Zusammenfassung
Das Wirbelgleiten ist eine erworbene Erkrankung, bei der durch einen Spalt in den Wirbelbögen (Spondylolyse) der Wirbelkörper samt kranial liegender Wirbelsäule nach vorne (Anterolisthesis) oder selten hinten (Retrolisthesis) gleitet. Ursächlich sind neben genetischen Faktoren eine chronische Belastung junger Menschen im Hohlkreuz wie beispielsweise Kunstturnen. Von der Erkrankung sind zwar 6% der westlichen Bevölkerung betroffen, jedoch bleiben diese meist beschwerdefrei. Ein symptomatisches Wirbelgleiten manifestiert sich durch belastungsabhängige Rückenschmerzen in der hauptsächlich involvierten Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in Gesäß und Oberschenkel. Die Diagnose gelingt durch radiologische Bildgebung, wobei das Ausmaß der Wirbelkörperverschiebung in fünf Graden nach Meyerding eingeteilt wird. Bei Progredienz des Wirbelgleitens kann der Wirbelkörper nach vorne abkippen (Spondyloptose). In der Regel sind physiotherapeutische Behandlung und Verlaufskontrollen ausreichend, neurologische Ausfallerscheinungen stellen aber eine Operationsindikation dar.
Epidemiologie
Ätiologie
- Genetische Prädisposition, jedoch bei Geburt nie manifest
- Starke körperliche Beanspruchung in Hyperlordose (im Hohlkreuz) in der Kindheit
- Kunstturnen
- Delphinschwimmen
- Speerwerfen
- Gewichtheben
- Traumatisch
- Degenerative Veränderungen
- Spondylolyse
- Dysplasie der Wirbelbogengelenke
Klassifikation
- Spondylolyse: Spaltbildung in der Interartikularportion eines Wirbelbogens
- Spondylolisthesis: Gleiten eines Wirbelkörpers nach ventral bei Vorliegen einer Spondylolyse
- Einteilung: Nach Meyerding
- Sonderformen
- Pseudospondylolisthesis: Gleiten eines Wirbelkörpers nach ventral ohne Vorliegen einer Spondylolyse
- Retrolisthesis: Gleiten eines Wirbelkörpers nach dorsal, nicht nach ventral
- Spondyloptose: Komplikation der Spondylolisthesis mit vollständigem Abkippen eines Wirbelkörpers
Symptomatik
- Asymptomatisch (ca. 90%)
-
Belastungsabhängige Schmerzen
- mit pseudoradikulärer Ausstrahlung in Gesäß und Oberschenkel
- Schmerzen bei Reklination
- Selten echte radikuläre Schmerzen
Stadien
- Einteilung in fünf Grade nach Meyerding
- Der untere/kaudale Wirbelkörper wird hierbei in Viertel unterteilt
- Je nachdem wie weit der kranial gelegene Wirbelkörper nach ventral gleitet, ergibt sich daraus der Meyerding-Grad
Diagnostik
- Hauptlokalisation
- Lendenwirbelsäule: In >90% der Fälle LWK 5 oder 4 betroffen
- Klinische Untersuchung
- Sprungschanzenphänomen
- Hüftlendenstrecksteife
- Durch Verkrampfung der ischiokruralen Muskulatur bei Irritation von L5
- Schiebegang: Bei Hüftlendenstrecksteife kann das Bein in der Schwungphase nicht gebeugt werden, sodass der Patient das gesamte Becken nach vorne schiebt
- Konventionelles Röntgen
- Meist Zufallsbefund
- Spondylolyse: 45° Schrägaufnahme mit Hündchenfigur. Dabei sieht man die Bruchlinie des Wirbelbogens als Halsband der Hündchenfigur.
- Spondylolisthesis: Seitliche Aufnahme mit Einteilung der Wirbelkörperverschiebung nach Meyerding
- Spondyloptose: anterior-posterior Aufnahme mit Bild des umgekehrten Gendarmenhuts oder Napoleonhuts
Differenzialdiagnosen
- Degeneratives Wirbelgleiten (Synonym: Pseudospondylolisthesis)
- Definition: Ventralverschiebung von Wirbelkörpern ohne Spaltbildungen in den Interartikularportionen (= ohne Spondylolyse), sondern durch Bandscheibendestruktion und Lockerung der Zwischenwirbelgelenke
- Wirbelgleiten meist nur bis zum 2. Grad nach Meyerding
- Epidemiologie: Beginn in der Regel erst ab dem 50.-60. Lebensjahr
- Klinik
- Oftmals asymptomatisch ("kompensiertes Wirbelgleiten")
- Ggf. mehrsegmentale radikuläre Kompressionssyndrome, Claudicatio spinalis
- Definition: Ventralverschiebung von Wirbelkörpern ohne Spaltbildungen in den Interartikularportionen (= ohne Spondylolyse), sondern durch Bandscheibendestruktion und Lockerung der Zwischenwirbelgelenke
- Degeneratives Drehgleiten
- Definition: Rotatorische Instabilität eines Wirbelkörpers
- Diagnostik: Röntgen des betroffenen Wirbelsäulenabschnitts in zwei Ebenen
- Facettensyndrom
- Definition: Reizung der kleinen Wirbelgelenke (Facettengelenke) meist als Folge einer Arthrose dieser Gelenke (Spondylarthrose)
- Klinik
- Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule („Kreuzschmerzen“), evtl. mit pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung (bspw. in Gesäß, Oberschenkel oder Leiste)
- Schmerzen nach längerem Sitzen und Stehen
- Diagnostik
- Anamnese
- Retroflexionsschmerz
- Anlaufschmerz
- Statische Schmerzprogredienz
- Körperliche Untersuchung: Schmerz bei Druck auf Facettengelenke in Bauchlage, Schmerzauslösung durch Retroflexion, Seitneigung und Rotation
- Bildgebung: Röntgen
- Durchführung: Betroffener Wirbelsäulenabschnitt in 2 Ebenen
- Befund: Facettengelenksarthrose
- Radiologisch-interventionelle Verfahren: Test-Infiltration des Facettengelenks [1]
- Durchführung: Intra- oder periartikuläre Applikationen eines Lokalanästhetikums meist in Kombination mit einem Glucocorticoid
- Befund: Verdacht auf Facettengelenkssyndrom bei Symptombesserung
- Anamnese
- Therapie
- Symptomatisch
- Medikamentöse Schmerztherapie
- Bewegungstherapie/-schulung
- Manuelle Therapie: Faszienrelease und Triggerpunkt-Behandlung
- Facettengelenksinfiltration
- Entlastende Lagerung: Ggf. kurzzeitiges Tragen eines Mieders (Korsett) zur Entlastung der Wirbelsäule
- Kausal
- Muskuläre Stabilisation der Wirbelsäule: Krankengymnastische Übungsbehandlung der Rumpfmuskulatur
- Perkutane Neurotomie: Denervation des betroffenen Facettengelenks durch Thermokoagulation oder Radiofrequenzablation
- Elektrotherapie
- Ggf. operative Therapie
- Symptomatisch
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
- In erster Linie konservativ
- Krankengymnastik mit Stärkung der Rücken- und Bauchmuskulatur
- Gewichtsreduktion bei Übergewicht
- Zum Progress des Wirbelgleitens beitragende Sportarten und Bewegungen meiden (siehe: Ätiologie)
- Verlaufsbeobachtung
- Bei akuter Symptomatik (radikuläre Schmerzen, Muskelverspannungen, Ermüdungsbrüche): Medikamentöse Schmerztherapie, Detonisierung der Muskulatur , temporäre Rumpforthese
- Operativ
- Indikation
- Hochgradige Spondylolisthesis (Meyerding-Grad 3 oder 4) oder Spondyloptose
- Neurologisches Defizit
- Schmerzen über 6 Monate, die unter einer konservativen Therapie nicht in den Griff zu bekommen sind
- Progress des Wirbelgleitens
- Unreifes Skelett mit Spondylolisthesis >30-50%
- Mögliche Operationsverfahren
- Direktverschraubung der Spondylolyse im Bereich des Wirbelbogens (v.a. bei Kindern)
- Spondylodese
- Wurzeldekompression
- Indikation
Prognose
- Prognose ist abhängig vom Meyerding-Stadium und der klinischen Symptomatik
- Ab Meyerding-Grad 3 oder höher ist die Prognose etwas schlechter als bei milder Spondylolisthesis
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- M43.-: Sonstige Deformitäten der Wirbelsäule und des Rückens
- Exklusive: Angeborene Spondylolisthesis (Q76.21), Angeborene Spondylolyse (Q76.22)
- M43.0-: Spondylolyse [0–9]
- M43.1-: Spondylolisthesis [0–9]
- Q76.-: Angeborene Fehlbildungen der Wirbelsäule und des knöchernen Thorax
- Q76.2-: Angeborene Spondylolisthesis und Spondylolyse
- Exklusive: Spondylolisthesis (erworben) (M43.1‑), Spondylolyse (erworben) (M43.0‑)
- Q76.21: Angeborene Spondylolisthesis
- Q76.22: Angeborene Spondylolyse
- Q76.2-: Angeborene Spondylolisthesis und Spondylolyse
Lokalisation der Wirbelsäulenbeteiligung
- 0 Mehrere Lokalisationen der Wirbelsäule
- 1 Okzipito-Atlanto-Axialbereich
- 2 Zervikalbereich
- 3 Zervikothorakalbereich
- 4 Thorakalbereich
- 5 Thorakolumbalbereich
- 6 Lumbalbereich
- 7 Lumbosakralbereich
- 8 Sakral- und Sakrokokzygealbereich
- 9 Nicht näher bezeichnete Lokalisation
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.