Zusammenfassung
Die spinalen Muskelatrophien (SMA) sind eine Gruppe seltener Erkrankungen, denen eine Degeneration des 2. Motoneurons zugrunde liegt. Leitbefund ist eine progrediente Muskelschwäche mit Muskelatrophien und Faszikulationen. Die Verteilung der Symptome und ihre Dynamik sind sehr unterschiedlich. Die SMA lassen sich in die am häufigsten vorkommende 5q-SMA und in die selteneren Non-5q-SMA unterteilen. In beiden Gruppen finden sich hereditäre und sporadische Formen, wobei die hereditären Formen weitaus häufiger sind.
Wegen der Seltenheit der Erkrankung erfolgt die Therapie der SMA in spezialisierten Zentren. Seit Kurzem stehen zur Behandlung der 5q-SMA Gentherapeutika zur Verfügung, die die früher infauste Prognose deutlich verbessert haben. Da ein möglichst früher Therapiebeginn die Wirksamkeit erhöht, ist die 5q-SMA seit Oktober 2021 Bestandteil des Neugeborenenscreenings.
5q-SMA
Epidemiologie [1]
- Inzidenz: Eine der häufigsten autosomal-rezessiv vererbten Krankheiten
- Deutschland: Etwa 1:7.000 Neugeborene, Anlageträgerfrequenz von 1:40
- Weltweit: Etwa 1:10.000 Neugeborene, Anlageträgerfrequenz von 1:50
- Manifestation: Überwiegend im Säuglings- und Kindesalter
Ätiologie
- Vererbungsmodus: Autosomal-rezessiv [1]
- Genetische Ursache: Defekt des Survival-of-Motor-Neuron-1-Gens (SMN1) auf dem q-Arm von Chromosom 5 [2][3]
Pathophysiologie [3]
- Mutation im SMN1-Gen führt zum Funktionsverlust des Gens → SMN-Protein-Mangel
- Manifestation zuerst an α-Motoneuronen (Degeneration)
- Krankheitsausprägung: Überwiegend durch eine individuell unterschiedliche Anzahl der SMN2-Gen-Kopien beeinflusst
Hintergrund: Physiologische Bedeutung des Survival-of-Motor-Neuron-Proteins (SMN-Protein)
- Lokalisation: Ubiquitär
- Funktion: Beteiligt an verschiedenen funktionserhaltenden zellulären Prozessen [4]
- Genorte
- SMN1-Gen: „Hauptproduzent“ des SMN-Proteins
- Produziert korrekt gespleißte RNA und zu 100% funktionstüchtiges SMN-Protein
- SMN2-Gene: „Backup-Produzenten“ des SMN-Proteins
- Erzeugen nur in geringer Menge (10–15%) korrekt gespleißte RNA und somit nur eine kleine Menge funktionstüchtiges SMN-Protein
- Individuell variable Anzahl an Genkopien (0–6 Genkopien)
- SMN1-Gen: „Hauptproduzent“ des SMN-Proteins
Symptome/Klinik
Die Symptome der 5q-SMA können unterschiedlich sein, abhängig davon, wann die Erkrankung einsetzt und wie ausgeprägt sie verläuft. Allgemein sind die folgenden Symptome möglich:
- Leitbefund: Progrediente generalisierte Muskelschwäche mit Hypo- oder Areflexie
- Symmetrische, proximal- und beinbetonte Paresen
- Muskelatrophie und Muskelhypotonie
- Muskelfaszikulationen und Tremor möglich
- Skoliose und Kontrakturen
- Im Verlauf ggf. respiratorische Insuffizienz
Klassifikation
Die Einteilung der 5q-SMA richtet sich nach klinischen Kriterien. Die Leitlinie zur spinalen Muskelatrophie von 2020 führt eine neue Klassifikation der 5q-SMA ein, da die neuen medikamentösen Therapieoptionen die für die alte Klassifikation relevanten Faktoren Erkrankungsbeginn, Symptomatik und Prognose in vielen Fällen deutlich verändern. Die alte Klassifikation wird hier ebenfalls aufgeführt, weil ihre Begrifflichkeiten sowohl in der neuen Klassifikation als auch in der Literatur weiterhin Verwendung finden.
Neue Klassifikation der 5q-SMA (2020) [1]
- Non-Sitter: Betroffene erlernen das freie Sitzen nicht oder verlieren es wieder
- Überwiegend SMA Typ 1 und 2 (nach alter Klassifikation der 5q-SMA)
- Prognose: Durch invasive Beatmung erreichen einige Patient:innen das Erwachsenenalter
- Sitter: Betroffene können für ≥10 Sekunden frei sitzen
- Überwiegend SMA Typ 2 und 3 sowie behandelte SMA Typ 1 (nach alter Klassifikation der 5q-SMA)
- Walker: Betroffene können ≥10 m frei gehen
- SMA Typ 3 und 4 (nach alter Klassifikation der 5q-SMA) sowie bei rechtzeitigem Therapiebeginn auch behandelte präsymptomatische SMA-Patient:innen
Alte Klassifikation der 5q-SMA [1] | |||
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Erkrankungsbeginn | Prognose | ||
SMA Typ 0 | Intrauterin bis 6 Tage postnatal | Betroffene Kinder versterben meist im ersten halben Lebensjahr an einer Ateminsuffizienz | |
SMA Typ 1 (syn.: Morbus Werdnig-Hoffmann, akute infantile SMA) | 1a | 7.–30. Lebenstag | Kopfkontrolle wird nicht erreicht, betroffene Kinder versterben meist bis zum zweiten Lebensjahr |
1b | 2.–6. Lebensmonat | Kopfkontrolle wird nicht erreicht | |
1c | ≥2. Lebensmonat | Kopfkontrolle wird erreicht | |
SMA Typ 2 (syn.: Chronisch infantile SMA, intermediäre SMA) | 7.–15. Lebensmonat | Freies Sitzen wird erlernt, Gehen jedoch nur mit Unterstützung, die meisten betroffenen Kinder leben ≥10 Jahre (sehr variabel) | |
SMA Typ 3 (syn.: Morbus Kugelberg-Welander, juvenile SMA) | 3a | 16.–24. Lebensmonat | Betroffene erreichen Gehfähigkeit, wobei ca. die Hälfte diese wieder verlieren, die Lebenserwartung ist annähernd normal |
3b | ≥3 Jahre | ||
SMA Typ 4 (syn.: Adulte SMA) | Erwachsenenalter | Keine Einschränkung der Lebenserwartung |
Diagnostik [1]
- Obligat
- Anamnese und neurologische Untersuchung
- Goldstandard zur Diagnosesicherung: Molekulargenetische Untersuchung
- Fakultativ (zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen)
- Früherkennung: Bestandteil des Neugeborenenscreenings (seit 10/2021) [1]
Therapie der 5q-SMA
Patient:innen mit einer 5q-SMA sollten idealerweise an einem spezialisierten Zentrum behandelt werden (siehe: Übersicht behandelnder Zentren unter Tipps & Links).
Medikamentöse Therapie [1][5]
Die in den vergangenen Jahren neu zugelassenen Gentherapeutika führen auf unterschiedlichem Wege zu einer Erhöhung des produzierten SMN-Proteins. Alle drei Medikamente haben laut Studien eine gute Wirksamkeit auf ein verlängertes Überleben und die motorischen Funktionen, insb. bei möglichst frühem Therapiebeginn. Die sehr hohen Kosten der Gentherapeutika haben zu einer großen öffentlichen Debatte um die Vereinbarkeit wirtschaftlicher und ethischer Aspekte bei der Arzneimittelzulassung geführt, auch weil Langzeitdaten zu den Therapeutika noch ausstehen.
- Nusinersen (Spinraza®) [6][7][8]
- Zulassung: 2017
- Indikation: Patient:innen mit 5q-SMA, jeder Schweregrad und jede Altersgruppe
- Wirkmechanismus
- Antisense-Oligonukleotid
- Modifikation von SMN2-pre-mRNA, um die Menge an (funktionsfähigem) SMN-Protein zu erhöhen [9]
- Applikation: Intrathekale Injektion, alle vier Monate (initial Aufsättigung mit kürzeren Intervallen)
- Onasemnogen-Abeparvovec (Zolgensma®) [10][11]
- Zulassung: 2020
- Indikation
- Wirkmechanismus
- SMN-Protein-exprimierendes Gentherapeutikum
- Wird über adenoassoziierten viralen Vektor eingebracht
- Applikation: Einmalige intravenöse Injektion
- Rote-Hand-Brief zu Onasemnogen-Abeparvovec: Fälle von akutem Leberversagen mit tödlichem Verlauf beschrieben [12]
- Risdiplam (Evrysdi®) [13][14]
Allgemeine Maßnahmen [1]
- Physiotherapie, ggf. auch Logopädie und Ergotherapie
- Rechtzeitige Hilfsmittelversorgung
- Verlaufsbeurteilung der Lungenfunktion und frühzeitige Einleitung geeigneter Ventilationshilfen
- Orthopädische Mitbehandlung bei Skoliosen und Kontrakturen
- Ernährung optimieren
- Impfungen entsprechend STIKO-Empfehlungen
- Psychosoziale und sozialrechtliche Unterstützung
- Ggf. frühzeitige palliativmedizinische Mitbehandlung
Non-5q-SMA
Die Non-5q-SMA umfassen viele verschiedene, überwiegend sehr seltene Erkrankungen [4].
- Verteilung der Symptomatik: Sowohl proximal als auch distal betonte Formen
- Ätiologie: Hereditär (unterschiedliche Erbgänge) und seltener sporadisch
- Therapie: Nur symptomatisch
Spinobulbäre Muskelatrophie [5]
Die spinobulbäre Muskelatrophie wird häufig auch als Kennedy-Krankheit oder Kennedy-Syndrom bezeichnet (nicht zu verwechseln mit dem Foster-Kennedy-Syndrom!). Der namensgebende US-amerikanische Neurologe W. R. Kennedy beschrieb die Erkrankung 1968 vermutlich erstmalig zusammen mit Kollegen.
- Ätiologie
- Klinik
- Erkrankungsbeginn: Sehr variabel, häufig im Erwachsenenalter [15]
-
Zeichen der Degeneration des 2. Motoneurons
- Betonung bulbär, fazial und proximale Extremitätenabschnitte
-
Denervierungszeichen
- Fazial betonte Faszikulationen [16]
- Muskelatrophien
- Haltetremor
-
Endokrine Störungen durch Defekt des Androgenrezeptors
- Häufig Infertilität bei Hodenatrophie
- Häufig Gynäkomastie
- Gelegentlich Diabetes mellitus
- Diagnosesicherung: Genetischer Mutationsnachweis
Differenzialdiagnosen
- Zu den SMA in Kindesalter
- Konnatale Myopathie
- Zerebralparese
- Muskeldystrophien
- Poliomyelitis bzw. Post-Poliomyelitis-Syndrom
- Zu den SMA im Erwachsenenalter: Amyotrophe Lateralsklerose
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- G12.-: Spinale Muskelatrophie und verwandte Syndrome
- G12.0: Infantile spinale Muskelatrophie, Typ I [Typ Werdnig-Hoffmann]
- G12.1: Sonstige vererbte spinale Muskelatrophie
- Progressive Bulbärparalyse im Kindesalter [Fazio-Londe-Syndrom]
- Spinale Muskelatrophie:
- distale Form
- Erwachsenenform
- juvenile Form, Typ III [Typ Kugelberg-Welander]
- Kindheitsform, Typ II
- skapuloperonäale Form
- G12.2: Spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy [Kennedy-Krankheit]
- G12.8: Sonstige spinale Muskelatrophien und verwandte Syndrome
- G12.9: Spinale Muskelatrophie, nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.