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Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten

Letzte Aktualisierung: 1.11.2024

Zusammenfassungtoggle arrow icon

Als nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten gilt die vorsätzliche und bewusste, repetitive Schädigung des eigenen Körpers. Selbstverletzendes Verhalten tritt nicht nur im Rahmen einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung auf, sondern kann Ausdruck einer Vielzahl unterschiedlicher psychischer Erkrankungen bzw. psychopathologischer Phänomene sein. Ebenso unterschiedlich sind auch die Funktionen, die das selbstverletzende Verhalten erfüllt (bspw. Abbau unangenehmer Gefühle/Anspannungszustände oder Hilfsappell). In der diagnostischen Abklärung ist neben einer gezielten und ausführlichen Exploration die Abklärung und Abgrenzung von Suizidalität entscheidend. Die Behandlung richtet sich i.d.R. nach der zugrunde liegenden psychischen Erkrankung, wobei es keine spezifische medikamentöse Therapie gibt, sondern primär psychotherapeutische Elemente zum Einsatz kommen.

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Definitiontoggle arrow icon

  • Direkte und bewusste, repetitive Schädigung des eigenen Körpers [1]
    • Sozial nicht akzeptierte Methode der Selbstverletzung [2]
    • Keine Suizidabsicht [2]
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Epidemiologietoggle arrow icon

  • Alter: Beginn typischerweise im 13./14. Lebensjahr [1]
  • Geschlecht: > [1]
  • Prävalenz im Kindes- und Jugendalter [1]
    • Bei psychisch Gesunden: Ca. 17%
    • Bei psychisch Erkrankten: Ca. 42%
  • Prävalenz im Erwachsenenalter
    • Bei psychisch Gesunden: Ca. 3%
    • Bei psychisch Erkrankten: Ca. 26%

Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.

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Ätiologietoggle arrow icon

Risikofaktoren für NSSV [1][3][4]

  • Alter und Geschlecht
    • Weibliches Geschlecht
    • Jugendalter
  • Psychische Erkrankungen
  • Soziodemografische Faktoren
    • Selbstverletzendes Verhalten in Familie und/oder Freundeskreis
    • Familiäre Verhältnisse
      • Überkritischer Erziehungsstil
      • Ausgeprägte innerfamiliäre negative Emotionalität
      • Schlechte Eltern-Kind-Beziehung
    • Arbeitslosigkeit
    • Fehlende Partnerschaft
  • Biografische Faktoren
    • Psychische Erkrankung der Eltern
    • Gesundheitliche Probleme in der Familie
    • Trennung der Eltern
    • Häufige Wechsel der Familienmitglieder
    • Physische und psychische Vernachlässigung/Misshandlung
    • Sexueller Missbrauch
    • Traumatische Erlebnisse
  • Psychopathologische Risikofaktoren
    • Drogenkonsum
    • Niedriges Selbstwertgefühl
    • Angstsymptome
    • Depressive Symptome
    • Aggressivität
    • Impulsivität
    • Feindseligkeit
    • Hoffnungslosigkeit
    • Dissoziatives Erleben

Neurobiologische Ursachen [4]

Ätiologische Erklärungsmodelle

Funktion von NSSV auf Verhaltensebene [1][5]

Auf der Verhaltensebene erfüllt selbstverletzendes Verhalten mehrere unterschiedliche Funktionen, die sich je nach zugrunde liegender Ursache / psychiatrischer Erkrankung unterscheiden können. Dazu zählen bspw.

  • Emotionsregulation/Spannungsabbau (insb. bei affektiver Dysregulation)
  • Selbstbestrafung
  • Wiedererlangen von Kontrolle, bspw. zum Abbau dissoziativer Symptome (Anti-Dissoziation)
  • Vermeidung von Suizid
  • Hilfsappell an die Umwelt (soziale Manipulation)
  • Erzeugen positiver Gefühle
  • Soziale Individualisierung
  • Lernen am Modell [6]

4-Funktionen-Modell nach Nock [7]

Nach Nock entsteht selbstverletzendes Verhalten analog einem Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell. Verschiedene Risikofaktoren können zu intra- und interpersonellen Vulnerabilitätsfaktoren führen, die zu wiederkehrenden interpersonellen Schwierigkeiten und/oder einer Emotionsregulationsstörung führen können und damit das Auftreten von NSSV begünstigen.

  • 4 Funktionen von selbstverletzendem Verhalten
    • Automatische negative Verstärkung: Beendigung negativer intrapersoneller Zustände (bspw. als aversiv erlebte Emotionen)
    • Automatische positive Verstärkung: Sich selbst besser fühlen nach erfolgter Selbstverletzung
    • Soziale positive Verstärkung: Erhalten von Aufmerksamkeit oder anderen Ressourcen im interpersonellen Kontakt
    • Sozial negative Verstärkung: Vermeidung von als negativ empfundenen interpersonellen Situationen
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Symptomatiktoggle arrow icon

Selbstverletzungsmethoden (in absteigender Häufigkeit) [1]

  • Schneiden mit spitzem Gegenstand
  • Kratzen/Kneifen
  • Beißen
  • Stechen
  • Anschlagen der Extremitäten / Schlagen des eigenen Körpers
  • Störung/Verhinderung der Wundheilung
  • Verbrennen/Verbrühen
  • Haare ausreißen
  • Versuche, sich die Knochen zu brechen

Lokalisation der Selbstverletzung(en) (in absteigender Häufigkeit) [1]

Art der Selbstverletzung(en) [8]

  • Stereotype Selbstverletzung
    • Gleichförmige, wiederholte Selbstverletzungen (z.B. Beißen, Kopfanschlagen)
    • Meist bei Intelligenzminderung
  • Leichte bis mittelschwere Selbstverletzung
    • Oftmals zur Emotionsregulation (bspw. Abbau negativer Gefühle/Spannung)
    • Meist bei psychischen Grunderkrankungen
  • Schwere Selbstverletzung
    • Potenziell lebensbedrohliche Verletzungen (erfüllen nicht mehr die Definition des NSSV)
    • Bei Psychosen oder akuten Intoxikationen
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Diagnostisches Vorgehentoggle arrow icon

Anamnese und körperliche Untersuchung

Patient:innen, die sich selbst verletzen, befinden sich i.d.R. (ungeachtet der vorherrschenden Psychopathologie) in einem emotionalen Ausnahmezustand. Wichtig ist hier ein empathisches, beruhigendes und nicht-wertendes Auftreten.

Somatische Abklärung der Selbstverletzung

  • Inspektion der Verletzung
    • Ggf. somatische Weiterversorgung bspw. durch Chirurgie (je nach Schweregrad der Verletzung)
  • Hinweise auf selbstverletzendes Verhalten
    • Parallel verlaufende Schnittwunden
    • Verletzungen an leicht zugänglichen Körperstellen (z.B. Unterarme)
    • Verletzungen an der nicht-dominanten Körperhälfte
    • Fehlen von Verletzungen, die durch eine Abwehrhaltung verursacht sein könnten (bspw. als Folge eines Unfalls / einer Fremdeinwirkung)
  • Komplette körperliche Untersuchung

Abklärung von Suizidalität

Selbstverletzendes Verhalten muss stets durch eine gezielte Exploration von einem Suizidversuch abgegrenzt werden!

Weiterführende Anamnese bei selbstverletzendem Verhalten

  • Erhebung des psychopathologischen Befundes, inkl.
    • Beurteilung des Risikos zukünftiger Selbstverletzungen
    • Beurteilung der Absprachefähigkeit
  • Exploration der aktuellen Selbstverletzung
    • Motive, Ursachen, spezifische Auslöser
    • Empfinden, Gedanken und Verhalten vor der Selbstverletzung
      • Bestand vor der Selbstverletzung ein Zustand erhöhter Anspannung?
      • Bestanden vor der Selbstverletzung negative Gefühle (z.B. Wut oder Trauer)?
      • War die Selbstverletzung impulsiv oder geplant?
    • Empfinden, Gedanken und Verhalten nach der Selbstverletzung
      • Führte die Selbstverletzung zu einem Spannungsabbau / Besserung des Befindens?
      • Führte die Selbstverletzung zu einem Abbau negativer Gefühle oder bestanden nach der Selbstverletzung unangenehme Gefühle (z.B. Schuld oder Scham)?
      • Welche Handlung erfolgte nach der Selbstverletzung?
  • Vorgeschichte des selbstverletzenden Verhaltens
    • Alter bei Beginn des selbstverletzenden Verhaltens
    • Im weiteren Verlauf kontinuierliche oder intermittierende Selbstverletzung
    • Selbstverletzungsfreie Intervalle
    • Suizidale Impulse in der Vergangenheit und etwaiger Zusammenhang zu selbstverletzendem Verhalten
    • Häufigkeit und Schwere des selbstverletzenden Verhaltens in den letzten Monaten
    • Bisher erforderliche medizinische Interventionen / Komplikationen aufgrund der Selbstverletzungen
  • Weiteres
    • Verheimlichungstendenzen der Selbstverletzung gegenüber dem sozialen Umfeld
    • Kontrollvermögen über das selbstverletzende Verhalten, inkl. bereits erlernter alternativer Verhaltensweisen
    • Selbstverletzendes Verhalten im sozialen und familiären Umfeld
    • Veränderungs-/Behandlungswunsch
    • Vorerfahrungen in der Behandlung selbstverletzenden Verhaltens
  • Zu beachten
    • Genau nachfragen und (wenn möglich) offene Fragen stellen
    • Genaue Dokumentation zur (eigenen) rechtlichen Absicherung
    • Wenn möglich: Einholen einer Fremdanamnese zur Verifizierung der Patientenangaben

Fragebögen zur Erfassung selbstverletzenden Verhaltens (Auswahl)

Neben einer gezielten Anamnese können auch standardisierte Fragebögen zur Erfassung von selbstverletzendem Verhalten verwendet werden.

  • Deliberate Self-Harm Inventory (DSHI): 17 Items beinhaltender Screening-Fragebogen [9]
  • Self-Harm Inventory (SHI): Selbstbeurteilungsfragebogen [10]
  • Self-Harm Behavior Questionnaire (SHBQ): 32 Items beinhaltender Selbstbeurteilungsfragebogen [9]
  • Modifiziertes Ottawa/Ulm Selbstverletzungs-Inventar (MOUSI): 36 Items beinhaltender Selbstbeurteilungsbogen zur deskriptiven Erfassung von NSSV [1]
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Diagnosekriterientoggle arrow icon

In der ICD-11 und im DSM-5 existiert (anders als in der ICD-10) ein Vorschlag für eine eigenständige Diagnose des nicht-suizidalen selbstverletzenden Verhaltens (ICD-11-Kriterien (deutsche Entwurfsfassung) unter Tipps & Links). [4][11]

DSM-5 Kriterien für nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten

Kriterium

Inhalt
A
  • Selbstverletzendes Verhalten
    • An ≥5 Tagen im letzten Jahr
    • Führen zu Schmerzen, Blutergüssen und/oder Blutungen
    • Werden nicht in suizidaler Absicht ausgeführt
B
  • Das selbstverletzende Verhalten erfüllt mind. eine dieser Funktionen
    1. Emotionsregulation (Abbau negativer Gefühle/Emotionen)
    2. Lösung/Beseitigung zwischenmenschlicher Probleme
    3. Herbeiführen eines positiven Gefühlszustandes
C
  • (Unmittelbar) vor der Selbstverletzung
    • Zwischenmenschliche Schwierigkeiten oder negative Gefühle/Gedanken
    • Gedankliche Einengung auf die Selbstverletzung
  • Häufige Gedanken an Selbstverletzung, die jedoch nicht umgesetzt werden müssen
D
  • Das selbstverletzende Verhalten ist
    • Sozial nicht akzeptiert
    • Nicht Teil eines religiösen oder kulturellen Rituals
    • Nicht beschränkt auf Nägel kauen oder Schorf aufkratzen
E
  • Das selbstverletzende Verhalten (oder seine Konsequenzen) führen zu
    • Klinisch relevantem Stress/Leiden oder
    • Beeinträchtigung des alltäglichen Funktionsniveaus
F
  • Ausschlusskriterien
    • Ausschließliches Auftreten während bspw. Delir/Substanzintoxikation/Substanzentzug oder einer psychotischen Episode
    • Selbstverletzung als Teil repetitiver Stereotypien bei Störungen der mentalen/neuronalen Entwicklung
    • Auftreten in Kombination mit anderem Krankheitsbild / anderer Symptomatik (bspw. Autismus-Spektrum-Störung)
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Differenzialdiagnosentoggle arrow icon

  • Suizidversuch, Hinweise dafür sind u.a. [1]
    • Suizidintention der Selbstverletzung
    • Methode und Schweregrad der Selbstverletzung (z.B. Tablettenintoxikation, längs verlaufender Handgelenksschnitt)
    • Wissen der betroffenen Person über die Gefährlichkeit der Selbstschädigung
    • Funktion der Selbstschädigung
    • Erstmaliges Auftreten des selbstverletzenden Verhaltens, insb. bei volljährigen Patient:innen
  • Unfall/Fremdeinwirkung [1]
  • Essstörungen [1]
  • Artifizielle Störung [1]
  • Trichotillomanie [1]

AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

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Therapietoggle arrow icon

Allgemeine Aspekte [1][12]

Diese Aspekte zum Umgang mit selbstverletzendem Verhalten sind sowohl bei einer Behandlung im stationären als auch im ambulanten Setting zu beachten.

  • Bei Erstkontakt: Ausschluss einer möglichen vitalen Bedrohung durch die Selbstverletzung (siehe hierzu auch: Diagnostik bei selbstverletzendem Verhalten, Weiterführende Anamnese bei selbstverletzendem Verhalten)
    • Rücksprache mit erfahrenem fachärztlichen Personal der Psychiatrie und Psychotherapie
  • Aufbau einer therapeutischen Beziehung
    • Offener und direkter Umgang mit dem Thema NSSV
    • Fürsorglicher Umgang mit der zu behandelnden Person
    • Anerkennen der Selbstverletzung als Ausdruck eines hohen Leidensdrucks
    • Keine wertenden Kommentare bzgl. der Selbstverletzung
  • Therapieplanung: In Abhängigkeit der individuellen Befunde
    • Treffen klarer Absprachen, Regeln und Rahmenbedingungen
      • Ggf. Aufsetzen eines Behandlungsvertrages
      • Erstellen eines Krisenplans
    • Individueller Behandlungsplan
      • NSSV im Vordergrund → Behandlung mit Fokus auf NSSV
      • NSSV im Rahmen einer psychischen Grunderkrankung → Primär Behandlung der psychischen Grunderkrankung
    • Förderung der Behandlungsmotivation

Wahl des Behandlungssettings

Voraussetzungen für eine ambulante Therapie

  • Glaubhafte und tragfähige Distanzierung von Suizidalität
  • Erhaltene Absprachefähigkeit
  • Keine schweren Selbstverletzungen
  • Stabiles und unterstützendes soziales Umfeld

Indikationen zur stationären Aufnahme

  • Suizidalität
  • Fehlende Absprachefähigkeit
  • Schwere komorbide psychische Erkrankung
  • Schwere und häufige Selbstverletzungen
  • Fehlende Kontrolle über das selbstverletzende Verhalten
  • Erfolglose ambulante Behandlung
  • Destabilisierende soziale Einflussfaktoren

Psychotherapeutische Maßnahmen [13][14]

Allgemeines Vorgehen

  • Psychoedukation
  • Analyse der Funktion des NSSV sowie dessen auslösende und aufrechterhaltende Faktoren
  • Entwicklung alternativer Verhaltensweisen
  • Entwicklung von Problem- und Konfliktlösungsstrategien
  • Unterstützung von Abstinenz
  • Unterstützung des sozialen Umfelds
  • Schlafhygiene

Psychotherapeutische Interventionen

Folgende psychotherapeutische Interventionen gelten bei der Behandlung von selbstverletzendem Verhalten als wirksam.

Vorgehen bei Borderline-Persönlichkeitsstörung [15][16]

Selbstverletzendes Verhalten als Folge einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ist i.d.R. ein wiederkehrendes Verhaltensmuster im Sinne eines Symptoms dieser Persönlichkeitsstörung und bedarf deswegen eines gesonderten therapeutischen Vorgehens.

Medikamentöse Therapie

Es gibt keine spezifische medikamentöse Therapie zur Behandlung von NSSV. Diese richtet sich primär nach der zugrunde liegenden psychischen Erkrankung.

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