Zusammenfassung
Bei Tic-Störungen leiden die Betroffenen v.a. unter unwillkürlichen, im gleichen Muster wiederkehrenden, unrhythmischen motorischen Bewegungen oder vokalen Äußerungen, die bis zu einem gewissen Grad unterdrückt werden können. Tic-Störungen werden zu den extrapyramidal-motorischen Hyperkinesien gezählt. Dabei wird zwischen einfachen und komplexen Tics unterschieden. Allgemein bekannt (wenn auch klinisch eher selten) sind die komplexen motorischen und vokalen Tics beim Gilles-de-la-Tourette-Syndrom. Die häufigste Form ist die vorübergehende Tic-Störung, die fast ausschließlich im Kindesalter auftritt, in den meisten Fällen spontan sistiert und daher i.d.R. nicht therapiebedürftig ist. Schwere und progrediente Verlaufsformen werden primär verhaltenstherapeutisch behandelt, medikamentös kommen Antipsychotika (bevorzugt Aripiprazol) zum Einsatz.
Epidemiologie
- Punktprävalenz [1]
- Vorübergehende Tic-Störung: 3–19%
- Chronische motorische Tic-Störung: 1,3–5%
- Tourette-Syndrom: 0,4–0,7%
- Geschlechterverteilung: ♂ > ♀ (3–4:1)
- Erkrankungsbeginn: Meist zwischen 4 und 6 Jahren
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Die Ursache der Tic-Störungen ist nicht hinreichend bekannt und am ehesten multifaktoriell bedingt. Dabei spielen u.a. genetische, neurobiologische und Umweltfaktoren eine Rolle. [1][2]
- Genetik: Familiäre Häufung
- Neurobiologie: Dysfunktion insb. dopaminerg modulierter Regelkreise im Bereich der Basalganglien und des Motorkortex
- Umweltfaktoren: Bspw. Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen
Symptomatik
Tic-Störungen können einen erheblichen Leidensdruck bei Betroffenen und deren Angehörigen auslösen.
Tic-Symptomatik
- Definition eines Tics: Unwillkürliche, rasche, wiederholte, unrhythmische Bewegung meist umschriebener Muskelgruppen oder eine Lautproduktion, die plötzlich einsetzt und keinem erkennbaren Zweck dient [3]
- Ausprägung
- Deutliche Variation möglich
- Meist überwiegen motorische und einfache Tics [3]
Einteilung der Tics nach Qualität und Komplexität (Beispiele) [1][2] | |||
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Einfach | Komplex | Besondere Phänomene (selten) | |
Motorische Tics |
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Vokale Tics/Phonetische Tics |
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Typische Merkmale [1][2]
- Krankheitsbeginn: Meist mit einfachen motorischen Tics des Kopf- und Schulterbereiches
- „Premonitory urge“: Vorgefühl vor dem Auftreten der Symptome [4][5][6]
- Symptomverlauf: Fluktuierend („waxing and waning“) [4]
- Tic-beeinflussende Faktoren
- Zunahme bei emotionaler Anspannung
- Abnahme bei Entspannung und Konzentration/Ablenkung
- Tourette-Syndrom
- Geschlecht: ♂ > ♀
- Klinik: Multiple motorische und vokale/phonetische Tics
- Typischer Verlauf
- Aggravation der Symptome während der Adoleszenz
- Persistenz ins Erwachsenenalter
- Siehe auch: Diagnostische Kriterien der kombinierten vokalen und multiplen motorischen Tics (Tourette-Syndrom) nach ICD-10
Diagnostik
Exploration [2][7]
Anamnese und klinische Beobachtung sind maßgeblich für die Diagnostik. [6]
- Psychiatrische Anamnese, inkl. [8]
- Fremdanamnese der Eltern bei Kindern
- Sozial- und Familienanamnese
- Medikamentenanamnese
- Gezielte Exploration
- Somatische Diagnostik
- Abklären von
Testpsychologische Verfahren [2]
Testpsychologische Verfahren spielen im klinischen Alltag eher eine untergeordnete Rolle. Häufig ist die Symptomatik eindeutig und eine weiterführende Diagnostik nicht notwendig. [1]
ICD-10
In der ICD-10-Klassifikation werden Tic-Störungen der Kategorie „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ zugeordnet.
Vorübergehende Tic-Störung (F95.0)
Diagnostische Kriterien der vorübergehenden Tic-Störung nach ICD-10 [9] | |
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A |
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B |
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C |
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D |
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Chronische motorische oder vokale Tic-Störung (F95.1)
Diagnostische Kriterien der chronischen motorischen oder vokalen Tic-Störung nach ICD-10 [9] | |
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A |
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B |
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C |
|
D |
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Kombinierte vokale und multiple motorische Tics (Tourette-Syndrom) (F95.2)
Diagnostische Kriterien der kombinierten vokalen und multiplen motorischen Tics (Tourette-Syndrom) nach ICD-10 [9] | |
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A |
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B | |
C |
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ICD-11
Komorbiditäten
Chronische Tic-Störungen treten häufig zusammen mit psychischen Komorbiditäten auf, insb. [1][2]
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnostisch sollten Erkrankungen mit hyperkinetischen „Tic-ähnlichen“ Symptomen abgegrenzt werden, bspw. [1]
- Funktionelle Tic-ähnliche Bewegungsstörungen (FTB)
- Chorea, bspw. Chorea minor bei rheumatischem Fieber
- Myoklonien [4]
- Stereotypien
- Zwangsstörungen [2][8]
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Differenzialdiagnose: Muskelzuckungen des Gesichts
Differenzialdiagnose: Muskelzuckungen des Gesichts | ||
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Erkrankung | Charakteristika | Therapie |
Blepharospasmus |
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Oromandibuläre Dystonie |
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Spasmus hemifacialis |
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Faziale Tic-Störung |
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Therapie
Ob eine Tic-Störung therapiebedürftig ist, hängt u.a. vom individuellen Leidensdruck und vorliegenden Komorbiditäten ab. Dabei unterscheidet sich die Behandlung von Kindern grundsätzlich nicht von der bei Erwachsenen. [1][8]
Allgemein
- Behandlungsziele
- Symptomreduktion
- Verbesserung der Lebensqualität
- Grundsätzliches Vorgehen [2]
- Therapie der Wahl: Verhaltenstherapie
- Bei fehlender Wirksamkeit, Verfügbarkeit oder Compliance : Zusätzliche oder alleinige Pharmakotherapie
- Ggf. primäre Behandlung komorbider Störungen in Erwägung ziehen
- Therapiedauer: Wenn möglich mind. über mehrere Monate [1]
- Therapie der Wahl: Verhaltenstherapie
- Bei Therapieresistenz [10]
- Bei Erwachsenen: Cannabis-basierte Medikamente [6]
- Tiefe Hirnstimulation
Psychotherapie [1][11]
- Psychoedukation [6]
- Informationen zu Selbsthilfegruppen unter Tipps & Links
- Verhaltenstherapie
- Habit Reversal Training , i.d.R. im Rahmen der Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT)
- Empfohlenes Alter: Ab 9 Jahren
- Komponenten: Bspw. Wahrnehmungstraining, Entspannungsübungen, Trainieren einer Alternativbewegung
- In Deutschland aktuell kaum verfügbar
- Alternativ: Expositionstraining (Exposure and Response Prevention)
- Habit Reversal Training , i.d.R. im Rahmen der Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT)
Medikamentöse Therapie [1]
Tic-Störungen werden zu den extrapyramidal-motorischen Hyperkinesien gezählt. I.d.R. liegt ein Dopaminüberschuss in den Basalganglien vor, sodass die Therapieansätze häufig auf einen Dopaminantagonismus abzielen.
Antipsychotika [6][8][12]
Das einzige bisher in Deutschland zugelassene Medikament ist das typische Antipsychotikum Haloperidol (ab 10 Jahren). Es wird jedoch aufgrund seines hohen Nebenwirkungsprofils nicht mehr empfohlen. Die Gabe aller nachfolgend aufgeführten Antipsychotika erfolgt als Off-Label Use:
- Allgemeine Dosierungsempfehlung: Niedrige Einstiegsdosis, langsame Steigerung („Start low, go slow“)
- Substanzen
- Mittel der 1. Wahl
- Aripiprazol [6]
- Bei Kindern alternativ: Tiaprid
- Alternativ: Bei Kindern und Erwachsenen
- Risperidon
- Sulpirid (insb. bei komorbider Zwangsstörung)
- Mittel der 1. Wahl
Weitere Substanzen
- Bei komorbider ADHS: Methylphenidat, Clonidin
- Bei einzelnen motorischen Tics : Botulinumtoxin-Injektion
Prognose
- Verlauf [2]
- Maximale Symptomausprägung: I.d.R. zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr [1]
- Häufig Voll- oder Teilremission zum 20. Lebensjahr hin
- Spontanremissionsraten [2]
- Chronische motorische oder vokale Tic-Störung: 50–70%
- Tourette-Syndrom: 3–40%
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- F95.-: Ticstörungen
- Syndrome, bei denen das vorwiegende Symptom ein Tic ist. Ein Tic ist eine unwillkürliche, rasche, wiederholte, nichtrhythmische Bewegung meist umschriebener Muskelgruppen oder eine Lautproduktion, die plötzlich einsetzt und keinem erkennbaren Zweck dient. Normalerweise werden Tics als nicht willkürlich beeinflussbar erlebt, sie können jedoch meist für unterschiedlich lange Zeiträume unterdrückt werden. Belastungen können sie verstärken, während des Schlafens verschwinden sie. Häufige einfache motorische Tics sind Blinzeln, Kopfwerfen, Schulterzucken und Grimassieren. Häufige einfache vokale Tics sind z.B. Räuspern, Bellen, Schnüffeln und Zischen. Komplexe Tics sind Sich-selbst-schlagen sowie Springen und Hüpfen. Komplexe vokale Tics sind die Wiederholung bestimmter Wörter und manchmal der Gebrauch sozial unangebrachter, oft obszöner Wörter (Koprolalie) und die Wiederholung eigener Laute oder Wörter (Palilalie).
- F95.0: Vorübergehende Ticstörung
- F95.1: Chronische motorische oder vokale Ticstörung
- Sie erfüllt die allgemeinen Kriterien für eine Ticstörung, wobei motorische oder vokale Tics, jedoch nicht beide zugleich, einzeln, meist jedoch multipel, auftreten und länger als ein Jahr andauern.
- F95.2: Kombinierte vokale und multiple motorische Tics [Tourette-Syndrom]
- Eine Form der Ticstörung, bei der gegenwärtig oder in der Vergangenheit multiple motorische Tics und ein oder mehrere vokale Tics vorgekommen sind, die aber nicht notwendigerweise gleichzeitig auftreten müssen. Die Störung verschlechtert sich meist während der Adoleszenz und neigt dazu, bis in das Erwachsenenalter anzuhalten. Die vokalen Tics sind häufig multipel mit explosiven repetitiven Vokalisationen, Räuspern und Grunzen und Gebrauch von obszönen Wörtern oder Phrasen. Manchmal besteht eine begleitende gestische Echopraxie, die ebenfalls obszöner Natur sein kann (Kopropraxie).
- F95.8: Sonstige Ticstörungen
- F95.9: Ticstörung, nicht näher bezeichnet
- Tic o.n.A.
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.