Zusammenfassung
Zwangsstörungen präsentieren sich meist als eine Kombination aus Zwangsgedanken (Vorstellungen, Ideen) und Zwangshandlungen. Sie drängen sich Betroffenen wiederholt innerlich auf und werden i.d.R. als unsinnig und unangenehm erlebt. Es gelingt jedoch meist nicht, Widerstand zu leisten, was zu einem hohen Leidensdruck und starker Alltagsbeeinträchtigung führen kann. Ursächlich scheinen sowohl biologische (Neurobiologie, Genetik) als auch psychosoziale Aspekte relevant zu sein. Zur Diagnosestellung nach ICD-10 müssen Zwangsgedanken und/oder -handlungen an den meisten Tagen während mind. 2 Wochen vorhanden sein. Die Komorbidität mit anderen psychiatrischen Störungen ist hoch, insb. Angststörungen und Depressionen. Therapeutisch stehen mit Psychotherapie (insb. Expositionstraining) und medikamentöser Behandlung (insb. SSRI) wirksame Mittel zur Verfügung. Ohne Behandlung verlaufen Zwangsstörungen meist chronisch.
Epidemiologie
- Lebenszeitprävalenz: Ca. 2–3% [1]
- Alters- und Geschlechterverteilung [2]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Wie bei den meisten psychiatrischen Erkrankungen wird bei den Zwangsstörungen eine multifaktorielle Genese angenommen. [1][2]
- Genetik
- Familiäre Häufung
- 4–6× höheres Risiko bei Verwandten 1. Grades
- Neurobiologie
- Dysbalance der Regelschleife zwischen Frontalhirn, limbischem System und Basalganglien
- Reduzierte Inhibition des Thalamus
- Informationsfilterung durch Basalganglien reduziert
- Hypermetabolismus im orbitofrontalen Kortex und Ncl. caudatus [2][3]
- Störung von Neurotransmittersystemen (insb. Serotonin) [3]
- Autoimmune ZNS-Prozesse
- Dysbalance der Regelschleife zwischen Frontalhirn, limbischem System und Basalganglien
- Kognitive Prozesse
- Zwei-Faktoren-Modell nach Mowrer
- Kognitive Modelle: Negative Bewertung eigener (Zwangs‑)Gedanken führt zu
- Negativen Gefühlen (insb. Angst)
- Größerer Bedeutung der Gedanken
- Bedürfnis nach rascher Beendigung des unangenehmen Zustands durch meist dysfunktionale Strategien
- Psychodynamische Modelle der Symptomentstehung, u.a.
- Stark ausgeprägtes Über-Ich
- Zwänge als Ergebnis eines psychologischen Abwehrmechanismus
Symptomatik
Symptome und Einteilung [1][2][4]
Meist treten Zwangsgedanken und -handlungen in Kombination bzw. gemischt auf (ICD-10: F42.2).
- Allgemein
- Rezidivierend auftretende Zwangsgedanken und/oder -handlungen über mind. 2 Wochen
- Gedanken/Handlungen werden i.d.R. als unsinnig erlebt
- Widerstand führt zu Angstentwicklung und bleibt i.d.R. erfolglos
- Oftmals starke Beeinträchtigung des sozialen und beruflichen Alltags
- Häufig Vermeidungsverhalten
- Oft Verheimlichung der Zwangssymptome, da sich viele Betroffene für ihre Gedanken oder Verhaltensweisen schämen
- Zwangsgedanken: Vorstellungen, Ideen (engl: „obsessions“)
- Einordnung als eigene Gedanken
- Meist quälender Charakter
- Beispielhafte Ausprägungen
- Kontamination: Gedanken an Schmutz und Infektion
- Pathologischer Zweifel: Gedanken in Bezug auf eigenes Handeln
- Ordnung: Gedanken an Symmetrie und Struktur
- Magie: Gedanken an Konsequenzen des eigenen Denkens und Handelns
- Unterform: Zwangsimpulse
- Sich aufdrängende Handlungsimpulse
- Oft angstauslösend und als unsinnig bewertet
- Werden in aller Regel nicht ausgeführt
- Zwangshandlungen: Von außen sichtbare oder rein kognitive Handlungen (engl: „compulsions“) [3]
- Meist Folge von Zwangsgedanken oder zielen auf Vollständigkeitserleben ab [3][5]
- Repetitive, meist sicherheitsgebende und oft ritualisierte Handlungen gegen inneren Widerstand
- Ausführung wird nicht als angenehm empfunden
- Häufige Ausprägungen
- Waschzwang
- Kontrollzwang
- Ordnungszwang
- Zählzwang
Häufige psychiatrische Komorbiditäten [1][2]
Diagnostik
Exploration [2][6]
Viele Betroffene verheimlichen Zwangssymptome, da sie sich für ihre Gedanken oder Verhaltensweisen schämen. Eine empathische und gezielte Exploration ist daher besonders wichtig.
- Allgemeine Exploration
- Diagnostisches Gespräch in der Psychiatrie
- Psychiatrische Anamnese inkl. Medikamentenanamnese
- Screening: Zohar-Fineberg Obsessive Compulsive Screen (ZF-OCS) [6]
- Spezifität niedrig
- Positives Screening, wenn mind. 1 der folgenden Fragen bejaht und eine Beeinträchtigung im Alltag angegeben wird
- „Waschen und putzen Sie sehr viel?“
- „Kontrollieren Sie sehr viel?“
- „Haben Sie quälende Gedanken, die Sie loswerden möchten, aber nicht können?“
- „Brauchen Sie für Alltagstätigkeiten sehr lange?“
- „Machen Sie sich Gedanken um Ordnung und Symmetrie?“
- Diagnostische Kriterien einer Zwangsstörung nach ICD-10 prüfen
- Inkl. Erfassung der Auswirkungen auf Lebensqualität, Alltag, berufliche und soziale Teilhabe
Somatische Diagnostik [6]
Die somatische Diagnostik dient primär dem Ausschluss einer organischen Ursache für die Zwangssymptomatik, was jedoch insg. eher selten vorliegt.
- Immer bei Erstmanifestation
- Zusätzlich bei später Erstmanifestation (>50 Jahre): Hirnorganische Abklärung
- Kranielle Bildgebung (CT oder MRT)
- Neuropsychologisches Screening
- Bei V.a. kognitive Defizite: Ausführliche Testung (siehe auch: Psychologische Leistungsdiagnostik)
Testpsychologische Verfahren [2][5][6]
Diese eignen sich zur Schweregradbestimmung und Verlaufsbeurteilung.
- Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (Y-BOCS) [2][3]
- Goldstandard
- Zweiteilig: Symptom-Checkliste und halbstrukturiertes Interview zur Schweregradeinschätzung
- Zeitaufwand i.d.R. 30–60 min
- Auch als Selbstrating möglich
- Hamburger Zwangsinventar-Kurzform (HZI-K)
- Selbstrating mit 72 Items
- Zeitaufwand i.d.R. 15–30 min
- Obsessive Compulsive Inventory-Revised (OCI-R)
- Selbstrating mit 18 Items
- Geringer Zeitaufwand
ICD-10
Diagnostische Kriterien einer Zwangsstörung nach ICD-10 [4] | |
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B |
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C |
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D |
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Differenzierungen |
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ICD-11
- Wesentliche Änderungen, u.a. [7]
- Zusammen mit den Zwangsspektrumsstörungen in der Kategorie „Zwangsstörung und verwandte Störungen“ gelistet
- Klinische Subtypen entfallen
- Einteilung nach Krankheitseinsicht
- Mittelmäßig bis gut / schlecht bis fehlend
- Mehr Informationen zur ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) unter: Tipps & Links
Zwangsspektrumsstörungen
In der ICD-11 werden die Zwangsstörungen zusammen mit den Zwangsspektrumsstörungen in der Kategorie „Zwangsstörung und verwandte Störungen“ aufgeführt. [7]
- Merkmale
- Repetitive, zwanghafte Verhaltensweisen/Phänomene (inkl. Gedanken)
- Ätiologisch miteinander verwandt
- Zugehörige Störungsbilder, u.a.
Differenzialdiagnosen
Psychiatrische Differenzialdiagnosen [1][3]
Zahlreiche psychiatrische Erkrankungen zeigen zwangsähnliche Merkmale, weshalb ein Blick auf die unterscheidenden Merkmale wichtig ist. Im Folgenden werden einige wichtige Erkrankungen aufgeführt.
- Angststörung
- Zwanghafte Persönlichkeitsstörung
- Psychotische Erkrankung (bspw. Schizophrenie)
- Depression
Somatische Differenzialdiagnosen [1][3]
- Substanznebenwirkung (bspw. Clozapin, Amphetamin)
- Neuropsychiatrische Störung (bspw. Tourette-Syndrom)
- Erkrankung mit Basalganglienschädigung (bspw. Chorea minor, Nekrose des Ncl. pallidus)
- Strukturelle Hirnschädigung (bspw. Raumforderung im ZNS, Z.n. Schädel-Hirn-Trauma)
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Überblick [1]
Therapieoptionen
- 1. Wahl: Kognitive Verhaltenstherapie (Expositionstraining mit Reaktionsverhinderung)
-
Kombination mit Medikation möglich
- Bevorzugt SSRI (z.B. Sertralin, Paroxetin, Fluvoxamin)
- Insb. vorteilhaft bei
- Überwiegen von Zwangsgedanken
- Komorbidität mit Depression
-
Kombination mit Medikation möglich
- 2. Wahl: Medikamentöse Monotherapie, nur indiziert
Bei der Behandlung von Zwangsstörungen ist Kognitive Verhaltenstherapie mit Expositionstraining die Therapie der 1. Wahl!
Setting [6]
Zwangssymptome zeigen sich i.d.R. besonders stark im häuslichen Umfeld. Es ist daher wichtig, die Symptome auch dort zu bewältigen.
- Ambulant: 1. Wahl, wenn möglich und verfügbar
- Stationär: Wenn ≥1 der folgenden Kriterien zutreffen
- Fehlende Verfügbarkeit oder unzureichende Wirksamkeit der ambulanten Behandlung
- Ambulante Behandlung nicht möglich oder deutlich erschwert aufgrund
- Der Schwere der Symptomatik
- Vorliegender Komorbiditäten (psychisch oder somatisch)
- Lebensgefahr, bspw. durch akute Suizidalität
- Ausgeprägte Verwahrlosung oder Vernachlässigung
- Alltagsbewältigung unmöglich
- Ausgeprägter Leidensdruck sowie starke Einbußen der psychosozialen Funktionsfähigkeit
- Krankheitsförderndes Umfeld
- Aufsuchende Behandlung (sog. Home-Treatment): Bei schwerer Symptomausprägung, insb. mit Einbußen der beruflichen und sozialen Teilhabe
- Hohe Behandlungsintensität (wie bei stationärer Behandlung)
- Vorteil: U.a. verbesserter Einbezug des persönlichen Umfeldes möglich
Psychotherapie bei Zwangsstörungen [1][2][3]
Vorbereitung und Behandlungsplanung
Das zentrale Element der psychotherapeutischen Behandlung ist das Expositionstraining mit Reaktionsverhinderung. Für eine erfolgreiche Behandlung ist eine gute Vorbereitung wichtig.
- Vorliegen psychiatrischer Komorbiditäten abklären [6]
- Relevanz für anstehende KVT einschätzen
- Ggf. Behandlung der Komorbidität der KVT voranstellen
- Therapeutische Beziehung aufbauen
- Vertrauensvolle Atmosphäre schaffen
- Nicht rückversichern
- Therapiemotivation klären
- Therapieziele klären
- Symptombezogene Ziele: Neue Standards festlegen
- Allgemeinere Ziele: Insb. Bearbeitung von Themen, die symptomaufrechterhaltend wirken (bspw. Stressmanagement)
- Genaue Betrachtung der Zwangssymptomatik
- Psychoedukation (wenn möglich: Enge Bezugspersonen einbeziehen) ) [6]
- Modell der Symptomentstehung erarbeiten
- Zwangshierarchie erstellen
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit Expositionstraining und Reaktionsverhinderung bzw. -management
- Mögliches Behandlungssetting [6]
- Einzeltherapie
- Gruppentherapie, insb. wenn Einzeltherapie nicht verfügbar ist
- Internetbasierte Intervention, insb. wenn zeitnahe Behandlung nicht verfügbar ist
- Vorgehen [6]
- I.d.R. graduierte Konfrontation (für allgemeine Informationen hierzu siehe: Expositionstraining)
- Beginn i.d.R. mit einem mittelschweren Stimulus (gemäß aufgestellter Zwangshierarchie)
- Zunächst durch Therapeut:in begleitet
- Wenn möglich: Hochfrequente Exposition (an aufeinanderfolgenden Tagen)
- Expositionen auch im häuslichen bzw. zwangsprovozierenden Umfeld durchführen
- Adhärenz regelmäßig prüfen und ggf. fördern
- Fortführung bis zur Remission (Y-BOCS ≤12) und Verbesserung der Lebensqualität
- Rückfallprophylaxe planen
- Therapieeffekte
- Response in ca. 60–80% der Fälle [2][3]
- Mittlere bis hohe Effektstärken
- Langanhaltende Symptombesserung möglich
- Beste Wirksamkeit bei
- Intensiven (mehrstündigen) Expositionen außerhalb der Praxisräume/Klinik
- Stationärer Behandlung
- Sonderfall: Reine Zwangsgedanken
- Exposition bspw. durch wiederholtes Hören selbst aufgenommener Zwangsgedanken
- Wirksamkeit der Exposition geringer
- Kombination aus KVT und SSRI empfohlen
Wenn möglich sollte das Expositionstraining als Blockexposition (an aufeinanderfolgenden Tagen) erfolgen! [6]
Prognostische Faktoren für die Wirksamkeit einer KVT bei Zwangsstörungen [2] | |
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Positive Prädiktoren (Auswahl) | Negative Prädiktoren (Auswahl) |
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Weitere Verfahren [1]
- Entspannungsverfahren
- Kognitive Methoden
- Verhaltenstherapeutische Verfahren der dritten Welle [6]
- Metakognitive Therapie nach Wells
- Akzeptanz- und Commitment-Therapie
- Mindfulness-based Cognitive Therapy (bei unzureichender Wirkung von KVT) [6]
Medikamentöse Therapie bei Zwangsstörungen [1][2][3]
Pharmakotherapie ist nicht das Mittel der 1. Wahl zur Behandlung von Zwangsstörungen. Eine Indikation besteht in ausgewählten Fällen, bspw. bei komorbider Depression. In erster Linie werden Antidepressiva eingesetzt.
- Wann immer möglich: In Kombination mit Psychotherapie
- Wichtig: Aufklärung über allgemeine Nebenwirkungen von Antidepressiva
- Bei Therapieerfolg: Erhaltungsbehandlung über 1–2 Jahre
- Am Ende der Erhaltungsbehandlung: Langsam Ausschleichen
Mögliche Substanzen
- 1. Wahl: SSRI
- 2. Wahl
- Clomipramin [8]
- Venlafaxin (Off-Label Use) [1]
SSRI bei Zwangsstörungen [3]
- Besonderheiten für Einsatz bei Zwangsstörungen
- Längere Wirklatenz: Wirkeintritt i.d.R. nicht vor der 5. Behandlungswoche
- I.d.R. höhere Dosis notwendig als bei Depressionsbehandlung [6]
- Wirkmaximum i.d.R. nach 8–12 Wochen
- Geeignete Substanzen
- Escitalopram [3][9]
- Sertralin [2][10]
- Fluoxetin [2][11]
- Paroxetin [2][12]
- Fluvoxamin [2][13]
- Citalopram (Off-Label Use) [2][3]
- Therapieeffekte bei Monotherapie mit SSRI
- Responserate: Ca. 60%
- Durchschnittliche Besserung (gemessen an Y-BOCS): 20–40% [2]
- I.d.R. nicht anhaltend nach Absetzen der Medikation
Medikamentöse Optionen bei unzureichender Response auf SSRI [2][3]
Die Beurteilung von Therapieerfolg anhand der Y-BOCS-Reduktion ist in der Literatur teils uneinheitlich definiert. Bessert sich die Y-BOCS jedoch um weniger als 25%, liegt kein Therapieerfolg vor. Mögliche Ursachen (bspw. zu niedriger Plasmaspiegel) sollten dann überprüft und die Therapie angepasst werden. [6]
- Dosiserhöhung des SSRI: Auch über den empfohlenen Bereich hinaus (Off-Label!)
- Bei niedrigen Plasmaspiegeln
- Bei leichter Symptombesserung und gleichzeitig guter Verträglichkeit
- Umstellung auf anderes SSRI oder Clomipramin
- Kombinationsbehandlung (Interaktionsrisiken beachten, insb. serotonerges Syndrom)
- SSRI und Clomipramin [2]
- Augmentation: SSRI/Clomipramin und atypisches Antipsychotikum (Off-Label Use) [6]
Weitere Therapieverfahren
- Sport [2]
- Insb. Ausdauertraining sinnvoll
- Kein nachgewiesener Effekt auf Zwangsgedanken
- Tiefe Hirnstimulation [2]
- Behandlungsoption bei schwerster Symptomausprägung und Therapieresistenz
- Symptombesserung in ca. 40–60% der Fälle
- Stimulationsort: Oft vordere Capsula interna beidseits
- Repetitive transkranielle Magnetstimulation [6]
- Zur kurzfristigen Symptomreduktion, wenn Therapieoptionen der 1. Wahl keine ausreichende Response erzielen
- Wirksamste Stimulationsart (anhand bisheriger Daten): Niederfrequenzstimulation des dorsolateralen Präfrontalkortex (links)
Prognose und Verlauf
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
F42.-: Zwangsstörung
- Inklusive: Anankastische Neurose, Zwangsneurose
- Exklusive: Zwangspersönlichkeit(sstörung) (F60.5)
- F42.0: Vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang
- F42.1: Vorwiegend Zwangshandlungen [Zwangsrituale]
- F42.2: Zwangsgedanken und -handlungen, gemischt
- F42.8: Sonstige Zwangsstörungen
- F42.9: Zwangsstörung, nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.