Zusammenfassung
Abhängigkeit ist u.a. durch Konsumverlangen, Schwierigkeiten in der Selbstbeherrschung, Toleranzentwicklung und Entzugssymptome gekennzeichnet. Pathophysiologisch liegen der Abhängigkeitsentstehung u.a. neurobiologische Veränderungen, lernpsychologische Effekte und genetische Prädispositionen zugrunde. Therapeutisch stehen je nach Motivations- und Erkrankungsstadium verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Man unterscheidet Störungen durch Substanzgebrauch (bspw. Opioidabhängigkeit) von Störungen durch Verhaltenssüchte (bspw. Glücksspielstörung).
Pathophysiologie
Neurobiologische Konzepte der Suchtentstehung
Mesolimbisches dopaminerges Belohnungssystem (endogenes Belohnungssystem)
- Bestandteile
- Dopaminerge Neurone des ventralen Tegmentums im Mittelhirn, die zum Nucleus accumbens des Vorderhirns führen [1]
- Modulierende Areale: Unter anderem opioiderge, glutamaterge, GABAerge und noradrenerge Neurone im ventralen Pallidum und präfrontalen Kortex sowie in Teilen der Amygdala und des Thalamus [2]
- Physiologische Funktion: Motivationszentrum, Lernen von Verhaltensmustern [3] [1]
- Reizwahrnehmung → Dopaminausschüttung aus Neuronen des mesolimbischen Belohnungssystems → Motivation bzw. Verlangen zur Ausführung einer Handlung → Ausführen des Verhaltens → Lustempfinden
- Wiederholtes Ausführen des Verhaltens → Zelluläre Anpassungsprozesse → Verknüpfung von Reiz und Reaktion → Bahnung einer Reiz-Reaktions-Kette in Form eines Verhaltensmusters → Lerneffekt
- Pathologische Funktion des Belohnungssystems bei Abhängigkeit [3]
- Sucht-assoziierte Reize → Starke Dopaminausschüttung → Starkes Verlangen → Erhöhte Motivation für suchtbezogenes Verhalten
- Dominanz von Sucht-assoziierten Reizen gegenüber natürlichen Reizen → Einengung der Wahrnehmung auf Sucht-assoziierte Reize → Vernachlässigung anderer Aktivitäten
- Bahnung automatischer Reiz-Reaktions-Ketten → Verhaltensweisen werden erlernt → Chronifizierung von Abhängigkeit
Neuronale Korrelate bei Abhängigkeit [4] [5]
- Neuronale Korrelate gestörter Impulskontrolle: Ungleichgewicht zwischen regulativem und emotionalem System
- Schwächung von Hirnarealen, die zur willentlichen Steuerung eines Verhaltens wichtig sind → Kontrollverlust
- Schwächung des präfrontalen Kortex durch dopaminerge Neurone des mesolimbischen Belohnungssystems
- Direkte neurotoxische Drogenwirkung auf Areale, die für die Impulskontrolle notwendig sind
- Stärkung von Hirnarealen, die impulsives Verhalten begünstigen
- Schwächung von Hirnarealen, die zur willentlichen Steuerung eines Verhaltens wichtig sind → Kontrollverlust
- Neuronale Korrelate für Toleranzentstehung: Veränderungen der Neurotransmission [6]
- Bspw. Reduktion der zentralnervösen Wirkung eines Suchtmittels durch Veränderung der Anzahl beteiligter Rezeptoren
Lernpsychologische Konzepte der Suchtentstehung
- Klassische Konditionierung
-
Operante Konditionierung mit Verstärkungsmechanismen
- Positive Verstärkung: Konsum führt zu positivem Zustand
- Negative Verstärkung: Konsum beendet oder reduziert negativen Zustand
- Lernen am Modell
Genetische Einflussfaktoren der Suchtentstehung
- Hinweise auf genetische Zusammenhänge bestehen für alle Suchtmittel
- Am ehesten multigenetischer Einfluss
Störungen durch Substanzgebrauch
Siehe folgende Kapitel für substanzspezifische Inhalte:
- Alkohol (Intoxikation und Abhängigkeit)
- Cannabinoide
- Halluzinogene (Intoxikation und Abhängigkeit)
- Sedativa (Intoxikation und Abhängigkeit)
- Siehe Benzodiazepine und Benzodiazepin-ähnliche Substanzen für verschreibungsrelevante Informationen
- Rauchen und Tabakkonsum
- Opioide (Intoxikation und Abhängigkeit)
- Siehe Opioide für verschreibungsrelevante Informationen
- Psychostimulanzien (Intoxikation und Abhängigkeit)
Diagnosekriterien (ICD-10)
Schädlicher Gebrauch (F1x.1)
- Durch Substanzgebrauch hervorgerufener physischer oder psychischer Schaden
- Bestehen seit mind. 1 Monat oder wiederholt über die letzten 12 Monate
Abhängigkeitssyndrom (F1x.2)
Mind. 3 der nachfolgenden Kriterien bestehen zeitgleich über mind. 1 Monat oder wiederholt innerhalb von 12 Monaten [7]:
- Substanzverlangen (Craving)
- Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren
- Körperliches Entzugssyndrom
- Toleranzentwicklung gegenüber der Substanz
- Vernachlässigung anderer Aktivitäten zugunsten des Konsums
- Anhaltender Substanzgebrauch trotz nachweislich schädlicher Folgen
Entzugssyndrom (F1x.3) [7]
- Dosisreduktion/Absetzen einer Substanz, nachdem diese wiederholt, meist langanhaltend und/oder in hohen Mengen konsumiert wurde
- Symptomatik entspricht den bekannten Merkmalen des mit der betreffenden Substanz assoziierten Entzugssyndroms
- Symptomatik ist nicht zurückführbar auf eine
- Körperliche Erkrankung (unabhängig vom Substanzkonsum)
- Andere psychische Störung oder Verhaltensstörung
Diagnosekriterien (ICD-11)
In der ICD-11 wird die Unterscheidung zwischen schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit aufrechterhalten. Aus den 6 Abhängigkeitskriterien der ICD-10 werden 3 Kriterien(-paare):
- Substanzabhängigkeit: Mind. 2 der 3 Kriterien bestehen zeitgleich über mind. 12 Monate oder es wird über mind. 3 Monate (fast) täglich konsumiert
- Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren, häufig kombiniert mit Substanzverlangen (Craving)
- Toleranzentwicklung gegenüber der Substanz und Entstehung eines körperlichen Entzugssyndroms
- Vernachlässigung anderer Aktivitäten zugunsten des Konsums und anhaltender Substanzgebrauch trotz nachweislich schädlicher Folgen
- Mehr Informationen zur ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) unter Tipps & Links
Diagnosekriterien (DSM-5)
Substanzgebrauchsstörung
- Kriterien: Mind. 2 der folgenden 11 Kriterien müssen innerhalb des letzten Jahres für die Diagnosestellung erfüllt worden sein
- Kategorie „Verminderte Kontrolle“
- Konsum von größeren Mengen und über einen längeren Zeitraum als ursprünglich beabsichtigt
- Wunsch, den Konsum einzuschränken mit evtl. erfolglosen Versuchen
- Hoher zeitlicher Aufwand für Beschaffung, Konsum und Erholung von der Rauschwirkung
- Craving
- Kategorie „Soziale Beeinträchtigung“
- Wiederholter Konsum, der sich negativ auf wichtige Lebensbereiche wie Arbeit, Schule oder Familie auswirkt
- Fortgeführter Konsum trotz daraus resultierender zwischenmenschlicher Probleme
- Reduzieren oder Einstellen anderer Aufgaben und Aktivitäten zugunsten des Substanzkonsums
- Kategorie „Riskanter Konsum“
- Körperliche Schädigung/Gefährdung durch wiederholten Konsum
- Fortgeführter Konsum trotz Vorliegen von körperlichen und psychischen Folgeschäden
- Kategorie „Pharmakologische Aspekte“
- Toleranzentwicklung
- Entzugssymptomatik bei Konsumkarenz bzw. reduziertem Konsum
- Kategorie „Verminderte Kontrolle“
- Schweregradeinteilung
- 2–3 Kriterien erfüllt: Leicht
- 4–5 Kriterien erfüllt: Moderat
- ≥6 Kriterien erfüllt: Schwer
Therapie
Allgemeine Therapieziele
- Primär: Abstinenz
- Sekundär: Konsumreduktion
Mögliche Therapieformen
Je nach Suchtmittel und Zeitpunkt der Behandlung sind unterschiedliche Angebote verfügbar.
- Früh- und Kurzinterventionen
- Definition: Interventionen von sehr kurzer Dauer
- Bestandteile
- Personalisiertes Feedback
- Individuelle Zielfindung
- Konkrete Ratschläge
- Setting: Ambulant
- Qualifizierte Entzugsbehandlung
- Definition: Entgiftung und Rückfallprophylaxe
- Bestandteile
- Motivierungsphase
- Behandlung von Intoxikations- und Entzugssymptomen
- Interdisziplinäre Therapieeinheiten zur Vorbeugung von Rückfällen
- Durchführung: Stationär oder teilstationär über eine Dauer von i.d.R. drei Wochen
- Kostenübernahme: Durch die Krankenkasse oder Sozialhilfeträger
- Entwöhnungsbehandlung
- Definition: Behandlung in (möglichst zeitnahem) Anschluss an die qualifizierte Entzugsbehandlung zum Erreichen einer langfristigen Abstinenz
- Bestandteile: Medizinische Rehabilitationsmaßnahmen
- Stabilisierung der Abstinenz
- Verbesserung der körperlichen und psychischen Gesundheit
- Förderung der sozialen und beruflichen Wiedereingliederungen
- Durchführung: Ambulant, teilstationär oder stationär
- Kostenübernahme: Durch Rentenversicherungsträger oder Krankenkasse/Sozialhilfeträger
- Nachbetreuung
- Definition: Nachbehandlung zur langfristigen Stabilisierung der Abstinenz
- Bestandteile
- Anbindung an Fachambulanzen oder Beratungsstellen
- Allgemeine ambulante Psychotherapieformen
- Selbsthilfegruppen
- Durchführung: Ambulant
- Ggf. Substitutionstherapie, siehe: Opioidabhängigkeit
Motivationsstrategien im Gespräch mit Suchtpatienten
Differenzialdiagnose Drogenintoxikation
Differenzialdiagnose Drogenintoxikation | ||||
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Pupillen | Blutdruck | Herzfrequenz | Weitere Symptome (Auswahl) | |
Opioide |
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Kokain | ||||
Amphetamin |
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Halluzinogene, Cannabinoide | ||||
Liquid Ecstasy |
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Störungen durch Verhaltenssüchte
Übersicht
- Merkmale von Verhaltenssüchten [9]
- Abhängigkeit, die nicht an eine Substanz, sondern an ein bestimmtes Verhalten gebunden ist
- Nach ICD-11: Das Verhalten führt zu erheblichem Leidensdruck und besteht über mind. 12 Monate (kontinuierlich oder episodisch)
- Schwierigkeiten, das Verhalten zu kontrollieren (Beginn, Häufigkeit, Intensität, Dauer, Beendigung, Kontext)
- Vernachlässigung anderer Aktivitäten zugunsten des Verhaltens
- Fortführung des Verhaltens trotz nachweislich schädlicher Folge
Verhaltenssüchte: Einordnung in diagnostische Klassifikationssysteme [10][11] | ||
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Störung | Kategorisierung nach ICD-10 | Kategorisierung nach ICD-11 |
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– | ||
– | – | |
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Internetnutzungsstörungen
Allgemein
- Definition
- Störungen, die auf der suchtartigen Nutzung von Internetapplikationen beruhen
- Verhalten kann sich auf verschiedene Bereiche beziehen, z.B.
- Computerspiele
- Glücksspiel
- Soziale Netzwerke
- Shopping
- Pornografie
- Epidemiologie
- Häufige Komorbiditäten [12]
- Diagnostik: Testpsychologische Verfahren
- Screening
- Compulsive Internet Use Scale (CIUS)
- Skala zum Onlinesuchtverhalten (OSV-S)
- Interviews (zur weiterführenden Diagnostik)
- Strukturiertes klinisches Interview zu internetbezogenen Störungen (AICA-SKI:IBS)
- Internet Use Disorders - Criteria-based Assessment Tool (I-CAT)
- Screening
- Therapie von Internetnutzungsstörungen (allgemein)
- (Störungsspezifische) Kognitive Verhaltenstherapie
- Ggf. begleitende Verfahren, u.a.
- Bei Kindern und Jugendlichen
- Therapie bei Kindern unter Einbezug der Eltern/Bezugspersonen
- Schulbasierte Interventionen: Skills-Training for healthy Internet Use
- Familienbasierte Interventionen
- Siehe auch: Therapieangebote unter Tipps & Links
- Therapieziel (mittelfristig): Abstinenz [12]
Empfehlungen zur Pharmakotherapie bei spezifischen Internetnutzungsstörungen | |
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Computerspielstörung |
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Shoppingstörung |
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Pornografie-Nutzungsstörung |
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Computerspielstörung (online oder offline)
- Epidemiologie [13]
- Punktprävalenz: 3%
- Erkrankungsbeginn: Adoleszenz
- Geschlechterverteilung: ♂ > ♀ (3:1)
- Klinische Präsentation
- Häufige Konflikte von Jugendlichen mit ihren Eltern
- Nicht-Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten
- Vernachlässigung sozialer Kontakte
- Finanzielle Probleme
- Faktoren für erhöhtes Abhängigkeitspotenzial von Onlinespielen (Auszug) [14]
- Charakteristika von Belohnungselementen
- Soziale Interaktion
- Negative Konsequenzen bei Spielpausen
- Diagnostik: Screening
- Erwachsene: Internet Gaming Disorder Scale-Short-Form (IGDS9-SF), Gaming Disorder Test (GDT)
- Kinder und Jugendliche: Computerspielabhängigkeitsskala (CSAS), Gaming Disorder Scale (GADIS)
- Therapie: Siehe
Shoppingstörung (online und offline) [11]
- Epidemiologie [12]
- Punktprävalenz: 5%
- Erkrankungsbeginn: Adoleszenz/Junges Erwachsenenalter
- Geschlechterverteilung: ♀ > ♂ (2:1)
- Diagnostik: Screening
- Pathological Buying Screener (PBS)
- Compulsive Online Shopping Scale (COSS)
- Therapie: Siehe
Pornografie-Nutzungsstörung [11]
- Epidemiologie [12]
- Punktprävalenz: 2–3%
- Erkrankungsbeginn: Adoleszenz/Junges Erwachsenenalter
- Geschlechterverteilung: ♂ > ♀ (3:1)
- Diagnostik: Screening [11]
- Brief Pornography Screener (BPS)
- Problematic Pornography Consumption Scale (PPCS-6)
- Therapie: Siehe
Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung [11]
- Epidemiologie
- Geringe Evidenz
- Häufige Komorbidität insb. bei weibl. Personen
- Prävalenz: Ca. 5%
- Diagnostik: Screening
- Social Media Disorder Scale (SMDS) und
- Bei Kindern: Social Media Use Disorder Scale (SOMEDIS)
- Therapie: Siehe
Glücksspielstörung (online oder offline)
- Epidemiologie [12]
- Punktprävalenz: 0,1–5%
- Erkrankungsbeginn: Adoleszenz
- Geschlechterverteilung: ♂ > ♀ (2:1)
- Merkmale [9]
- Bevorzugung meist einer Glücksspielform
- Besonders gefährlich: Sportwetten, Spielen an gewerblichen Glücksspielautomaten
- Klinische Präsentation (nach DSM-5)
- Toleranzentwicklung: Es werden zunehmend steigende Geldbeträge aufgewendet
- Craving: Bei Stopp des Glücksspiels zeigen sich Symptome wie Rastlosigkeit und Nervosität
- Kontrollverlust: Es wurden mehrfach Versuche unternommen, das Glücksspiel zu kontrollieren, zu reduzieren oder ganz zu beenden
- Fokussierung: Starke gedankliche Beschäftigung mit dem Glücksspiel
- Stressverhalten: Vermehrtes Glücksspielen in Phasen starker emotionaler Belastung
- Kompensationsabsicht: Nach einem Glücksspiel mit hohem finanziellen Verlust folgt ein erneutes Glücksspiel am darauffolgenden Tag in der Absicht, das verlorene Geld zurückzugewinnen
- Lügen: Erfinden von Lügen, um das Glücksspielen zu verheimlichen oder zu verharmlosen
- Soziale und gesellschaftliche Schäden: Verlust sozialer Kontakte oder einer Arbeitsstelle infolge des Glücksspielens
- Verschuldung: Aufnahme von Schulden zur Weiterführung der Glücksspielsucht
- Für Informationen zur ICD-11 siehe: Merkmale von Verhaltenssüchten
- Therapie [12]
- Kognitive Verhaltenstherapie
- Motivierende Gesprächsführung
- Expositionstraining
- Feedbackinterventionen
- Paartherapie
-
Selbsthilfegruppen , Onlineberatungen und telefonische Beratungsangebote
- Informationen zu Beratungs- und Hilfsangeboten unter Tipps & Links
- Spielersperre
- Schuldnerberatung
- Sonderfall: Glücksspielsucht unter Parkinsonmedikation [15]
- Seltene Nebenwirkung unter Medikation mit hohen Dosen von Dopaminagonisten
- Vermutlich durch Überstimulation des mesolimbischen dopaminergen Belohnungssystems
- Auch Impulskontrollstörungen wie Hypersexualität und Kaufsucht wurden beschrieben
- Therapie: Ggf. Absetzen oder Umstellen der Parkinsonmedikation erwägen
AMBOSS-Podcast zum Thema
Drogen und Sucht: Neue Forschung, neue Medikamente (Juli 2024)
Opioidsubstitution: Wissen für Praxis, Station und Notaufnahme (März 2024)
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