Zusammenfassung
Die Osteochondrosis dissecans (OD, engl.: „osteochondritis dissecans“) ist eine aseptische subchondrale Osteonekrose mit Beteiligung des angrenzenden Gelenkknorpels. Die Symptomatik hängt von Lokalisation und Stadium der Erkrankung ab und umfasst bspw. Schmerzen bei Belastung/Sport sowie ggf. einen Erguss bzw. eine Schwellung im Bereich des betroffenen Gelenks. Eine Gelenkblockade kann als potenzielle Komplikation auftreten, wenn sich ein Knorpel-Knochen-Fragment löst (sog. freier Gelenkkörper, Dissekat oder „Gelenkmaus“). Der so entstandene Gelenkflächendefekt wird als „Mausbett“ bezeichnet und stellt unbehandelt eine präarthrotische Deformität dar. In der Frühphase der Erkrankung gelingt der diagnostische Nachweis nur mithilfe einer Szintigrafie oder MRT, später zeigt auch das Röntgenbild charakteristische Veränderungen. Prinzipiell kann die OD an allen Gelenken auftreten, bevorzugt sind jedoch konvexe Gelenkflächen wie bspw. Femurkondyle oder Talus betroffen. Die Unterscheidung zwischen einer juvenilen (vor Epiphysenfugenschluss) und einer adulten Form (nach Epiphysenfugenschluss) hat therapeutische und prognostische Konsequenzen, da die juvenile Form häufig konservativ behandelt werden kann und ein höheres Heilungspotenzial aufweist.
Epidemiologie
Die OD tritt am häufigsten bei männlichen Patienten zwischen 10 und 20 Jahren auf!
Juvenile Form
Epidemiologie der juvenilen OD | ||||
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Lokalisation | Inzidenz | Geschlechterverhältnis | ||
6–11 Jahre | 12–19 Jahre | 6–19 Jahre | ||
Knie [1] | 6,8 | 11,2 | 9,5 | ♂ > ♀ |
Oberes Sprunggelenk [2] | 1,1 | 6,8 | 4,6 | ♀ > ♂ |
Ellenbogen [3] | 0,4 | 3,4 | 2,2 | ♂ > ♀ |
Adulte Form
Epidemiologie der adulten OD [4] | ||
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Lokalisation | Inzidenz | Geschlechterverhältnis |
Knie | 1,2 | ♂ > ♀ |
Oberes Sprunggelenk | 2 | |
Total | 3,4 |
Die häufigste Lokalisation der juvenilen Form ist das Kniegelenk, die der adulten das Sprunggelenk!
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Vermutlich multifaktoriell, generelle Unterteilung in:
- Biologische Faktoren
- Vaskulär: Versorgung mit Endarterien im subchondralen Bereich
- Genetisch: Multiple Gene werden diskutiert
- Endokrine bzw. Stoffwechselstörungen
- Mechanische Faktoren
- Rezidivierende Mikrotraumata („repetitive Impulsbelastung“)
- Biomechanische Fehlstellung
Die Ätiologie der OD umfasst zahlreiche biomechanische Faktoren und ist noch nicht abschließend geklärt!
Pathophysiologie
- Subchondrale Ischämie → Osteonekrose → Subchondrale Fraktur [5]
- Knorpel wird initial noch durch Synovialflüssigkeit ernährt
- Verlust des mechanischen Supports → Instabiler Knochen
- Mechanische Belastung → Ablösung des instabilen Knorpel-Knochen-Fragments (Dissekat, „Gelenkmaus“) → Freier Gelenkkörper
- Gelenkflächendefekt (Dissekatbett, „Mausbett“) mit freiliegendem subchondralen Knochen → Präarthrotische Deformität
Zentral für den Pathomechanismus der OD ist wahrscheinlich die subchondrale Ischämie!
Klassifikation
Abhängig von Zeitpunkt des Auftretens, Lokalisation und eingesetzter Diagnostik gibt es zahlreiche Klassifikationen. Im Folgenden ist eine Auswahl häufig genutzter radiologischer bzw. diagnostischer Klassifikationen für osteochondrale Defekte dargestellt. [7]
Übergeordnete Klassifikation nach Bruns
Übergreifende Stadieneinteilung der Osteochondrosis dissecans (1996) [6] | |||||
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Stadium | Symptome | Röntgen | MRT | Arthroskopie | Pathohistologie |
I |
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II |
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IIID/M |
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IVD/M |
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Nativ-röntgenologische Klassifikation
Klassifikation osteochondraler Defekte nach Berndt und Harty (1951) [8] | |
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Stadium | Nativ-röntgenologischer Befund |
1 | Kleines Areal mit subchondraler Kompression |
2 | Teilweise abgelöstes osteochondrales Fragment |
3 | Komplett abgelöstes Fragment, nicht disloziert |
4 | Komplett abgelöstes und disloziertes Fragment |
MRT-Klassifikation
Klassifikation osteochondraler Defekte nach Dipaola et al. (1991) [9] | |
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Stadium | MR-tomografischer Befund |
1 | Verdickung des Knorpels, signalarme Veränderungen |
2 | Frakturierter Knorpel, signalarmer Saum um Fragment |
3 | Frakturierter Knorpel, signalintensiver Saum um Fragment |
4 | Gelöstes Dissekat |
Szintigrafische Klassifikation
Klassifikation osteochondraler Defekte nach Cahill und Berg (1993) [10] | |
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Stadium | Szintigrafischer Befund |
1 | Läsion in Röntgenaufnahme sichtbar, szintigrafischer Befund normal |
2 | Läsion in Röntgenaufnahme sichtbar, szintigrafische Anreicherung im Herd |
3 | Zusätzliche Anreicherung in der Umgebung |
4 | Zusätzliche Anreicherung im gegenüberliegenden Knochen |
Arthroskopische Klassifikation
Klassifikation osteochondraler Defekte nach der International Cartilage Repair Society (ICRS) (2000) [11] | ||
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Stadium | Arthroskopischer Befund | Stabilität |
0 | Normaler Befund | Stabil |
1 | Intakter Knorpel, Erweichung | |
2 | Partielle Knorpeldefekte | |
3 | Knorpeldefekt bis zum subchondralen Knochen, Dissekat in situ | Instabil |
4 | Disloziertes Fragment, Dissekatbett leer, freier Gelenkkörper |
Symptomatik
- Abhängig vom Stadium
- Abhängig von der Lokalisation
- Meist einseitig, beidseitige Lokalisation möglich
- Kniegelenk im Wachstum: Meist medialer Femurkondylus
- Oberes Sprunggelenk: Talus (wachstumsunabhängig)
- Ellenbogengelenk
Die Symptome einer OD sind generell abhängig von Stadium und Lokalisation der Erkrankung!
Diagnostik
Anamnese
- Beginn, Auslöser und Verlauf der Beschwerden
- Sozialanamnese
- Begleiterkrankungen und Vormedikation
- Vorbestehendes Trauma
Körperliche Untersuchung
- Inspektion: Meist unauffällig, ggf.
- Fehlstellung
- Schwellung des betroffenen Gelenkes
- Palpation: Ggf. Druckschmerz
- Bewegungsausmaß
- Instabilität
- Krepitation und Gelenkblockade
Die OD tritt meist einseitig auf!
Apparative Diagnostik
Röntgen [12][13]
- Indikation
- Stadieneinteilung
- Häufig in Anlehnung an die Klassifikation von Berndt und Harty [8]
- Abschätzung des Krankheitsprogresses
- Ausschluss von Differenzialdiagnosen
- Stadieneinteilung
- Verfahren: Betroffenes Gelenk in zwei Ebenen
- Beim Kniegelenk ggf. zusätzlich Patella tangential , Tunnelaufnahme nach Frik [12]
- Befund
- Lokalisation, typischerweise
- Kniegelenk: Laterale Begrenzung des medialen Femurkondylus [12]
- Oberes Sprunggelenk: Posteromediale Gelenkfläche des Talus [14]
- Ellenbogengelenk: Anteriores Drittel des Capitulum [15]
- Größe der Läsion
- Stadium der Erkrankung
- Freier Gelenkkörper
- Keine Bewertung der Stabilität möglich
- Keine Beurteilung (sub‑)chondraler Veränderungen möglich
- Lokalisation, typischerweise
MRT [12][13]
- Indikation
- Erkennen eines frühen Stadiums
- Stadieneinteilung (siehe: Osteochondrosis dissecans - Klassifikation)
- Ausschluss von Differenzialdiagnosen
- Festlegung von Therapieoptionen
- Abschätzung des Krankheitsprogresses
- Verfahren: Nativ und ggf. mit i.v. Kontrastmittel
- Befund
- OD als halbrunder Herd mit Demarkationslinie
- Kontrastmittelgabe zur Bewertung der Perfusion
- Bewertung der Stabilität teilweise möglich [16]
- Bewertung (sub‑)chondraler Veränderungen möglich
Skelettszintigrafie [10]
- Indikation: Frühe Stadien
- Befund
- Vermehrte Anreicherung
- Keine Bewertung der Stabilität möglich
- Keine Bewertung der Gelenkfläche möglich
Interventionelle Diagnostik: Arthroskopie [12][14][15]
- Indikation
- Beurteilung der Stabilität der Läsion
- Exakte Größenbestimmung der Läsion
- Beurteilung und ggf. Therapie intraartikulärer Pathologien
- Ausschluss von Differenzialdiagnosen
- Verfahren: Invasive operative Maßnahme mit Notwendigkeit einer Anästhesie
- Befund
- Beurteilung des Knorpels
- Bewertung der Stabilität möglich
- Stadieneinteilung bspw. nach der ICRS-Klassifikation von Knorpelschäden
- Keine Bewertung subchondraler Strukturen möglich
- Ggf. operative Therapie der OD
Die Osteochondrosis dissecans ist eine radiologische Diagnose!
Die Osteochondrosis dissecans ähnelt zu Beginn klinisch und radiologisch einer Osteonekrose!
Therapie
- Individuelle Entscheidung in Abhängigkeit von
- Alter (offene Wachstumsfugen?)
- Stabilität der Läsion
- Lokalisation
- Keine standardisierten Therapiekonzepte
Konservative Therapie
- Indikation
- Offene Wachstumsfugen
- Stabile Läsion
- Wenig Beschwerden
- Vorgehen
- Reduktion der Belastung, ggf. Teilbelastung
- Zeitlich befristetes Sportverbot
- Immobilisierung
- Dauer: 3–6 Monate
Operative Therapie
- Indikation
- Instabile Läsion
- Erfolglose konservative Therapie
- Begleitende Pathologie
- Vorgehen
-
Stabile Läsion: Anbohrung des Dissekats
- Anterograd: Arthroskopisch durch die Gelenkfläche
- Retrograd: Mit Bildwandler arthroskopisch transepiphysär
- Ggf. mit subchondraler Spongiosaplastik
- Instabile Läsion
- Refixation des Dissekats
- Entfernung des Dissekats und knochenmarkstimulierende Verfahren oder autologe Knorpelzelltransplantation
- Ggf. Therapie der begleitenden Pathologien
-
Stabile Läsion: Anbohrung des Dissekats
Das Therapiekonzept ist individuell anzupassen, abhängig von Zeitpunkt des Auftretens, Stadium und Stabilität der Läsion!
Die Prognose ist abhängig von dem Zeitpunkt des Auftretens und dem der Intervention!
Komplikationen
- Arthrose
- Chronische Schmerzen
- Bewegungseinschränkung
- Belastungseinschränkung
- Mechanische Beschwerden
- Postoperative Komplikationen
- Allgemeine postoperative Komplikationen
- Wundheilungsstörung und -infekt
- Gefäß-/Nervenbündelverletzung
- Phlebothrombose und Embolie
- Fehlende Einheilung
- Transplantatlockerung
- Implantatlockerung
- Knorpelschädigung
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- M93.-: Sonstige Osteochondropathien
- Exklusive: Osteochondrose der Wirbelsäule (M42.‑)
- M93.2-: Osteochondrosis dissecans [0–9]
- M93.8-: Sonstige näher bezeichnete Osteochondropathien [0–9]
- M93.9: Osteochondropathie, nicht näher bezeichnet
Lokalisation der Muskel-Skelett-Beteiligung
- 0 Mehrere Lokalisationen
- 1 Schulterregion
- 2 Oberarm
- 3 Unterarm
- 4 Hand
- 5 Beckenregion und Oberschenkel
- 6 Unterschenkel
- 7 Knöchel und Fuß
- 8 Sonstige
- 9 Nicht näher bezeichnete Lokalisation
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.