Zusammenfassung
Beim Morbus haemolyticus neonatorum handelt es sich um eine verstärkte Hämolyse beim Fötus oder Neugeborenen, die in >95% der Fälle durch eine Rhesusinkompatibilität oder eine AB0-Inkompatibilität zwischen Mutter und Kind ausgelöst wird. Bei schweren Verlaufsformen der Rhesusinkompatibilität kann es bereits intrauterin zum Hydrops fetalis kommen. Postnatal zeigen betroffene Säuglinge eine Hämolyse-bedingte Anämie, die durch einen vermehrten Anfall von unkonjugiertem Bilirubin zu einem Icterus neonatorum führen kann. In seltenen Fällen ist bei stark erniedrigten Hb-Werten die Gabe von Erythrozytenkonzentraten notwendig. Da die Rhesusinkompatibilität zu einem vital bedrohlichen Hydrops fetalis mit Todesfolge führen kann, muss bei Rhesus-negativen Müttern eine Anti-D-Prophylaxe durchgeführt werden. Die AB0-Inkompatibilität verläuft in der Regel mild und führt nur selten zu ausgeprägten Hämolysen.
Definition
Hämolyse kindlicher Erythrozyten durch Anlagerung von mütterlichen Antikörpern infolge einer Blutgruppenunverträglichkeit.
Ätiologie
- In >95% der Fälle infolge
- AB0-Inkompatibilität: ca. 1:100 aller Schwangerschaften
- Rhesus-Inkompatibilität: Aufgrund der Prävention mittels Anti-D-Prophylaxe inzwischen eher selten
- Seltener: Mehr als 60 weitere Antigen-Inkompatibilitäten möglich
Pathophysiologie
AB0-Inkompatibilität
- Bedeutsam ist vor allem die Konstellation: Mutter Blutgruppe 0, Kind Blutgruppe A oder B
- Das Kind kann bereits in der ersten Schwangerschaft erkranken
- Krankheit verläuft meist milde , es kommt fast nie zu einem Hydrops fetalis
Rhesus-Inkompatibilität
- Bei Rh-negativer Mutter und Rh-positivem Kind: Mutter bildet nach Kontakt mit Rh-positivem Blut Rh-IgM-Antikörper (Anti-D-Antikörper) → Im Verlauf Serokonversion zu Rh-IgG (plazentagängig)
- Bei erneuter Schwangerschaft mit Rh-positivem Kind: Übertritt von Rh-IgG in den fetalen Organismus → Rh-IgG-Agglutination der Blutzellen des Kindes mit hämolytischer Anämie → Gefahr: Hydrops fetalis bzw. M. haemolyticus neonatorum
Symptomatik
Pränatal
- Hydrops fetalis (nur bei Rhesusinkompatibilität zu erwarten)
Postnatal
- Anaemia neonatorum
- Hepatosplenomegalie
- Icterus neonatorum praecox und gravis in 10–20%
Diagnostik
Pränatal
- Blutuntersuchung der Mutter (siehe auch: Serologische Untersuchungen in der Schwangerschaft)
- Blutgruppenbestimmung: AB0 und Rhesus
- Antikörpersuchtest
-
Doppler-Sonografie der fetalen Gefäße → Erhöhung der Strömungsgeschwindigkeit spricht für eine fetale Anämie
- Siehe auch: Doppler-Sonografie in der Schwangerschaft
- Liley-Diagramm: Amniozentese zur Bestimmung der Gelbfärbung des Fruchtwassers
- Ggf. Punktion der Nabelvene zur fetalen Hb-Bestimmung
Postnatal (Untersuchung des Neugeborenen)
- Blutbild: Hämolysezeichen
-
Direkter Coombs-Test
- Bei Rhesus-Inkompatibilität: Positiv
- Bei AB0-Inkompatibilität: Schwach positiv oder negativ
Differenzialdiagnosen
Vergleich zwischen AB0- und Rhesus-Inkompatibilität | ||
---|---|---|
AB0-Inkompatibilität | Rhesus-Inkompatibilität | |
Häufigkeit | Häufig | Selten |
Klinik | Meist unauffällig bis milde | Milde bis schwer |
Erkrankung bei 1. Schwangerschaft | Häufig | Nur in Ausnahmefällen |
Direkter Coombs-Test (Kind) | Schwach positiv oder negativ | Positiv |
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Pränatal
- Intrauterine Bluttransfusionen über die Nabelschnurvene (sollte nur in erfahrenen Zentren durchgeführt werden)
Postnatal
-
Anämie
- Eisensubstitution
- Ggf. Gabe von Erythrozytenkonzentraten: Hb-Grenzwert nach PINT-Studie in erster Lebenswoche 10g/dl
- Hyperbilirubinämie: Phototherapie, ggf. sogar Austauschtransfusion (→ siehe Therapie des Icterus neonatorum)
- Ggf. Immunglobulin-Gabe bei schweren Verläufen
Prognose
Die Prognose ist abhängig vom Ausmaß der Hämolyse und Anämie. Die meisten Kinder entwickeln nur eine leichte Hämolyse und eine moderate Hyperbilirubinämie. Ein Hydrops fetalis als Folge einer Rhesus-Inkompatibilität kann aber sowohl intrauterin als auch postnatal zum Tode führen.
Prävention
Anti-D-Prophylaxe (Rhesusprophylaxe)
- Hintergrund
- Pathophysiologischer Hintergrund siehe Rhesus-Inkompatibilität
- Schützt in erster Linie nicht das Kind in der aktuellen Schwangerschaft, sondern ein mögliches weiteres Kind bei einer zukünftigen Schwangerschaft
- Indikation und Durchführung
- Verabreichung von Anti-D-Immunglobulin bei Rhesus-negativen Schwangeren mit Rhesus-positiven Föten
- Während der Schwangerschaft nach Auswertung des NIPT-RhD (siehe hierzu auch: Serologische Untersuchungen in der Schwangerschaft) [1]
- In den ersten 72 Stunden nach der Geburt
- Veraltet: Standardmäßige Verabreichung von Anti-D-Immunglobulinen bei Rhesus-negativen Schwangeren (die keine Anti-D-Antikörper aufweisen) in der 28.–30. SSW
- Wirksamkeit der Anti-D-Prophylaxe liegt eine antikörpervermittelte Immunsuppression zugrunde
- Verabreichung von Anti-D-Immunglobulin bei Rhesus-negativen Schwangeren mit Rhesus-positiven Föten
- Weitere Indikationen (bei Rhesus-negativer Mutter)
- Nach invasiven Eingriffen (wie z.B. Amniozentese, Chorionzottenbiopsie)
- Blutungen in der Schwangerschaft
- Nach Abort, Extrauteringravidität oder Abruptio
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- P55.-: Hämolytische Krankheit beim Fetus und Neugeborenen
- P55.0: Rh-Isoimmunisierung beim Fetus und Neugeborenen
- P55.1: AB0-Isoimmunisierung beim Fetus und Neugeborenen
- P55.8: Sonstige hämolytische Krankheiten beim Fetus und Neugeborenen
- P55.9: Hämolytische Krankheit beim Fetus und Neugeborenen, nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.