Zusammenfassung
Ein Ikterus entwickelt sich bei mehr als der Hälfte aller Neugeborenen. Er entsteht i.d.R. durch einen Anstieg des indirekten Bilirubins und ist in den ersten Lebenstagen physiologisch. Ein Anstieg des indirekten Bilirubins über altersentsprechende Normwerte (indirekte Hyperbilirubinämie) kann jedoch auch Ausdruck zugrunde liegender Erkrankungen sein und unbehandelt zu schwerwiegenden akuten und chronischen Schädigungen führen. Daher ist die frühzeitige Identifikation und Therapie von Neugeborenen mit hohen bzw. rasch steigenden Bilirubinwerten elementar. Wichtigste therapeutische Maßnahme ist der rasche Beginn einer Phototherapie, bei der das hydrophobe Bilirubin durch blaues Licht in eine wasserlösliche Form überführt wird. In sehr schweren Fällen oder bei Therapieresistenz kann zur Elimination des Bilirubins eine Blutaustauschtransfusion notwendig sein.
Bei einem Ikterus durch Anstieg des direkten Bilirubins muss im Neugeborenenalter eine akut behandlungspflichtige neonatale Cholestase in Betracht gezogen werden.
Definition
- Physiologischer Neugeborenenikterus [1][2]
- Zeitraum: 3.–10. Lebenstag (Maximum um den 5. Lebenstag)
- Gesamt-Serum-Bilirubin ≤18 mg/dL (≤300 μmol/L)
- Asymptomatisch bis auf einen Ikterus von Haut, Schleimhaut und/oder Skleren [2]
- Pathologischer Neugeborenenikterus [1][2]
Epidemiologie
Eine Hyperbilirubinämie ist der häufigste Grund für eine stationäre Aufnahme im Neugeborenenalter! [2]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Physiologischer Neugeborenenikterus [2][5]
- Ursachen
- Hoher Hämoglobinwert zum Zeitpunkt der Geburt [6]
- Kurze Lebensdauer der fetalen Erythrozyten
- Austausch des fetalen (HbF) gegen adultes (HbA) Hämoglobin (sog. Trimenonreduktion)
- Unzureichende Stoffwechselaktivität der Leber
- Verzögerte Darmpassage mit verstärkter Rückresorption (enterohepatischer Kreislauf)
Die physiologische Hyperbilirubinämie beruht immer auf einem Anstieg des indirekten Bilirubins und hat prä- und/oder intrahepatische Ursachen!
Pathologischer Neugeborenenikterus [2][5]
- Begünstigende Faktoren
- Frühgeburtlichkeit
- Geringes Geburtsgewicht
- Männliches Geschlecht
- Hämatome durch Vakuumextraktion (z.B. subgaleatisches Hämatom oder Kephalhämatom)
- Unzureichende Nahrungszufuhr mit Gewichtsabnahme ≥10%
- Ausschließliche Muttermilchernährung (Muttermilchikterus)
- Verspätete Mekoniumausscheidung
- Positive Familienanamnese
- Azidose [7]
- Ursachen: Abhängig von Zeitpunkt und Ausmaß der Hyperbilirubinämie
Häufigste Ursachen des Icterus neonatorum [2] | ||
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Icterus praecox | Icterus gravis | Icterus prolongatus |
|
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Die wichtigsten Ursachen des Icterus praecox sind die Neugeborenensepsis und hämolytische Erkrankungen!
Symptomatik
- Physiologisch: Ikterus ohne weitere Symptome
- Pathologisch: Ikterus mit weiteren Symptomen (bspw. Hinweise auf eine Bilirubinenzephalopathie ) [2][5]
- Akute Bilirubinenzephalopathie
- Phase 1: Trinkschwäche, Lethargie, muskuläre Hypotonie
- Phase 2: Fieber, schrilles Schreien, Retrocollis
- Phase 3: Epileptische Anfälle, Stupor, Apnoen
- Chronische Bilirubinenzephalopathie (Kernikterus)
- Zerebralparese, choreoathetotische Störungen
- Vertikale Blickparese
- Hör- und Sprachstörung
- Intelligenzminderung
- Zahnschmelzdefekte
- Akute Bilirubinenzephalopathie
Freies Bilirubin kann die Blut-Hirn-Schranke überwinden und zu einer Bilirubinenzephalopathie führen!
Erstes Symptom eines pathologischen Neugeborenenikterus ist häufig eine Trinkschwäche!
Diagnostik
Um schwerwiegende Folgen einer Hyperbilirubinämie zu vermeiden, ist die frühzeitige Identifikation und Therapie von Neugeborenen mit hohen bzw. rasch steigenden Bilirubinwerten essenziell.
Vorgehen bei V.a. Icterus neonatorum [2][5]
- Anamnese
- Abfrage begünstigender Faktoren (siehe: Ursachen des Icterus neonatorum)
- Abfrage des Neugeborenenscreenings
- Körperliche Untersuchung
- Ausmaß des Ikterus
- Hinweise auf Bilirubinenzephalopathie (siehe: Symptome des Icterus neonatorum)
- Bilirubinbestimmung
- Bestimmung der Phototherapiegrenze
- Bedeutung: Bilirubin-Schwellenwert für die Empfehlung zur Phototherapie
- Berechnung: Abhängig von aktuellem Lebensalter und Gestationsalter bei Geburt
- Lebensalter ≥72 h
- Gestationsalter bei Geburt ≥38+0 SSW: Grenze = 20 mg/dL (>340 μmol/L)
- Gestationsalter bei Geburt <38+0 SSW: Grenze (in mg/dL) = Aktuelles Gestationsalter (in Wochen) − 20
- Absenkung der o.g. Grenze um jeweils 2 mg/dL (35 μmol/L) bei
- Lebensalter 48–72 h
- Schwer kranken Neugeborenen mit Kapillarleck und Hypalbuminämie
- Geplanter Phototherapie mit geringer Effektivität
- Lebensalter ≥72 h
- Zu beachten
- Ggf. weitere Absenkung der Grenze bei raschem Anstieg oder bestehender Symptomatik (z.B. Trinkschwäche)
- Untere Phototherapiegrenze: 5 mg/dL (85 μmol/L)
- Bewertung und Prozedere anhand altersbezogener Perzentilen
- TcB/GSB in Zone I → Klinische Kontrolle nach 72–96 h
- TcB/GSB in Zone II → Bilirubinkontrolle nach 48–72 h
- TcB/GSB in Zone III → Bilirubinkontrolle nach 24–48 h
- TcB in Zone IV oder <2 mg/dL (<35 μmol/L) unter Phototherapiegrenze → GSB
- GSB in Zone IV oder <2 mg/dL (<35 μmol/L) unter Phototherapiegrenze → Bilirubinkontrolle nach 12–24 h
- GSB über Phototherapiegrenze → Stationäre Aufnahme + Erweiterte Labordiagnostik + Therapie
Bei gesunden Neugeborenen ≥38+0 SSW beträgt die Phototherapiegrenze ab einem Alter von 72 h 20 mg/dL (bzw. 340 μmol/L)!
Bei allen anderen Neugeborenen muss die Grenze abgesenkt werden!
Erweiterte Labordiagnostik [2][5]
- Indikation: Überschreitung der Phototherapiegrenze
Erweiterte Diagnostik bei Icterus neonatorum | ||
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Indikation | Ausschluss | Laborparameter |
Hämolytische Erkrankungen |
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Hypalbuminämie | ||
Hyperbilirubinämie-Syndrome |
| |
Direkte Hyperbilirubinämie |
Bei Icterus praecox oder Icterus gravis sollten eine Neugeborenensepsis und hämolytische Erkrankungen als Ursachen ausgeschlossen werden!
Differenzialdiagnosen
Ursache des Icterus neonatorum ist i.d.R. eine prä- und/oder intrahepatische Störung, die zu einem Anstieg des indirekten Bilirubins führt. Die wichtigsten Differenzialdiagnosen (insb. des Icterus prolongatus) sind Erkrankungen, die zu einem Aufstau der Galle mit direkter Hyperbilirubinämie führen (neonatale Cholestase).
Neonatale Cholestase [8]
- Definition: Erkrankungen, die zu einem Aufstau der Galle mit Erhöhung des direkten Bilirubins und/oder der Gallensäuren im Blut führen
- Inzidenz: 1/2.100 Neugeborenen
- Klinisches Bild: Ikterus + acholischer Stuhl (+ weitere Symptome je nach Ursache)
- Ursachen siehe: Tabelle zu Ursachen der neonatalen Cholestase
- Basisdiagnostik
- Evaluation der Stuhlfarbe
- Labordiagnostik
- Differenzialblutbild, Entzündungsparameter (CRP, IL-6)
- Schilddrüsenparameter (TSH, fT4)
- Cholestaseparameter (AP, γ-GT, direktes Bilirubin), Transaminasen (AST, ALT), Gerinnung (INR)
- Abfrage Neugeborenenscreening, BGA mit Lactat
- Sonografie des Abdomens
- Erweiterte Diagnostik
- Labordiagnostik (bspw. Erregernachweise, α1-Antitrypsin, Schweißtest, Ferritin, organische Säuren im Urin, Aminosäuren im Plasma, Gallensäuren )
- MRCP, ERCP
- Leberbiopsie und Histologie
- Genetische Diagnostik
- Therapie
- Ernährungsoptimierung
- Gabe von Ursodeoxycholsäure
- Weitere: Je nach zugrunde liegender Ursache
Ursachen der neonatalen Cholestase [8][9] | |
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Akut behandlungspflichtig |
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Weitere |
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Bei acholischem Stuhl muss eine neonatale Cholestase ausgeschlossen werden!
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Optimierung der Ernährung [5]
- Prinzip: Unterbrechung des enterohepatischen Kreislaufs durch Anregung der Darmperistaltik und Hemmung von β-Glucuronidasen
- Indikation: Jeder Icterus neonatorum
- Durchführung
- Gutes Stillmanagement, häufige Mahlzeiten
- Ggf. Zufüttern von partiell hydrolysierter Formulanahrung
Phototherapie bei Neugeborenenikterus [5][10]
- Prinzip: Steigerung der Bilirubinausscheidung über Galle und Urin durch Umwandlung von indirektem Bilirubin (hydrophob) zu Lumirubin (hydrophil)
- Indikation: Überschreitung der Phototherapiegrenze (siehe: Diagnostik des Icterus neonatorum)
- Kontraindikation: Direkte Hyperbilirubinämie
- Durchführung
- Blaulicht (Wellenlänge 430–490 nm)
- Maximierung der exponierten Körperoberfläche und der Behandlungszeit
- Mögliche Nebenwirkungen
- Erhöhte Temperatur und Perspiratio insensibilis
- Gesteigerter Kalorienverbrauch
- Erythem, Exanthem
- Folgen der Trennung von Bezugspersonen
- Schwache Assoziation zum späteren Auftreten von Hautveränderungen (melanozytische Naevi, Café-au-lait-Flecken) und akuter myeloischer Leukämie
- Zu beachten: Augenschutz durch Phototherapiebrille!
Intensive Phototherapie
- Indikation: Bilirubinwerte >5 mg/dL (>85 μmol/L) über der Phototherapiegrenze
- Durchführung
- Verringerung der Distanz zwischen Lichtquelle und Körperoberfläche
- Zusätzliche Verwendung einer fiberoptischen Matte, seitlich angebrachter Lampen, reflektierender Metallfolien oder weißer Tücher
Während der Phototherapie sollten die Augen des Neugeborenen mittels Brille geschützt werden!
Blutaustauschtransfusion [5][10]
- Ziel: Elimination des Bilirubins durch nahezu vollständigen Austausch des Blutvolumens durch Spenderblut
- Indikation
- Zeichen einer fortschreitenden akuten Bilirubinenzephalopathie
- Bilirubinwert >10 mg/dL über der Phototherapiegrenze
- Bilirubinwert ≥5 mg/dL über der Phototherapiegrenze mit unzureichendem Ansprechen auf intensive Phototherapie (fehlender GSB-Abfall innerhalb 4–6 Std.)
- Durchführung
- Zugang: Nabelvenenkatheter
- Spenderblut: AB0-identisch und Rhesus-negativ
- Austauschvolumen: Ca. 250 mL/kgKG
- Austauschgeschwindigkeit: Ca. 2 mL/kgKG/min
- Mögliche Komplikationen
- Kardiovaskulär (bspw. Arrhythmie, Hypervolämie, Embolie, Thrombose)
- Infektion
- Elektrolytentgleisung
- Gerinnungsstörung
Die Blutaustauschtransfusion kann zu schwerwiegenden Komplikationen führen!
Prognose
- Abhängig von der Ursache
- Bei rechtzeitiger Diagnose und Therapie gut
- Häufigkeit einer chronischen Bilirubinenzephalopathie (Kernikterus): Ca. 0,001% [11]
Prävention
- Optimierung des Stillmanagements (siehe: Therapie des Icterus neonatorum)
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- P57.-: Kernikterus
- P57.0: Kernikterus durch Isoimmunisierung
- P57.8: Sonstiger näher bezeichneter Kernikterus
- Exklusive: Crigler-Najjar-Syndrom (E80.5)
- P57.9: Kernikterus, nicht näher bezeichnet
- P58.-: Neugeborenenikterus durch sonstige gesteigerte Hämolyse
- Exklusive: Ikterus durch Isoimmunisierung (P55–P57)
- P58.0: Neugeborenenikterus durch Quetschwunde
- P58.1: Neugeborenenikterus durch Blutung
- P58.2: Neugeborenenikterus durch Infektion
- P58.3: Neugeborenenikterus durch Polyglobulie
- P58.4: Neugeborenenikterus durch Arzneimittel oder Toxine, die von der Mutter übertragen oder dem Neugeborenen verabreicht wurden
- P58.5: Neugeborenenikterus durch Verschlucken mütterlichen Blutes
- P58.8: Neugeborenenikterus durch sonstige näher bezeichnete gesteigerte Hämolyse
- P58.9: Neugeborenenikterus durch gesteigerte Hämolyse, nicht näher bezeichnet
- P59.-: Neugeborenenikterus durch sonstige und nicht näher bezeichnete Ursachen
- Exklusive: Durch angeborene Stoffwechselstörungen (E70–E90), Kernikterus (P57.‑)
- P59.0: Neugeborenenikterus in Verbindung mit vorzeitiger Geburt
- Hyperbilirubinämie bei Prämaturität
- Ikterus infolge verzögerter Konjugation in Verbindung mit vorzeitiger Geburt
- P59.1: Gallepfropf-Syndrom
- P59.2: Neugeborenenikterus durch sonstige und nicht näher bezeichnete Leberzellschädigung
- Fetale oder neonatale (idiopathische) Hepatitis
- Fetale oder neonatale Riesenzellhepatitis
- Exklusive: Angeborene Virushepatitis (P35.3)
- P59.3: Neugeborenenikterus durch Muttermilch-Inhibitor
- P59.8: Neugeborenenikterus durch sonstige näher bezeichnete Ursachen
- P59.9: Neugeborenenikterus, nicht näher bezeichnet
- Physiologischer Ikterus (verstärkt) (verlängert) o.n.A
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.