Zusammenfassung
Das Kleinhirn regelt als Koordinationszentrum die Stütz-, Blick- und Zielmotorik. Sobald ein Kleinhirnschaden vorliegt, werden i.d.R. Bewegungen, Haltung, Stand sowie Gang unsicher und Zielbewegungen können nicht mehr adäquat ausgeführt werden. Außerdem kommt es meist zu Sprechstörungen und einer Hypotonie der Muskulatur. Diese Leitsymptomatik wird als zerebelläre Ataxie zusammengefasst. Das Spektrum möglicher Ursachen ist breit. Ätiologisch lassen sich primäre Kleinhirnerkrankungen, zu denen u.a. die hereditären Ataxien gehören, von sekundären Kleinhirnerkrankungen abgrenzen. Sekundäre Kleinhirnerkrankungen können auf eine lokale Läsion (z.B. Kleinhirninfarkt, Raumforderung, Infektion) oder eine systemische Störung (z.B. Medikamenten-/Drogenintoxikation oder Autoimmunerkrankungen) zurückzuführen sein. Zur Feststellung der Ätiologie können sowohl Symptombeginn als auch Symptomkonstellationen beitragen. Diagnostisch wegweisend kann somit bereits die (Fremd‑)Anamnese und die klinische Untersuchung sein. Durch eine Bildgebung und Labordiagnostik kann die Diagnose gesichert werden. Die Therapie richtet sich nach der zugrunde liegenden Pathologie.
Im Kapitel primäre zerebelläre Ataxien gehen wir gesondert auf diese Form der primären Kleinhirnerkrankungen ein.
Ätiologie
Primäre Kleinhirnerkrankungen
- Primäre zerebelläre Ataxien
- Hereditäre Ataxien mit unterschiedlichem Erbgang
- Sporadische Ataxien
- Primäre zerebelläre ZNS-Tumoren, insb.
- Medulloblastom
- Astrozytome und Hämangioblastome
- Akustikusneurinom
- Pilozytische und zystische Astrozytome
Sekundäre Kleinhirnerkrankungen (sekundäre zerebelläre Ataxien)
Lokale Störungen (Auswahl) [1]
- Ischämisch, z.B. bei
- Hirninfarkten im vertebrobasilären Stromgebiet (PICA, AICA, SCA)
- Raumforderndem Kleinhirninfarkt
- Hämorrhagisch im Rahmen von infratentoriellen Blutungen
- Tumorös, z.B. bei Kleinhirnmetastasen
- Infektiös durch erregerbedingte Zerebellitis
Systemische Störungen (Auswahl) [1]
- Medikamentös , z.B. durch
- Lithium (siehe auch: Lithiumintoxikation) [2]
- Carbamazepin [3]
- Phenytoin [2]
- Chemotherapeutika, z.B. 5-Fluoruracil und Cytarabin [1]
- Toxisch, z.B. durch
- Alkohol
- Akut: Alkoholintoxikation
- Chronisch: Alkoholische Kleinhirndegeneration (ACD)
- Schwermetalle, insb. Quecksilber, Blei, Mangan [4]
- Alkohol
- Paraneoplastisch als paraneoplastische Kleinhirndegeneration
- Autoimmun, z.B.
- Chronisch-entzündliche ZNS-Erkrankung wie Multiple Sklerose
- GAD-Antikörper-assoziierte Ataxie
- Glutenataxie im Rahmen einer Zöliakie [5]
- Hashimoto-Ataxie im Rahmen einer Hashimoto-Enzephalopathie
- Hypovitaminosen, z.B. durch
- Wernicke-Enzephalopathie im Rahmen eines Vitamin-B1-Mangels
- Vitamin-E-Mangel
- Weitere, z.B.
- Kupferablagerungen im Kleinhirn bei Morbus Wilson [6]
- Ataxie bei schwerer Hypothyreose [7]
Allgemeine Kleinhirnsymptome
Das Kleinhirn dient als Koordinationszentrum für die adäquate Durchführung zielgerichteter Bewegungsabläufe, die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und des Muskeltonus. Die bei einer Kleinhirnerkrankung auftretenden Koordinationsstörungen werden als zerebelläre Ataxie zusammengefasst.
Zerebelläre Ataxie – topografische Zuordnung von Kleinhirnsymptomen [8]
Entsprechend der funktionellen Gliederung des Kleinhirns können je nach Läsionsort typische Ausfallsymptome beobachtet werden. I.d.R. treten die hier nach ihrer Topografie aufgeführten Symptome aber selten isoliert auf .
Läsion des Pontocerebellums
Über die Verbindung vom Nucleus dentatus zum prämotorischen Kortex erfolgt die Koordination willkürlicher Zielbewegungen sowie die Feinabstimmung von Bewegungsabläufen. Bei einer Schädigung kann es zu folgenden Symptomen kommen:
-
Ipsilaterale Extremitätenataxie mit
- Dysmetrie
- Dyssynergie
- Dysdiadochokinese
- Intentionstremor und Aktionstremor
- Ipsilaterales Rebound-Phänomen
- Ataktische Dysarthrie mit skandierender Sprache
- Muskuläre Hypotonie und Hyporeflexie
Läsion des Spinocerebellums
Mithilfe seiner propriozeptiven Afferenzen und efferenten deszendierenden Bahnen trägt das Spinocerebellum durch Steuerung des Muskeltonus zum harmonischen Zusammenspiel antagonistischer Muskeln beim Stand und Gang bei. Bei einer Schädigung kann es zu folgenden Symptomen kommen:
- Rumpfataxie mit
- Standataxie und Gangataxie
- Ipsilateraler Fallneigung
- Ataktische Dysarthrie
Läsion des Vestibulocerebellums
Das Vestibulocerebellum dient der Kontrolle des Körpergleichgewichts und der Feinabstimmung von Augenbewegungen. Bei einer Schädigung kann es zu folgenden Symptomen kommen:
- Symptome einer zentral-vestibulären Störung mit
- Schwindel
- Zentralen Okulomotorikstörungen, z.B.
Panzerebelläres Syndrom
- Vorliegen aller Symptome einer zerebellären Ataxie
- Bei hereditären Kleinhirnerkrankungen: Neben dem panzerebellären Syndrom oftmals auch nicht-zerebelläre Symptome (siehe auch: Primäre hereditäre Ataxien)
Diagnostik
Initiale Einteilung nach zeitlichem Beginn bzw. Verlauf der Symptomatik
- Bei akuter Symptomatik (über Sekunden bis Minuten)
- Bis auf Weiteres V.a. ischämischen oder hämorrhagischen Schlaganfall → Vorgehen gemäß Schlaganfall - AMBOSS-SOP
- Falls Defizite nicht zu einem Schlaganfall passen : Basisdiagnostik bei subakuten Kleinhirnsymptomen, anschließend ggf. erweiterte Diagnostik
- Bei subakuter oder chronisch-progredienter Symptomatik (über Stunden, Tage oder Wochen)
- Basisdiagnostik bei subakuten Kleinhirnsymptomen zum Ausschluss weiterer Notfallursachen , insb.
- Alkoholintoxikation oder -abhängigkeit
- Medikamenten-, Drogen- oder sonstige Intoxikation
- Wernicke-Enzephalopathie
- Zerebellitis
- Erweiterte Diagnostik nach Ausschluss von Notfällen
- Basisdiagnostik bei subakuten Kleinhirnsymptomen zum Ausschluss weiterer Notfallursachen , insb.
Bei akutem Symptombeginn besteht bis auf Weiteres der Verdacht auf einen ischämischen oder hämorrhagischen Schlaganfall. Entsprechend erfolgt die diagnostische Abklärung gemäß der Schlaganfall-Diagnostik, siehe: Schlaganfall - AMBOSS-SOP.
Basisdiagnostik bei subakuten Kleinhirnsymptomen
Anamnese
Neben dem oben beschriebenen zeitlichen Aspekt sowie dem Alter des/der Betroffenen bei Erkrankungsbeginn sollte zur weiteren Eingrenzung der Genese Folgendes erfragt werden:
- Medikamentenanamnese: Hinweise auf Medikamentenintoxikation?
- Häufig ursächliche Medikamente: Lithium, Phenytoin, Carbamazepin
- Drogenanamnese: Insb. Erfragen des Alkoholkonsums
- Bei Alkoholabhängigkeit: V.a. Wernicke-Enzephalopathie → Sofortige Thiaminsubstitution
- Bei akuter Alkoholintoxikation siehe: Therapie der akuten Alkoholintoxikation
- Ernährung: Besondere Ernährungsgewohnheiten, die Hypovitaminosen nahelegen?
- Insb. bei Malnutrition: V.a. Wernicke-Enzephalopathie → Sofortige Thiaminsubstitution
- Hinweise auf Tumorgeschehen: Bspw. B-Symptomatik?
- Familienanamnese: Hinweis auf hereditäre Ataxie (ähnliche Symptomatik bei Verwandten)?
- Berufsanamnese: Hinweis auf Berufskrankheit durch Metalle?
- Insb. Quecksilber, Blei, Mangan
- Besondere Auslöser: Bspw. vorangegangener Infekt als Hinweis auf eine erregerbedingte Zerebellitis
Neurologische Untersuchung
- Meningismusprüfung
- Bei meningitischem Syndrom weiter gemäß: Meningitisches Syndrom - AMBOSS-SOP
- Koordinationsprüfung: Befundung der zerebellären Ataxie sowie Abgrenzung von einer sensiblen Ataxie
- Untersuchung von Rumpf- und Extremitätenkoordination mit
- Prüfung der Okulomotorik
- Untersuchung des Sprechens
Internistische Untersuchung
- Ergeben sich Hinweise für systemische Ursachen ? Bspw.
- Symptome einer Alkoholabhängigkeit?
- Hinweise auf Malnutrition und/oder Gewichtsverlust?
- Je nach Medikamentenanamnese ggf. Suche nach weiteren Symptomen einer Medikamentenintoxikation
- Hinweise auf Tumorgeschehen?
- Temperaturmessung: Fieber?
Basislabordiagnostik
Die initial durchgeführte Basislabordiagnostik liefert einen Überblick über die wichtigsten Organfunktionen und Infektparameter, zum Teil dient sie auch dem Ausschluss von Differenzialdiagnosen . Ethanol-, Thiamin- und Vitamin-B12-Spiegel sollten immer bestimmt werden, weitere Medikamentenspiegel und ein Drogenscreening können abhängig von der (Fremd‑)Anamnese und den Befunden der körperlichen Untersuchung sinnvoll sein.
- Venöse Blutentnahme
- Kleines Blutbild, CRP, PCT
- Blutzucker, Elektrolyte (Na+, K+, Mg2+, Ca2+), Phosphat, Lactat, Kreatinin, Harnstoff, GFR
- TSH
- Bilirubin, ALT, γGT
- INR, PTT
- Thiamin, Vitamin B12, Methylmalonsäure, Folsäure
- Ethanol, CDT
- Bei V.a. eine infektiöse Genese : Blutkulturen
- Ggf. Medikamentenspiegel
- Ggf. Urinprobe: Toxikologie-Screening
Bildgebung [1][9]
- Mittel der Wahl: cMRT Schädel
- Alternative: cCT
- Wegweisende Befunde, insb. für fokale Ursachen
- Hirnödem
- Signalsteigerungen mit Hinweis auf Inflammation
- Ischämische, hämorrhagische, raumfordernde Läsionen
- Radiologische Hirndruckzeichen
Erweiterte Labordiagnostik
Nach Ausschluss notfallmäßiger Ursachen kann nach Abschluss der Basisdiagnostik häufig schon eine Verdachtsdiagnose gestellt werden. Die erweiterte Labordiagnostik richtet sich dann nach der vermuteten Ursache.
- Bei V.a. entzündliche Genese siehe: Spezielle Diagnostik bei V.a. Enzephalitis: 1. Abklärung häufiger Ursachen
- Bei V.a. hereditäre Ataxie: Molekulargenetische Diagnostik
- Bei V.a. weitere Hypovitaminosen: Bspw. Vitamin-E
- Bei V.a. chronische Schwermetallexposition: Schwermetallbestimmung