Zusammenfassung
Ein inkomplettes Querschnittsyndrom bezeichnet eine nicht den kompletten Querschnitt betreffende Läsion des Rückenmarks. Es werden im Wesentlichen das zentromedulläre (z.B. Syringomyelie), das ventrale (z.B. Arteria-spinalis-anterior-Syndrom) und das halbseitige Querschnittsyndrom (Brown-Séquard-Syndrom) voneinander abgegrenzt. Syringomyelie und Arteria-spinalis-anterior-Syndrom werden in eigenen Kapiteln behandelt, wohingegen die charakteristischen Merkmale des Brown-Séquard-Syndroms in diesem Kapitel Erwähnung finden. Die gemeinsame Darstellung der drei klinisch verschieden in Erscheinung tretenden Syndrome ergibt sich aus der Tatsache, dass durch die jeweiligen (dissoziierten) Empfindungsstörungen und Paresen auf die Ausbreitung der Läsion der ab- und aufsteigenden Bahnen des Rückenmarks rückgeschlossen werden kann.
Für das Notfallmanagement des akuten Querschnittsyndroms siehe: Akutes Querschnittsyndrom - AMBOSS-SOP
Neuroanatomische Grundlagen
- Pyramidenbahn (Tractus corticospinalis lateralis und anterior)
- Absteigende motorische Bahn von der Großhirnrinde (Motorkortex) bis zu den α-Motoneuronen im Vorderhorn des Rückenmarks
- Ca. 90% der Fasern kreuzen auf der Höhe der Medulla oblongata und verlaufen im Tractus corticospinalis lateralis abwärts
- Die restlichen Fasern verlaufen im Tractus corticospinalis anterior abwärts und kreuzen erst auf Segmentebene
- Vorderseitenstrang (Tractus spinothalamicus anterior und lateralis)
- Kreuzt auf Segmenthöhe oder knapp oberhalb
- Vermittelt protopathische Sensibilität (Schmerz- und Temperaturreize)
- Hinterstrang (Funiculus posterior, bestehend aus Fasciculus gracilis und cuneatus)
- Verläuft ipsilateral im Rückenmark
- Kreuzt erst in Höhe der Medulla oblongata
- Vermittelt epikritische Sensibilität (Berührung, Vibration, Druck) und Propriozeption (Eigenwahrnehmung mit Lage- und Stellungssinn von Muskeln und Gelenken)
Die Nomenklatur der sensiblen Qualitäten wird nicht einheitlich und dadurch häufig verwirrend verwendet! Teilweise wird die Propriozeption zur epikritischen Sensibilität gezählt (veraltet), teilweise stellt sie eine eigene Unterform dar!
Einteilung
- Zentromedulläres Querschnittsyndrom (z.B. Syringomyelie)
- Ventrales Querschnittsyndrom (z.B. Arteria-spinalis-anterior-Syndrom)
- Halbseitiges Querschnittsyndrom (Brown-Séquard-Syndrom)
Brown-Séquard-Syndrom
- Definition: Inkomplettes halbseitiges Querschnittsyndrom mit Ischämie der linken oder rechten Rückenmarkshälfte
- Ätiologie: Kompression durch Trauma oder seltenen Tumor
- Klinik
-
Ipsilateral
- Segmental: Komplett aufgehobene Sensibilität und schlaffe Parese
-
Unterhalb der Läsion
- Spastische Parese
- Aufgehoben: Tiefensensibilität, Vibrationsempfinden und taktile Diskrimination
- Kontralateral: Aufgehobenes Schmerz- und Temperaturempfinden (siehe dissoziierte Empfindungsstörung)
-
Ipsilateral
- Diagnostik
- Klinisch: Ipsilateral positiver Babinski-Reflex
- Bildgebung: CT bei Trauma, MRT bei Verdacht auf einen Tumor
Spinale Gefäßfehlbildungen
- Formen
- Spinale arteriovenöse Malformation (Spinale AV-Malformation)
- Spinale durale arteriovenöse Fistel (Spinale durale AV-Fistel)
- Epidemiologie: Insgesamt sehr selten, Manifestation meist erst ab dem 40. Lebensjahr; ♂:♀ = 4:1
- Lokalisation: Meist thorakal oder lumbal
- Pathophysiologie: Arteriovenöser Kurzschluss in der Dura des Spinalkanals zwischen kleinen Arterien und Venen der Dura → Arterialisierung der Rückenmarksvenen → Kongestive Myelopathie auf dem Boden chronischer, venöser Rückstauung → Multisegmentale Rückenmarksläsionen
- Klinik
- Fluktuierende Symptomatik
- Subakuter, progredienter Verlauf
- Parästhesie und Paraplegie
- Blasen- und Mastdarmstörung
- Diagnostik: Selektive spinale DSA
- Therapie (abhängig von Art und Lokalisation): Ggf. endovaskuläre Embolisation/Okklusion möglich
- Komplikation: Sensomotorische Querschnittslähmung
Notfalldiagnostik und -therapie
Für das Notfallmanagement des akuten Querschnittsyndroms siehe: Akutes Querschnittsyndrom - AMBOSS-SOP
Differenzialdiagnose dissoziierte Empfindungsstörung
Begriffsdefinition: Dissoziierte Empfindungsstörung (Dissoziierte Sensibilitätsstörung): Durch Verletzung des Vorderseitenstranges hervorgerufene Sensibilitätsstörung der protopathischen Sensibilität bei intakter epikritischer Sensibilität und Tiefensensibilität (die Hinterstrangbahnen sind intakt)
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
S14.-: Verletzung der Nerven und des Rückenmarkes in Halshöhe
- S14.1-: Sonstige und nicht näher bezeichnete Verletzungen des zervikalen Rückenmarkes
- S14.10: Verletzungen des zervikalen Rückenmarkes, nicht näher bezeichnet
- S14.11: Komplette Querschnittverletzung des zervikalen Rückenmarkes
- S14.12: Zentrale Halsmarkverletzung (inkomplette Querschnittverletzung)
- S14.13: Sonstige inkomplette Querschnittverletzungen des zervikalen Rückenmarkes
S24.-: Verletzung der Nerven und des Rückenmarkes in Thoraxhöhe
- S24.1-: Sonstige und nicht näher bezeichnete Verletzungen des thorakalen Rückenmarkes
- S24.10: Verletzung des thorakalen Rückenmarkes, nicht näher bezeichnet
- S24.11: Komplette Querschnittverletzung des thorakalen Rückenmarkes
- S24.12: Inkomplette Querschnittverletzung des thorakalen Rückenmarkes
- Hinterhornsyndrom
- Inkompletter thorakaler Querschnitt o.n.A.
- Vorderhornsyndrom
- Zentrales Rückenmarksyndrom
S34.-: Verletzung der Nerven und des lumbalen Rückenmarkes in Höhe des Abdomens, der Lumbosakralgegend und des Beckens
- S34.1-: Sonstige Verletzung des lumbalen Rückenmarkes
P11.-: Sonstige Geburtsverletzungen des Zentralnervensystems
- P11.5-: Geburtsverletzung der Wirbelsäule und des Rückenmarkes
- Wirbelsäulenfraktur durch Geburtsverletzung
- P11.50: Mit akuter Querschnittlähmung
- P11.51: Mit chronischer Querschnittlähmung
- P11.59: Nicht näher bezeichnet
- Geburtsverletzung der Wirbelsäule und des Rückenmarkes ohne Querschnittlähmung
G82.-: Paraparese und Paraplegie, Tetraparese und Tetraplegie
- Inklusive:
- Paraplegie (chronisch)
- Quadriplegie (chronisch)
- Tetraplegie (chronisch)
- Exklusive: Akute traumatische Querschnittlähmung (S14.-, S24.-, S34.‑), Angeborene und infantile Zerebralparese (G80.‑)
- Die folgenden fünften Stellen sind bei den Subkategorien G82.0–G82.5 zu verwenden:
- 0: Akute komplette Querschnittlähmung nichttraumatischer Genese
- 1: Akute inkomplette Querschnittlähmung nichttraumatischer Genese
- 2: Chronische komplette Querschnittlähmung
- Komplette Querschnittlähmung o.n.A.
- 3: Chronische inkomplette Querschnittlähmung
- Inkomplette Querschnittlähmung o.n.A.
- 9: Nicht näher bezeichnet
- Zerebrale Ursache
- G82.0-: Schlaffe Paraparese und Paraplegie
- G82.1-: Spastische Paraparese und Paraplegie
- G82.2-: Paraparese und Paraplegie, nicht näher bezeichnet
- Lähmung beider unterer Extremitäten o.n.A.
- Paraplegie (untere) o.n.A.
- G82.3-: Schlaffe Tetraparese und Tetraplegie
- G82.4-: Spastische Tetraparese und Tetraplegie
- G82.5-: Tetraparese und Tetraplegie, nicht näher bezeichnet
- Quadriplegie o.n.A.
- G82.6-:! Funktionale Höhe der Schädigung des Rückenmarkes
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.