Grundlagen
Ziele der AMBOSS-SOP akutes Querschnittsyndrom
- Eingrenzung der möglichen Ursachen und Differenzialdiagnosen anhand der klinischen Präsentation vor Auswahl der geeigneten Bildgebung
- Durchführung der Bildgebung, ggf. Erweiterung der Diagnostik und schnellstmögliche Einleitung einer spezifischen Akuttherapie
Definition
- Akut eingetretene bilaterale, höhenbezogene neurologische Defizite infolge einer akuten Schädigung oder eines dekompensierten chronisch-progredienten Funktionsverlusts des Rückenmarks
- Variable klinische Präsentation, die von der genauen Läsionshöhe und den betroffenen Bahnen abhängt
- Komplettes Querschnittsyndrom: Alle Funktionen kaudal der Läsionshöhe betroffen bei Läsion aller afferenten und efferenten Leitungsbahnen des Rückenmarks
- Inkomplettes Querschnittsyndrom: Selektive Funktionen kaudal der Läsionshöhe betroffen bei nicht den kompletten Rückenmarksquerschnitt betreffender Läsion
- Spezialfall: A.-spinalis-anterior-Syndrom mit selektivem Ausfall einzelner sensibler Qualitäten bei ventraler Rückenmarksläsion
- Spezialfall: Brown-Séquard-Syndrom mit seitengetrennter Dissoziation motorischer und sensibler Ausfälle bei halbseitiger Rückenmarksläsion
- Grenzfälle
- Schädigung der Cauda equina : Kann klinisch i.d.R. nicht von einer Läsion des Conus medullaris unterschieden werden (Spezialfall: Konus-Kauda-Syndrom) und wird auch wegen des überlappenden Ursachenspektrums zu den Querschnittsyndromen gezählt
- Ausgedehnte Hirnstammschädigung: Kann ein hohes Querschnittsyndrom beinhalten, das sich aber vom Querschnittsyndrom im eigentlichen Sinne durch zusätzliche Hirnstammsymptome unterscheidet
Wichtige Differenzialdiagnosen, die eine Rückenmarksschädigung imitieren können
- Leriche-Syndrom
- Guillain-Barré-Syndrom
- Bilaterales Mantelkantensyndrom
- Psychogene Lähmung
1 - Basismaßnahmen
Jedes akute Querschnittsyndrom ist ein Notfall, der eine umgehende differenzialdiagnostische Abklärung erfordert! Auch einer vermeintlich milden klinischen Ausprägung (z.B. rein sensibles Querschnittsyndrom) kann eine dynamische Grunderkrankung zugrunde liegen, die unbehandelt zu dauerhafter schwerer Behinderung führen kann!
- Überprüfung und Sicherung der Vitalfunktionen nach dem cABCDE-Schema
- Monitoring der Vitalparameter: Herzfrequenz, EKG, Atmung, spO2, Blutdruck an beiden Armen, Körpertemperatur
- Venöse Blutentnahme: Kleines Blutbild, CRP, PCT, Blutzucker, Elektrolyte (Na+, K+), Lactat, Kreatinin, Harnstoff, GFR, ALT, AST, γGT, CK, Vitamin B12, INR, pTT, D-Dimere
- Blutgasanalyse
- Intravenöser Zugang: Gabe von Vollelektrolytlösung i.v.
- Thromboseprophylaxe mit niedermolekularem Heparin, z.B. Enoxaparin
- Orientierende Restharnbestimmung per Ultraschall , danach Legen eines Blasenkatheters
- Bedarfsgerechte Versorgung
- Beginn und bedarfsgerechte Eskalation einer Schmerztherapie, z.B. mit Ibuprofen oder Metamizol
- Siehe für Details: Akutschmerztherapie in der Notaufnahme
- Ggf. abführende/prokinetische Maßnahmen je nach Beeinträchtigung der (End‑)Darmmotilität
- Beginn einer Magenulkus-Prophylaxe mit einem Protonenpumpeninhibitor, z.B. Pantoprazol
- Beginn und bedarfsgerechte Eskalation einer Schmerztherapie, z.B. mit Ibuprofen oder Metamizol
2 - Klinische Befunderhebung
Anamnese und Inspektion
- Bei eindeutiger traumatischer Rückenmarksläsion
- Sofort Neurochirurgie und/oder Traumatologie hinzuziehen!
- Nach Rücksprache ggf. Beginn einer Methylprednisolon-Therapie (nur innerhalb von 8 Stunden nach Trauma)
- Anamnese bei nicht-traumatischem Querschnittsyndrom
Neurologische Untersuchung
- Meningismus und Lhermitte-Zeichen
- Muskelkraft, Muskeltonus und Reflexe
- Zentrale Paresen unterhalb der Läsionshöhe bei Schädigung der Pyramidenbahn mit spastischer Tonuserhöhung, Reflexsteigerung und positiven Pyramidenbahnzeichen
-
Periphere Paresen auf der Läsionshöhe durch zusätzlich mögliche lokale Schädigung des motorischen Vorderhorns mit auf Segmenthöhe persistierenden schlaffen Paresen
- Beurteilung einer evtl. Atemlähmung
- Beurteilung der Kraftgrade im Höhen- und Seitenvergleich
- Beurteilung des Muskeltonus im Höhen- und Seitenvergleich
- Beurteilung der Reflexe inkl. der segmentalen Bauchhautreflexe im Höhen- und Seitenvergleich
Orientierende Höhenlokalisation anhand segmentaler Kennmuskeln | ||
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Reflex | ||
C3/4 |
| - |
C5 |
| - |
C6 |
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C7 |
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C8/Th1 |
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L2/3 |
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L4 |
| |
L5 |
| |
S1 |
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- Pyramidenbahnzeichen im Seitenvergleich
- Sensible Defizite entlang der Dermatome
- Störung des Berührungsempfindens und der Tiefensensibilität bei Schädigung des Hinterstrangs mit Ausprägung einer sensiblen Ataxie
- Störung des Schmerz- und Temperaturempfindens bei Schädigung des Vorderseitenstrangs
- Überprüfung aller sensiblen Qualitäten, auch im Anogenitalbereich im Seitenvergleich
- Höhenlokalisation gelingt am besten anhand der Algesieprüfung
- Dermatombezogene Exantheme, auch im Anogenitalbereich
- Blasen- und/oder Mastdarmstörungen in variabler Ausprägung, Faustregel:
- Überhöhter Blasen- und Analsphinktertonus und Erschlaffung der Blasen- und Mastdarmwand bei Läsion des sakralen Parasympathikus
- Erniedrigter Blasen- und Analsphinktertonus und Überaktivität der Blasenwand bei suprasakraler Läsion
- Analsphinktertonus , Analreflex und ggf. Cremasterreflex
- Hirnnervenprüfung
- Koordinationsprüfung
- Gangprüfung, wenn möglich
Herz-Kreislauf-Untersuchung
- Blutdruck und Herzfrequenz
- CAVE: Herz-Kreislauf-Dysregulation bis zum neurogenen Schock bei Läsion der thorakalen Sympathikus-Efferenzen!
- Atemfrequenz
- Pathologisches Atemmuster, Dyspnoe
- Blutgasanalyse: Zeichen der respiratorischen Insuffizienz?
- Auskultation des Thorax
- Pulsstatus an allen Extremitäten, Hals und Aorta
- Ischämiezeichen der Beine?
3 - Bildgebung
Der Goldstandard der Bildgebung zur Detektion einer spinalen Läsion beim akuten Querschnittsyndrom ist die notfallmäßige MRT der Wirbelsäule (entweder HWS + BWS oder BWS + LWS aufgrund jeweils unterschiedlicher technischer Anforderungen). Die klinische Höhenlokalisation vor Bildgebung ist deshalb enorm wichtig!
Bei klinischen Hinweisen auf eine akute Hirnstammschädigung als Ursache eines sehr hohen Querschnittsyndroms (Hirnnervenausfälle, respiratorische Insuffizienz, pathologisches Atemmuster) muss zuerst eine CT des Kopfes + supraaortale CT-A durchgeführt werden, um die Möglichkeit einer Thrombektomie der A. basilaris schnellstmöglich abzuklären!
Bei klinischer Diagnose eines A.-spinalis-anterior-Syndroms und/oder eines Leriche-Syndroms muss zuerst eine CT-Angiografie der gesamten Aorta durchgeführt werden, weil hier die größte Gefahr von einer möglichen Aortendissektion ausgeht!
Akutes Querschnittsyndrom - Auswahl der Bildgebung | ||||
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Syndromatische Zuordnung | Klinische Symptome | Erforderliche Notfallbildgebung | ||
Verdacht auf Hirnstammschädigung |
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Alle anderen Querschnittsyndrome | – |
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- | Spezialfall: Brown-Séquard-Syndrom |
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- | Spezialfall: Konus-Kauda-Syndrom |
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4 - Weiteres Vorgehen
Bei Nachweis einer Aortendissektion, eines Aortenverschlusses oder -aneurysmas: Sofortige Weiterversorgung durch Thoraxchirurgie und/oder Gefäßchirurgie!
Bei kompressiver Rückenmarksläsion, einer Spondylodiszitis oder einer Gefäßmalformation: Sofortige Weiterversorgung durch Neurochirurgie und/oder Traumatologie!
Bei Nachweis oder eindeutigem klinischen Befund einer spinalen Ischämie bestehen nur wenige Therapieoptionen. Eine systemische oder lokale Lysetherapie kann in Einzelfällen nach Ausschluss einer spinalen Blutung durchgeführt werden, scheidet aber meistens allein wegen des überschrittenen Zeitfensters aus!
- Spezifische Akuttherapie
- Bei Nachweis einer Aortendissektion, eines Aortenverschlusses oder -aneurysmas: Sofortige Weiterversorgung durch Thoraxchirurgie und/oder Gefäßchirurgie
- Bei Nachweis einer kompressiven Rückenmarksläsion oder einer Spondylodiszitis: Sofortige Weiterversorgung durch Neurochirurgie und/oder Traumatologie
- Bei bildgebendem Nachweis oder eindeutigem klinischen Befund einer spinalen Ischämie: Vorgehen wie bei zerebraler Ischämie, siehe: Systemische Lysetherapie bei Schlaganfall - AMBOSS-SOP
Akutes Querschnittsyndrom - Erweiterung der Notfalldiagnostik | |
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Konstellation nach erster Bildgebung | Anschließende Diagnostik |
Unauffällige Erstbildgebung und verbleibende Möglichkeit einer spinalen Läsion im Randbereich der Bildgebung | MRT der fehlenden Abschnitte der Wirbelsäule |
Unauffällige Erstbildgebung und verbleibende Möglichkeit eines bilateralen Mantelkantensyndroms | MRT des Kopfs |
Bildbefunde, die eine Myelitis oder Neoplasie nahelegen | Liquordiagnostik |
Unauffällige Bildbefunde |
- Intensivbehandlung
- Absolute Indikation bei respiratorischer Insuffizienz, zervikalem oder hohem thorakalen Querschnitt oder Hirnstammsyndrom
- Dringende Indikation bei ausgeprägten vegetativen Symptomen
- Großzügige Indikation bei ausgeprägten motorischen Symptomen
Die weitere spezifische, insb. die nicht-chirurgische, Therapie richtet sich nach der Zusammenschau aller bildgebenden mit den vollständigen Labor- und Liquor- sowie ggf. Erreger- und Antikörperbefunden!
Mögliche Ursachen
- Kompressive Myelopathie, z.B. durch
- (Pathologische) Wirbelkörperfraktur
- Extramedulläre Blutung
- Bandscheiben-Massenprolaps
- Spinalkanalstenose
- Neoplasie
- Spinalen Abszess/Spondylodiszitis
- Inflammatorische Myelopathie
- Infektiöse Myelitis durch virale oder atypische bakterielle Erreger
- Nicht-infektiöse/autoimmune Myelitis
- Paraneoplastische Myelitis
- Vaskuläre Myelopathie, z.B. durch
- Ischämie
- Intramedulläre Blutung
- Gefäßmalformation
- Metabolische , toxische oder radiogene Myelopathie