Zusammenfassung
Das Gleichgewichtsorgan ist zusammen mit dem Hörorgan Bestandteil des Innenohrs und befindet sich im Felsenbein. Es setzt sich aus zwei Anteilen zusammen: Den einen Teil bilden die sog. Makulaorgane, die für die Detektion linearer Beschleunigungen zuständig sind, und den anderen die Bogengänge, die Drehbeschleunigungen wahrnehmen. Dabei erfolgt die Wahrnehmung dieser beiden Veränderungen über ein besonderes Sinnesepithel mit charakteristischen Haarzellen, auf deren Oberfläche sich wiederum Sinneshärchen befinden. Der adäquate Reiz für eine Sinneswahrnehmung ist dabei die Abscherung eben dieser Sinneshärchen.
Im Rahmen der Reizübertragung (sog. mechanoelektrische Transduktion) wird aus der mechanischen Abscherbewegung ein Rezeptorpotenzial generiert. Charakteristischerweise hat die Haarzelle bereits im Ruhezustand eine Spontanaktivität, welche je nach Abscherrichtung der Zilien – und somit in Abhängigkeit von der Drehrichtung bzw. vom Ausmaß der linearen Beschleunigung - entweder gehemmt oder gesteigert wird.
Ein Großteil der vestibulären Informationen fließt mit Afferenzen aus dem visuellen und taktilen System in den Vestibulariskernen im Hirnstamm zusammen. Die verarbeiteten Informationen werden anschließend in unterschiedliche Bereiche des Gehirns und ins Rückenmark gesendet. Unter anderem projizieren die Vestibulariskerne auch in die Augenmuskelkerne und ermöglichen dadurch eine Steuerung der visuellen Wahrnehmung bei Kopfbewegungen.
Du möchtest diesen Artikel lieber hören als lesen? Wir haben ihn für dich im Rahmen unserer studentischen AMBOSS Audio-Reihe vertont. Den Link findest du am Kapitelende in der Sektion “Tipps & Links".
Übersicht des vestibulären Labyrinthsystems
Das vestibuläre Labyrinthsystem liegt im Felsenbein und setzt sich aus den Makula- und Bogengangsorganen zusammen. Neben dieser funktionellen Einteilung (Makula- und Bogengangsorgane) gibt es noch eine morphologische Gliederung des Innenohrs in ein knöchernes und ein membranöses Labyrinth. Der knöcherne Teil entspricht dabei einem knöchernen Gangsystem im Felsenbein und ummantelt den membranösen Teil. Beim membranösen Teil handelt es sich um häutige Säckchen und Kanälchen, die die Rezeptororgane enthalten. Die Anteile, die dabei jeweils zum knöchernen und zum membranösen Teil gehören, sind in der Tabelle aufgeführt.
Vestibuläres Labyrinth | Knöchernes Labyrinth | Membranöses Labyrinth (innerhalb des knöchernen Labyrinths) |
---|---|---|
Makulaorgane |
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Bogengangsorgane |
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Makulaorgane (Sacculus und Utrikulus)
Makroskopische Anatomie der Makulaorgane
Die zwei Makulaorgane Sacculus (= vorderes Vorhofsäckchen) und Utrikulus (= hinteres Vorhofsäckchen) sind Anteile des membranösen Labyrinths. Sie werden vom Perilymphraum umgeben und liegen im Vestibulum labyrinthi, einer Knochenhöhle, die sich zwischen den Bogengängen und der Cochlea befindet. Die Sinnesfelder von Sacculus und Utrikulus besitzen einen charakteristischen Aufbau und nehmen vertikale und horizontale Linearbeschleunigungen wahr.
Steckbrief
- Funktion: Wahrnehmung von Linearbeschleunigung und Lageänderungen des Körpers im Raum
- Lage: Im Vestibulum labyrinthi
Aufbau des knöchernen Labyrinths
Das knöcherne Labyrinth des Vestibularorgans besteht aus dem Vestibulum labyrinthi und den Bogengängen. Das Vestibulum ist hierbei der knöcherne Vorraum zu den Bogengängen, in dem sich Sacculus und Utrikulus befinden. Von der medialen Wand des Vestibulums geht der Aqueductus vestibularis ab, der zur Hinterfläche des Felsenbeins zieht. In ihm befindet sich der Ductus endolymphaticus.
- Vestibulum labyrinthi
- Beschreibung: Eiförmige Knochenhöhle, in der sich Sacculus und Utrikulus befinden
- Verbindungen
- Nach vorn: Cochlea
- Nach hinten: Bogengänge
- Aquaeductus vestibularis
- Beschreibung: Kleiner Knochenkanal, der den Ductus endolymphaticus enthält
- Verbindung: Zieht vom Vestibulum zur Hinterfläche des Felsenbeins
Aufbau des membranösen Labyrinths
Sacculus und Utrikulus sind membranöse Hohlräume, die mit Endolymphe gefüllt sind. Beide kommunizieren über kleine Kanäle mit dem Subarachnoidalraum des Gehirns, dem Ductus cochlearis, sowie auch untereinander.
Makulaorgane | Beschreibung | Lage im Innenohr | Wahrgenommene Bewegung |
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Sacculus |
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Utrikulus |
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Sacculus und Utrikulus stehen senkrecht zueinander!
Verbindungen
Die einzelnen Bereiche des membranösen Labyrinths sind über kleine Kanälchen miteinander verbunden.
- Ductus reuniens
- Verbindet: Sacculus mit Ductus cochlearis
- Ductus utriculosaccularis
- Verbindet: Utrikulus mit Sacculus
- Abgänge: Ductus endolymphaticus
- Ductus endolymphaticus
- Verbindet: Ductus utriculosaccularis mit Saccus endolymphaticus
- Abgänge: Endet blind im Saccus endolymphaticus
- Saccus endolymphaticus
- Kurzbeschreibung: Erweiterter Blindsack, der sich unter der harten Hirnhaut der Hinterfläche des Felsenbeins befindet
Mikroskopische Anatomie der Makulaorgane
Innerhalb der Makulaorgane gibt es kleine Areale, die der Sinneswahrnehmung dienen. Diese werden als Sinnesfelder (oder auch Maculae staticae) bezeichnet. Sie setzen sich aus einem Sinnesepithel und einer darüberliegenden Otolithenmembran mit eingelagerten Otolithen zusammen.
- Sinnesfelder: Fleckförmige Areale innerhalb der Makula- und Bogengangsorgane, die zur Sinneswahrnehmung dienen
- Macula sacculi: Sinnesfelder des Sacculus
- Macula utriculi: Sinnesfelder des Utrikulus
Dreischichtiger Aufbau der Maculae staticae | ||
---|---|---|
Schicht (von unten nach oben) | Grundstruktur | Funktion |
Sinnesepithel |
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Otolithenmembran |
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Otolithen |
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Die Sinneshärchen der Haarzellen ragen in die Otolithenmembran!
Die Otolithen sind in die Otolithenmembran eingelagert und erhöhen dadurch ihr spezifisches Gewicht!
Die Polarisierung der Haarzellen innerhalb eines Makulaorgans
- Die Zellen eines Makulaorgans werden durch eine sogenannte Striola in zwei unterschiedliche Gruppen eingeteilt
- Es existieren zwei Haarzelltypen, die sich morphologisch unterscheiden; der funktionelle Unterschied beider Zelltypen ist noch nicht ausreichend geklärt.
- Haarzelle Typ 1
- Form: Flaschenförmiger Zellleib, dünner Hals
- Innervation: Afferente Nervenfasern aus dem N. vestibularis
- Haarzelle Typ 2
- Form: Zylindrischer Zellleib
- Innervation: Afferente und efferente Nervenfasern aus dem N. vestibularis
- Haarzelle Typ 1
Bogengangsorgane (Ductus semicirculares)
Makroskopische Anatomie der Bogengänge
Es gibt drei Bogengänge, die jeweils rechtwinklig zueinander orientiert sind und Drehbeschleunigungen wahrnehmen. Jeder Bogengang besteht aus einem membranösen Bogengangsschlauch, der von einem knöchernen Bogengang ummantelt wird. Der Raum zwischen membranösem und knöchernem Bogengang enthält Perilymphe und wird deshalb auch als Perilymphraum bezeichnet.
Steckbrief
- Funktion: Wahrnehmung von Drehbeschleunigung
- Lage
- Innerhalb des Felsenbeins (= Pars petrosa ossis temporalis)
- Die drei Bogengänge stehen rechtwinklig zueinander
- Form: C-förmiges Schlauchsystem
- Größe: Die Länge variiert zwischen 15 und 22 mm
Aufbau
Die knöchernen Bogengänge bilden jeweils einen C-förmigen Bogen. Alle drei Bogengänge münden in einer gemeinsamen knöchernen Höhle, dem Vestibulum labyrinthi. In der Nähe dieser Einmündung besitzt jeder Bogengang eine knöcherne Aufweitung, die als Ampulle bezeichnet wird und in der sich spezielle Areale für die Sinneswahrnehmung befinden.
Knöchernes Labyrinth
- Drei Bogengänge
- Merkmale
- Variable Länge (15–22 mm)
- Besitzen jeweils eine Ampulle: Knöcherne Aufweitung
- Ampulla anterior
- Ampulla posterior
- Ampulla lateralis
- Funktion: Ummanteln die membranösen Bogengänge
Membranöses Labyrinth
Lage im Innenohr | Wahrgenommene Bewegung | |
---|---|---|
Vorderer Bogengang (= Ductus semicircularis anterior) |
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Hinterer Bogengang (= Ductus semicircularis posterior) |
| |
Lateraler Bogengang (= Ductus semicircularis lateralis) |
|
|
Mikroskopische Anatomie der Bogengänge
Die Sinnesfelder der Bogengänge befinden sich in den Ampullen und heißen Cristae ampullares. Sie haben einen ähnlichen Aufbau wie die Sinnesfelder der Makulaorgane mit einem Sinnesepithel und einer darüber liegenden Gallertschicht.
- Cristae ampullares
- Definition: Sinnesfelder der Bogengänge
- Lage: In den Ampullen der Bogengänge
Zweischichtiger Aufbau der Cristae ampullares | ||
---|---|---|
Schicht (von unten nach oben) | Grundstruktur | Funktion |
Sinnesepithel |
| |
Cupula ampullaris |
|
|
Die Cupula besitzt im Gegensatz zur Otolithenmembran keine Otolithen, hat das gleiche spezifische Gewicht wie die umgebende Endolymphe und ist beidseits mit der Ampullenwand verankert!
Funktion des Vestibularorgans
Das Vestibularorgan nimmt Informationen zur Bewegungs- und Lageorientierung auf und leitet diese in Form von elektrischen Signalen an das ZNS weiter. Die Bogengänge nehmen Drehbeschleunigungen wahr, wohingegen die Makulaorgane lineare Beschleunigungen und Lageempfinden erfassen.
Funktion der Makulaorgane
- Wahrnehmung linearer Beschleunigung (dynamische Funktion)
- Lineare Beschleunigung (z.B. das Beschleunigen im Auto)
- Verschiebung der Otolithenmembran
- Die Dichte der Otolithen auf der Gallertschicht ist größer als die der umgebenden Endolymphe.
- Aufgrund der Massenträgheit kommt es zur Verschiebung der Otolithenmembran über dem Sinnesepithel.
- Gerichtete Abscherung der Sinneshärchen
- Adäquater Reiz für die Haarzelle
- Aktivierung oder Hemmung der Haarzelle (s. nächste Subsektion)
- Ermittlung der Lage des Körpers (Statische Funktion)
- Lageänderung des Kopfes (z.B. seitliches Kippen)
- Verschiebung der Otolithenmembran
- Aufgrund der Erdanziehung ist der Mensch einer konstanten Gravitationsbeschleunigung (Schwerkraft) ausgesetzt.
- Bei normaler Kopflage im Stehen befindet sich die Macula utriculi weitgehend waagerecht.
- Bei der seitlichen Kippung des Kopfes verschiebt die Schwerkraft die schwere Otolithenmembran ein wenig über dem Sinnesepithel.
- Gerichtete Abscherung der Sinneshärchen
- Adäquater Reiz für die Haarzelle
- Aktivierung oder Hemmung der Haarzelle (s. nächste Subsektion)
Die Macula utriculi liegt in aufrechter Kopfhaltung waagerecht und detektiert horizontale Linearbeschleunigungen! Die Macula sacculi steht senkrecht dazu und nimmt vertikale Linearbeschleunigungen wahr!
Funktion der Bogengänge
- Wahrnehmung von Drehbeschleunigung
- Drehbeschleunigung (z.B. auf einem Drehstuhl)
- Auslenkung der Cupula
- Die Cupula ist in der Wand des Bogenganges verankert.
- Die Endolymphe besitzt eine geringere Dichte als die knöchernen Begrenzungen des Bogenganges (aber die gleiche wie die Cupula).
- Bei einer Drehbewegung des Kopfes bewegt sich die träge Endolymphe langsamer als der (umgebende) knöcherne Bogengang.
- Da die Cupula fest mit der Bogengangswand verankert ist, wird sie somit (passiv) in die entgegengesetzte Richtung ausgelenkt.
- Gerichtete Abscherung der Sinneshärchen
- Adäquater Reiz für die Haarzelle
- Aktivierung oder Hemmung der Haarzelle (s. nächste Subsektion)
Periphere vestibuläre Wahrnehmung
Die Auslenkung der Stereozilien ist der adäquate Reiz für die vestibulären Haarzellen. Sie besitzen die besondere Fähigkeit, diesen mechanischen Reiz in ein elektrisches Signal umzusetzen, das sie dann an die afferenten Fasern des N. vestibularis weitergeben. Dabei wird der Nerv je nach Abscherrichtung der Zilien - und somit in Abhängigkeit von der Dreh- und Bewegungsrichtung - entweder gehemmt oder zunehmend erregt. Dieser Vorgang wird als mechanoelektrische Transduktion bezeichnet.
Haarzelle im Ruhezustand
In Ruhe gibt es keine Auslenkung der Gallertschicht und die Nervenfaser besitzt eine spontane Ruheaktivität.
- Gallertschicht in mittlerer Stellung
- Stereozilien stehen aufrecht
- Spontane Ruheaktivität
- Ständige Transmitterfreisetzung (Glutamat)
Auch ohne Auslenkung der Stereozilien findet eine ständige Transmitterfreisetzung statt, wodurch der afferente Nerv eine hohe "spontane Ruheaktivität" besitzt!
Abfolge der Aktivierung der Haarzelle
Bei Zug der Gallertschicht in Richtung des Kinociliums kann man eine Zunahme der Aktionspotenziale im afferenten Nerven messen.
- Stereozilien werden in Richtung des Kinociliums ausgelenkt
- "Tip links" an der Spitze der Stereozilien werden gedehnt → Öffnung zusätzlicher mechanischer Transduktionskanäle
- Einstrom von endolymphatischem K+ aus der Endolymphe in die Haarzelle
- Depolarisation
- Öffnung spannungsabhängiger Calciumkanäle: Ca2+-Einstrom nimmt zu
- Steigerung der Transmitterfreisetzung (Glutamat) in den synaptischen Spalt
- Zunahme der Nervenaktionspotenziale
Das Öffnen der Transduktionskanäle führt zu einem K+-Einstrom in die Haarzelle und damit zu einer Depolarisation!
Abfolge der Hemmung der Haarzelle
Bei Zug der Gallertschicht in Gegenrichtung zum Kinocilium kann man eine Abnahme der Aktionspotenziale im afferenten Nerven messen.
- Auslenkung der Stereozilien in Gegenrichtung des Kinociliums
- Erschlaffung der "tip links" an der Spitze der Stereozilien
- Mechanische Transduktionskanäle werden geschlossen
- Endolymphatischer K+- Einstrom in die Haarzelle nimmt ab
- Hyperpolarisation
- Spannungsabhängige Calciumkanäle schließen: Ca2+-Einstrom nimmt ab
- Abnahme der Transmitterfreisetzung (Glutamat) in den synaptischen Spalt
- Abnahme der Nervenaktionspotenziale
Morbus Menière
Der Morbus Menière ist eine Erkrankung des Innenohrs, gekennzeichnet durch die Symptomtrias Drehschwindel, Tinnitus und Hörminderung. Er geht mit einer Flüssigkeitsvermehrung der Endolymphe einher. Es besteht die Theorie, dass es durch einen Riss in der Reissner-Membran und in der Folge zur Vermischung der kaliumreichen (und natriumarmen) Endolymphe mit natriumreicher (und kaliumarmer) Perilymphe kommt. Die dadurch pathologisch erhöhte Kaliumkonzentration in der Perilymphe führt zur Depolarisation der afferenten Hörnervenfasern und auf diesem Wege zu den akuten Symptomen des Morbus Menière.
Zentrale vestibuläre Verschaltung
Über den N. vestibulocochlearis (VIII. Hirnnerv) werden die Erregungen der Haarzellen des Gleichgewichtsorgans ins ZNS geleitet. In der Medulla oblongata liegen beidseits vier Vestibulariskerne. Sie sind die zentrale Summations- und Integrationsstelle des vestibulären Systems. Neben vestibulären Informationen erhalten sie auch Afferenzen aus dem visuellen und somatosensorischen System. Nachdem die Informationen hier verarbeitet wurden, senden die Vestibulariskerne efferente Fasern in mehrere Regionen des Gehirns und in das Rückenmark. Zusätzlich kommunizieren die Vestibulariskerne auch untereinander über spezielle Kommissurenfasern.
Weg der zentralen vestibulären Verschaltung
Verschaltung | Besonderheit | |
---|---|---|
Rezeptororgan |
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1. Neuron (= N. vestibularis) |
|
|
2. Neuron |
|
|
Vestibulariskerne
In der Medulla oblongata befindet sich beiderseits ein Kernkomplex, der jeweils aus vier Vestibulariskernen besteht .
- Ncl. vestibularis superior (= Bechterew-Kern)
- Ncl. vestibularis medialis (= Schwalbe-Kern)
- Ncl. vestibularis inferior (= Roller-Kern)
- Ncl. vestibularis lateralis (= Deiters-Kern)
Funktion der Vestibulariskerne
- Afferenzen der Vestibulariskerne
- Vestibularapparat
- Visuelles System
- Propriozeptives System
Efferente Fasern der Vestibulariskerne | Zielstruktur | Funktion |
---|---|---|
|
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|
|
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| ||
| ||
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| |
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Vereinzelte Afferenzen aus dem Ganglion vestibulare ziehen auch direkt über den unteren Kleinhirnstiel zum Kleinhirn (Lobus flocculonodularis), ohne in den Vestibulariskernen verschaltet zu werden (= direkte sensorische Kleinhirnbahn).
Verschaltung der einzelnen Vestibulariskerne
Die vier Vestibulariskerne besitzen dabei jeweils unterschiedliche Afferenzen und Efferenzen:
Kern | Afferenz | Efferenz |
---|---|---|
Ncl. vestibularis superior |
| |
Ncl. vestibularis medialis |
| |
Ncl. vestibularis lateralis |
|
|
Ncl. vestibularis inferior |
|
Schwindel
Das zentrale vestibuläre System führt einen ständigen Vergleich der normalerweise exakt aufeinander abgestimmten vestibulären, visuellen und somatosensiblen Afferenzen durch. Besteht ein akutes oder chronisches Ungleichgewicht ("mismatch"), kann eine multisensorische Fehlwahrnehmung entstehen. Diese wird subjektiv als Schwindel wahrgenommen.
Zentrales vestibuläres System und Okulomotorik
Zu den Aufgaben des zentralen vestibulären Systems (also der Vestibulariskerne) zählt u.a. die Koordination der visuellen Wahrnehmung bei Kopfbewegungen. Für die Kommunikation zwischen vestibulärem System und der Okulomotorik existieren vestibuläre Bahnen zu den Augenmuskelkernen. Diese Verschaltung wird als vestibulo-okulärer Reflex bezeichnet und spielt bei klinischen Funktionsuntersuchungen des vestibulären Systems eine besondere Rolle.
Vestibulo-okulärer Reflex (VOR)
- Definition
- Hirnstammreflex zur Aufrechterhaltung der Blickstabilität
- Bei Drehung des Kopfes kommt es zu einer reflektorischen gegenläufigen Augenbewegung von annähernd gleicher Geschwindigkeit
- Sog. Puppenkopf-Phänomen
- Besonderheit: Willentlich unterdrückbar
- Testung: Kopfimpulstest
- Der Patient wird gebeten, einen festen Punkt zu fixieren (z.B. die Nase des Untersuchers)
- Der Untersucher nimmt den Kopf des Patienten in beide Hände und dreht diesen rasch jeweils ca. 30° nach rechts und links
- Physiologisch: Die Drehung wird sofort durch eine Augenbewegung ausgeglichen
- Pathologisch: Ausfall der kompensatorischen Augenbewegung (komatöser Pat.) oder Rückstellsakkade (wacher Pat.)
- Reflexverschaltung
- Bogengänge aktivieren ipsilaterale Vestibulariskerne
- Fasern der Vestibulariskerne zu den Augenmuskelkernen verlaufen gekreuzt
- 1. Kreuzung: Fasern vom Vestibulariskern zum kontralateralen Abducenskern → Aktivierung des kontralateralen M. rectus lateralis
- 2. Kreuzung: Fasern vom Abducenskern zum kontralateralen Oculomotoriuskern → Aktivierung des ipsilateralen M. rectus medialis
Hirntoddiagnostik
Der VOR findet u.a. Anwendung in der Hirntoddiagnostik. Da er im Hirnstamm und nicht kortikal verschaltet wird, kann er auch bei bewusstlosen Personen zur Beurteilung der Hirnstammfunktion getestet werden. Bei einer Schädigung in diesem Bereich fällt bei passiver Kopfdrehung die kompensatorische Augenbewegung aus.
Nystagmus
Bei einem Nystagmus handelt es sich um rhythmische, unwillkürlich oszillierende Augenbewegungen. Sie bestehen aus einer langsamen Blickbewegung (mit dem Ziel, die Darstellung eines Objekts auf der Retina stabil zu halten) und einer schnellen Rückstellbewegung in die Gegenrichtung. Per definitionem wird die Nystagmusrichtung nach dieser schnellen Phase benannt. Ein Nystagmus kann durch anhaltende Signale aus den Vestibularorganen ausgelöst werden, die eine tatsächliche Kopfbeschleunigung detektieren, oder durch pathologische Signale der Vestibularorgane, die eine nicht vorhandene Kopfbeschleunigung suggerieren. Außerdem kann auch die anhaltende Bewegung der visuell erfassten Umwelt zu einem Nystagmus führen. Man unterscheidet also physiologische und pathologische Nystagmen.
- Charakteristika
- Schlagrichtung: Horizontaler Nystagmus, Upbeat-Nystagmus , Downbeat-Nystagmus , torsionaler Nystagmus
- Zeitliche Dynamik: Frequenz, Rhythmik, Latenz
- Auslösbarkeit
- Durch Provokation, z.B. bei Blickrichtungsänderung, Lage- oder Lagerungsprovokation
- Bereits in Ruhestellung (Spontannystagmus)
- Frenzel-Brille: Spezielle Brille als Instrument zur Untersuchung eines Nystagmus
- Nystagmogramm: Grafische Darstellung eines Nystagmus
- Methoden
Als Faustregel gilt: Der Nystagmus schlägt in das stärker erregte Labyrinth! Schlägt der Nystagmus z.B. nach rechts, liegt entweder eine Untererregung des linken Vestibularorgans oder eine Übererregung des rechten Vestibularorgans vor!
Physiologische Nystagmen
- Per- und postrotatorischer Nystagmus
- Definition: Nystagmus, der durch Rotation des Körpers entsteht
- Hintergrund
- Durch Drehbewegung wird die Endolymphe beschleunigt und es kommt zum Nystagmus in Drehrichtung
- Wird die Drehbewegung plötzlich gestoppt, wird der Nystagmus in die entgegengesetzte Richtung ausgelöst (sog. postrotatorischer Nystagmus)
- Provokationsverfahren: Drehstuhlprüfung unter Verwendung der Frenzel-Brille
- Optokinetischer Nystagmus (Eisenbahnnystagmus)
- Definition: Okulomotorischer Korrekturvorgang zur Bildstabilisierung einer bewegten, visuellen Umwelt auf der Retina
- Provokationsverfahren: Wird mit einer Nystagmustrommel oder einem Streifenband getestet
- Prinzip
Pathologische Nystagmen
Pathologische Nystagmusformen können spontan oder nach Provokation auftreten. Tritt ein Nystagmus spontan auf (also ohne auslösenden Reiz wie z.B. eine Drehbewegung), handelt es sich immer um einen pathologischen Nystagmus.
- Peripher
- Meist mit Schwindel und Übelkeit assoziiert
- I.d.R. weniger variabel in Richtung und Rhythmik
- Durch Fixation unterdrückbar
- Ursache: Vestibuläre Imbalance durch eine vestibuläre Schädigung
- Zentral
- Häufig ohne vegetative Begleitsymptomatik
- Richtung und Rhythmik oft variabler
- Durch Fixation nicht unterdrückbar
- Beispiele
- Spontannystagmus
- Zentral oder peripher bedingt
- Auftreten ohne Provokation in Ruhestellung
- Schlagrichtung unabhängig von der Blickrichtung gleichbleibend
- Blickrichtungsnystagmus
- Spontannystagmus
Kalorische Testung
- Prinzip: Testung der Erregbarkeit des Gleichgewichtsorgans durch definierte thermische Reizung
- Erwärmung bewirkt eine Flüssigkeitsausdehnung und vermindert dadurch die spezifische Dichte der Endolymphe
- Strömung der erwärmten Endolymphe über die Cupula, was zur gewünschten Reizauslösung führt
- Durchführung
- Patient:in liegt mit 30° angehobenem Oberkörper auf einer Liege
- Spülung des oben liegenden äußeren Gehörgangs mit warmen und kalten Luftströmen oder Wasser
- Dabei Beobachtung der Augenbewegungen zur Detektion der auftretenden Nystagmen mittels Frenzel-Brille
- Warmreizung: Nystagmus zum gereizten Ohr
- Kaltreizung: Nystagmus zur Gegenseite
- Pathologisch: Seitendifferenz
Körpergleichgewicht und Vestibulariskerne
Stell- und Stehreflexe stabilisieren das Körpergleichgewicht. Die Motoneurone hierfür sind im Rückenmark angelegt und werden von absteigenden supraspinalen Bahnen kontrolliert. Ursprung dieser Bahnen sind u.a. die Vestibulariskerne aus dem Hirnstamm. Für die Zielmotorik existieren dorsolaterale Bahnen die u.a. aus dem Nucleus ruber entspringen.
Ventromediale Bahn für die Haltungsmotorik
- Funktion: Stabilisierung der Körperhaltung und Berechnung der Gesamtkörperhaltung
- Anteile
- Lateraler Vestibulospinaltrakt (ausgehend vom Ncl. vestibularis lateralis): Steigerung des Extensorentonus, Kontrolle der Stützmotorik
- Medialer Vestibulospinaltrakt (ausgehend vom Ncl. vestibularis medialis): Kontrolle der Kopfhaltung, Halsreflexe, Koordination der Okulomotorik
- Retikulospinaltrakt (ausgehend von der Formatio retikularis): Modulation der Haltemotorik (Erregung von proximalen Motoneuronen)
- Muskelreflexe: Erhalten das Gleichgewicht und ermöglichen somit den aufrechten Gang
- Statische Reflexe
- Stehreflexe: Steuerung des Muskeltonus, um bestimmte Körperhaltungen einnehmen zu können (z.B. Stehen, gebeugter Oberkörper)
- Stellreflexe: Ermöglichen, in die normale Körperhaltung zurückzugelangen, nachdem eine ungewöhnliche Position eingenommen wurde
- Statokinetische Reflexe (= Bewegungsreflexe)
- Ermöglichen, das Gleichgewicht auch bei Bewegung zu halten
- Beispiel: Abfangbewegung beim Stolpern
- Statische Reflexe
Dorsolaterale Bahn für die Zielmotorik
- Funktion: Zielmotorische Kontrolle
- Anteile
- Rubrospinaltrakt (ausgehend vom Ncl. ruber): Aktivierung von Flexor-Motoneuronen zu distalen Muskelgruppen
- Lateraler Kortikospinaltrakt: Aktivierung von Flexor-Motoneuronen
Dezerebrationssyndrom
Zu einem Dezerebrationssyndrom kommt es bei einer Entkopplung von Hirnstamm und darüber liegendem Neokortex unterhalb des Ncl. ruber. Ursächlich hierfür können z.B. schwere Hirnverletzungen, zerebrale Entzündungen oder Vergiftungen sein. Dadurch entfällt die Hemmung des rubrospinalen Traktes auf die Extensorneurone (der Rubrospinaltrakt aktiviert Flexor- und inhibiert Extensormotoneurone), sodass die Erregung aus dem Ncl. vestibularis lateralis überwiegt (Vestibulospinaltrakt). Dies hat eine spastische Streckhaltung (als Dezerebrationsstarre bezeichnet) zur Folge.
Wiederholungsfragen zum Kapitel Vestibuläres System
Bogengangsorgane (Ductus semicirculares)
Welche Art von Kopfbewegung wird von den lateralen Bogengängen wahrgenommen? Wann wird der rechtsseitige und wann der linksseitige Bogengang aktiviert?
Worum handelt es sich bei den Cupulae ampullares und was ist ihre Funktion?
Periphere vestibuläre Wahrnehmung
Wie verhalten sich die Haarzellen im Liegen bei ruhiger Kopfhaltung?
Wo liegen die Perikarya des 1. Neurons der zentralen vestibulären Verschaltung?
Zentrales vestibuläres System und Okulomotorik
Welche Auswirkungen hat ein akuter Ausfall des linken Vestibularorgans?
Worum handelt es sich beim sog. perrotatorischen Nystagmus?
Eine Sammlung von allgemeineren und offeneren Fragen zu den verschiedenen prüfungsrelevanten Themen findest du im Kapitel Beispielfragen aus dem mündlichen Physikum.