet
- Kletterfasern geben außerdem exzitatorische Kollateralen zu den Kleinhirnkernen ab
- Moosfasern
- Ursprung:
- Indirekte Verschaltung mit den Purkinje-Zellen
- Moosfasern sind im Stratum granulosum mit den Körnerzellen synaptisch verschaltet
- Die Körnerzellen senden ihre Axone als Parallelfasern zu den Purkinje-Zellen und erregen diese
- Direkte Verschaltung mit Kleinhirnkernen
- Moosfasern bilden direkte Kollateralen mit den Kleinhirnkernen
- Kletterfasern
Die Kletterfasern entspringen im unteren Olivenkernkomplex und sind synaptisch mit dem Dendritenbaum der Purkinje-Zellen verschaltet!
Für die Zuordnung von Kletterfasern zu ihrem Ursprungsort kann helfen: Auf den Olivenbaum kann man klettern.
Efferente Verbindungen
Die Kleinhirnrinde hat nur ein Ausgangssystem: Die Purkinje-Zellen, die die nachgeschalteten Kleinhirnkerne sowie die Ncll. vestibulares hemmen. Die Kleinhirnkerne projizieren anschließend zum motorischen Kortex und zu motorischen Zentren im Hirnstamm.
- Purkinje-Zellen
- Verschaltung zu den Kleinhirnkernen
- Purkinje-Zellen projizieren zumeist in die Kleinhirnkerne
- Von den Kleinhirnkernen werden die Informationen weitergeleitet
- Über exzitatorische Neurone zu
- Thalamus und von dort in den motorischen Kortex
- Ncl. ruber
- Ncll. vestibulares und von dort in die ventromediale Bahn
- Formatio reticularis
- Mesencephalon und Diencephalon
- Rückenmark
- Über inhibitorische Neurone zu
- Über exzitatorische Neurone zu
- Ohne Verschaltung
- Einzelne Purkinje-Zellen verlassen das Kleinhirn und ziehen ohne Verschaltung in den Kleinhirnkernen zu den Ncll. vestibulares in Pons und Medulla oblongata.
- Verschaltung zu den Kleinhirnkernen
Verschaltung zwischen Kleinhirnrinde und Kleinhirnkernen
Das Kleinhirn verfügt über zahlreiche Regelkreise mit Rückkopplungsmechanismen. So bildet die Kleinhirnrinde z.B. eine hemmende Schleife, die die Efferenzen der Kleinhirnkerne moduliert.
Informationsfluss und Verschaltungsprinzip zwischen Kleinhirnrinde und Kleinhirnkernen
- Bewegungsinformationen gelangen über afferente exzitatorische Bahnen (Moos- und Kletterfasern) zur Kleinhirnrinde
- Die afferenten Bahnen geben jeweils Kollateralen zu den Kleinhirnkernen ab
- Die Kleinhirnrinde moduliert über die hemmende Schleife (Purkinje-Zellen) die Kleinhirnkerne
- Die Kleinhirnkerne leiten die integrierten Informationen über exzitatorische Fasern an unterschiedliche Hirnstammbereiche (u.a. an Vestibulariskerne, Formatio reticularis, Ncl. ruber, Thalamus) und darüber dann an die Großhirnrinde sowie das Rückenmark weiter
- Ebenso hemmen die Kleinhirnkerne den Ncl. olivaris inferior (aus diesem entstammen die Kletterfasern)
Kleinhirnkerne
Die Kleinhirnkerne befinden sich im Kleinhirnmark und sind hier in die weiße Substanz eingelagert. Hier endet ein Großteil der Fasern der Purkinje-Zellen. Die Axone der Kleinhirnkerne dienen als "Ausgang" aus dem Kleinhirn; abgesehen von einigen direkten Faserverbindungen stammen alle Efferenzen des Kleinhirns aus den Kernen. Sie bilden somit die zentrale Verschaltungsstelle des Kleinhirns. Je nachdem, mit welchem Kleinhirnanteil die Kerne kommunizieren, kann man ihnen unterschiedliche Funktionen zuordnen.
- Nucleus dentatus (= Zahnkern)
- Form: Gefaltetes Blatt
- Verschaltung: Axone der Purkinje-Zellen aus den Kleinhirnhemisphären enden hier
- Funktionelle Einordnung: Integriert motorische Aktionen
- Nucleus interpositus
- Setzt sich aus zwei Kernen zusammen
- Nucleus globosus (= Kugelkern)
- Nucleus emboliformis (= Pfropfkern)
- Verschaltung: Axone der Purkinje-Zellen aus der sog. paravermalen Zone enden hier
- Funktionelle Einordnung: Gleichgewichts- und Stützmotorik, Zielmotorik
- Setzt sich aus zwei Kernen zusammen
- Nucleus fastigii (= First- oder Giebelkern)
- Form: Eiförmig
- Verschaltung: Axone der Purkinje-Zellen aus dem Kleinhirnwurm enden hier
- Funktionelle Einordnung: Gleichgewichts- und Stützmotorik
Funktion des Kleinhirns
Das Kleinhirn ist das Regulationsorgan für die Motorik. Funktional kann man es in drei Anteile gliedern: Das Vestibulocerebellum, das Spinocerebellum und das Pontocerebellum. Darüber hinaus kann das Kleinhirn entwicklungsgeschichtlich in das Archicerebellum, Paleocerebellum und das Neocerebellum eingeteilt werden, wobei diese Einteilung nur teilweise mit der funktionellen Einteilung übereinstimmt.
Funktionen der einzelnen Anteile
Funktionen der Kleinhirnabschnitte | |||
---|---|---|---|
Funktionelle Gliederung (und phylogenetische Zuordnung) | Funktion | Zugehöriger Rindenbereich | Angesteuerte Kleinhirnkerne |
Vestibulocerebellum (∼Archicerebellum ) |
|
| |
Spinocerebellum (∼Paleocerebellum ) |
|
| |
Pontocerebellum (∼Neocerebellum ) |
|
|
Funktionsstörungen des Kleinhirns
Zu den klassischen Symptomen bei Kleinhirnschädigungen gehören:
- Cerebelläre Ataxie: Als Ataxie bezeichnet man einen unkoordinierten Ablauf von Bewegungen
- Nystagmus (=Blickstabilisierungsstörung)
- Intentionstremor
- Als Tremor beschreibt man rhythmische Bewegungen einer oder mehrerer Körperteile
- Typisch für den Intentionstremor ist, dass das Bewegungsausmaß zunimmt, wenn man sich dem Ziel nähert
- Dysdiadochokinese: Verlust der Fähigkeit, antagonistische Bewegungen auszuführen (z.B. Pronation/Supination, klassisches Bsp.: Schraube eindrehen)
Kleinhirnstiele
Die afferenten und efferenten Faserverbindungen des Kleinhirns verlaufen über drei paarig angelegte Kleinhirnstiele und verbinden die ventrale Seite des Kleinhirns mit dem Hirnstamm. Sie leiten Informationen zu und von den Kleinhirnabschnitten und sind somit eng mit deren Funktion verknüpft.
Oberer Kleinhirnstiel
Die meisten cerebellären Efferenzen verlaufen im oberen Kleinhirnstiel. Zu diesen zählen der Tractus cerebellothalamicus sowie der Tractus cerebellorubralis. Der Tractus spinocerebellaris anterior leitet propriozeptive Afferenzen an den Kleinhirnwurm.
Faserbahn | Ursprung | Ziel | Funktion | Besonderheit | |
---|---|---|---|---|---|
Afferenzen |
|
|
| ||
Efferenzen |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
| |
|
|
Mittlerer Kleinhirnstiel
Der mittlere Kleinhirnstiel enthält nur afferente Fasern. Diese stammen aus dem Pons, kreuzen hier und enden als Moosfasern in der contralateralen Kleinhirnhälfte.
Faserbahn | Ursprung | Ziel | Funktionelle Zuordnung | |
---|---|---|---|---|
Afferenzen |
|
|
|
|
Die Fibrae pontocerebellaris sind eine Fortsetzung der corticopontinen Bahn!
Unterer Kleinhirnstiel
Im unteren Kleinhirnstiel verlaufen die wichtigsten cerebellären Afferenzen. Durch diese entsteht eine Verbindung zwischen dem Kleinhirn, den Vestibulariskernen, der unteren Olive und dem Rückenmark.
Faserbahn | Ursprung | Ziel | Funktionelle Zuordnung | |
---|---|---|---|---|
Afferenzen |
|
| ||
|
|
|
| |
|
|
| ||
Efferenzen |
|
|
| |
|
|
|
Embryologie
- 6. Entwicklungswoche: Am Rand der Flügelplatte des Rautenhirns entsteht die Rautenlippe
- 3. Monat: Entwicklung des Kleinhirnwulstes aus der Rautenlippe (= Tuberculum cerebelli)
- Anfang 4. Monat: Erstmals Purkinje-Zellen abgrenzbar
- Prinzip
- Die phylogenetisch ältesten Kleinhirnabschnitte entwickeln sich auch zuerst
Wiederholungsfragen zum Kapitel Kleinhirn
Mikroskopische Anatomie des Kleinhirns
In welche Schichten ist die Kleinhirnrinde gegliedert und welche charakteristischen Besonderheiten haben diese Schichten?
Welche Zellen bezeichnet man als Projektionsneurone des Kleinhirns und welche Wirkung haben sie?
Was ist die Besonderheit der sog. „Körnerzelle“?
Welche Aufgabe erfüllt die sog. „Golgi-Zelle“?
Nenne die zwei afferenten Fasersysteme des Kleinhirns! Welchen Neurotransmitter nutzen sie?
Welche Ursprünge und Ziele haben die zwei afferenten Fasersysteme der Kleinhirnrinde?
Beschreibe Funktion, Form und Lokalisation des Nucleus dentatus!
Funktion des Kleinhirns
Welche klinische Symptomatik resultiert aus einer Funktionsstörung des Kleinhirns?
Kleinhirnstiele
Welche Faserverbindungen des Kleinhirns verlaufen im mittleren Kleinhirnstiel?
Wo enden die Afferenzen des sog. „Tractus vestibulocerebellaris“ und welche Informationen vermittelt er?
Eine Sammlung von allgemeineren und offeneren Fragen zu den verschiedenen prüfungsrelevanten Themen findest du im Kapitel Beispielfragen aus dem mündlichen Physikum.
Meditricks
In Kooperation mit Meditricks bieten wir durchdachte Merkhilfen an, mit denen du dir relevante Fakten optimal einprägen kannst. Dabei handelt es sich um animierte Videos und Erkundungsbilder, die auf AMBOSS abgestimmt oder ergänzend sind. Die Inhalte liegen meist in Lang- und Kurzfassung vor, enthalten Basis- sowie Expertenwissen und teilweise auch ein Quiz sowie eine Kurzwiederholung. Eine Übersicht aller Inhalte findest du im Kapitel „Meditricks“. Meditricks gibt es in unterschiedlichen Paketen – für genauere Informationen empfehlen wir einen Besuch im Shop.
Kleinhirn
Kleinhirn: Kurs
Kleinhirn: Histologie
Kleinhirn: Histologie-Kurs
Inhaltliches Feedback zu den Meditricks-Videos bitte über den zugehörigen Feedback-Button einreichen (dieser erscheint beim Öffnen der Meditricks).