Zusammenfassung
Die Wirbelsäule bildet das Achsenskelett des menschlichen Körpers und garantiert Stabilität bei sehr hoher Beweglichkeit. Aufgrund ihrer wichtigen Funktionen ist die Wirbelsäule allerdings auch von vielen Verschleißerscheinungen betroffen: Bis zum 50. Lebensjahr haben mehr als 70% der Deutschen schon Erfahrungen mit Rückenbeschwerden gemacht, Wirbelsäulenerkrankungen führen zu etwa 20% aller krankheitsbedingten Arbeitsausfälle in Deutschland und die Diagnose „Rückenschmerz“ ist führend in den Morbiditätsstatistiken. Im klinischen Alltag ist es deshalb besonders wichtig, Wirbelsäulenbeschwerden differenzialdiagnostisch untersuchen zu können.
In diesem Kapitel werden neben anatomischen und funktionellen Grundlagen der Wirbelsäule die wichtigsten klinischen Untersuchungen und Tests für deren einzelne Abschnitte detailliert und mithilfe von Fotos, Illustrationen sowie Lehrvideos erläutert.
Anatomische und funktionelle Grundlagen
Bauelemente und Aufbau der Wirbelsäule (Columna vertebralis)
- Wirbel (Vertebrae)
- Unterteilung (von kranial nach kaudal)
- 7 Halswirbel (Vertebrae cervicales, HWS = Halswirbelsäule, HWK = Halswirbelkörper )
- 12 Brustwirbel (Vertebrae thoracales, BWS = Brustwirbelsäule, BWK = Brustwirbelkörper )
- 5 Lendenwirbel (Vertebrae lumbales, LWS = Lendenwirbelsäule, LWK = Lendenwirbelkörper )
- 5 Sakralwirbel (Vertebrae sacrales, SWS = Sakralwirbelsäule, SWK = Sakralwirbelkörper)
- 3–5 rudimentäre Steißwirbel (Vertebrae coccygeales)
- Aufbau
- Wirbelkörper (Corpus vertebrae)
- Wirbelbogen (Arcus vertebrae): Besteht aus Bogenplatte (Lamina arcus vertebrae) und Bogenwurzel (Pediculus arcus vertebrae)
- Dornfortsatz (Processus spinosus) und Querfortsatz (Processus transversus)
- Oberer und unterer Gelenkfortsatz (Processus articularis superior und Processus articularis inferior)
- Wirbelloch (Foramen vertebrale)
- Unterteilung (von kranial nach kaudal)
- Zwischenwirbelscheiben (syn.: Bandscheiben, Disci intervertebrales)
- Aufbau
- Bandapparat (von ventral nach dorsal)
- Form: Doppelte S-Form zur Bewegungsdämpfung und Unterstützung einer ausbalancierten, aufrechten Körperhaltung. Sie wird durch folgende nach vorne konvexe (Lordose) und konkave (Kyphose) Krümmungen der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte erreicht:
- Halslordose
- Brustkyphose
- Lendenlordose
- Sakralkyphose
Anamnese
- Beschreibung der Beschwerden
- Allgemeine Schmerzanamnese
- Bewegungseinschränkungen
- Schmerzauslöser, z.B.:
- Schmerzen bei Reklination → Hinweis auf Spondylarthrose
- Schmerzen bei Husten oder Niesen → Hinweis auf Spinalkanalstenose
- Starke nächtliche Schmerzen → Hinweis auf Tumor oder Infektion
- Ausstrahlung
- Dermatombezogener Schmerz (Radikulärer Schmerz) → Hinweis auf Wurzelkompressionssyndrom
- Kein Dermatombezug (Lokaler Schmerz) → Ggf. aus umschriebenem Prozess (z.B. Trauma, Tumor oder Entzündungen)
- Begleitsymptome, z.B.:
- Sensibilitäts- oder Motorikstörungen → Hinweis auf Wurzelkompressionssyndrom
- Miktionsstörungen, Defäkationsstörungen, Reithosenanästhesie → Hinweis auf Kaudasyndrom oder Konussyndrom
- Sozial- und Berufsanamnese
- Wirbelsäulenbelastende berufliche Tätigkeiten?
- Art und Umfang sportlicher Aktivitäten?
- Psychische Anamnese: Häufig führt psychische Belastung zur Somatisierung in den Bereich des Rückens und der Wirbelsäule
- Eigenanamnese
- Bisherige Therapie der Beschwerden?
- Vorerkrankungen allgemein und bzgl. des Gelenks?
- Für weitere Details und mögliche Ursachen von Beschwerden der Wirbelsäule siehe: Differenzialdiagnose Kreuzschmerzen
Inspektion, Palpation und Perkussion
Halswirbelsäule
Inspektion
- Von ventral/dorsal
- Kopfstellung
- Kopfneigung
- Processus spinosi
- Physiologisch: Kein Abweichen von der Mittellinie
- Pathologisch: Abweichen von der Mittellinie (bspw. bei Skoliose)
- Beurteilung der Reliefs von M. sternocleidomastoideus und M. trapezius
- Von lateral
Palpation
- Knochen
- Processus spinosi
- Mastoid
- Kiefergelenk
- Muskeln
- Paravertebrale Muskulatur, Relief des M. sternocleidomastoideus und des M. trapezius
Perkussion
- Proccessus spinosi
- Umschriebene Schmerzen → Häufig im Rahmen von Pathologien der Muskeln und/oder Bänder
- Diffuse Schmerzen → Hinweis auf Tumor oder osteoporotische Ursachen
- Ausstrahlende Schmerzen → Typisch für radikuläre Syndrome
Brust- und Lendenwirbelsäule
Inspektion
- Von dorsal
- Form und Verlauf der Wirbelsäule
- Konfiguration des Brustkorbs
- Schulter- und Beckenstand
- Hautrelief des Rückens
- Tannenbaumphänomen → Hinweis auf osteoporotische Sinterungsfraktur
- Symmetrie der Taillendreiecke → Hinweis auf Beinlängendifferenz oder Skoliose
- Von lateral
- Verlauf der Wirbelsäule
- Form der Wirbelsäule: Physiologisch ausgeprägte Brustkyphose und Lendenlordose
Palpation
- Processus spinosi
- Paravertebrale Muskulatur
Perkussion
- Wirbelkörper und Processus spinosi
- Durchführung (Patient sitzt, Rumpf leicht gebeugt)
- Vorsichtige Perkussion mit dem Reflexhammer oder dem Finger
- Ggf. grob orientierende Perkussion mit der Faust
- Bedeutung
- Durchführung (Patient sitzt, Rumpf leicht gebeugt)
- Prüfung von Rüttelschmerz
- Durchführung: Patient in Bauchlage, Untersucher rüttelt an den Processus spinosi
- Bedeutung: Ein Rüttelschmerz kann Hinweis auf Wirbelkörperfrakturen oder eine Spondylitis sein
- Prüfung von Stauchungsschmerz
- Durchführung: Plötzlicher, gleichzeitiger Druck auf beide Schultern des sitzenden Patienten → Axiale Kompression der Wirbelsäule
- Bedeutung: Schmerzen sind typisch für entzündliche Prozesse, z.B. eine Spondylodiszitis
- Prüfung von Fersenfallschmerz
- Durchführung: Der Patient wird gebeten, sich vom Zehenstand auf die Fersen fallen zu lassen
- Bedeutung: Schmerzen beim Fersenfall sind typisch für entzündliche Prozesse, z.B. eine Spondylodiszitis
Beweglichkeitsprüfung
Bei der Bewegungsprüfung der Wirbelsäule sollten alle Freiheitsgrade in den Wirbelsäulenabschnitten HWS, BWS und LWS sowohl aktiv als auch passiv untersucht werden. Neben der Untersuchung nach der Neutral-Null-Methode können auch spezifische Tests für degenerative Wirbelsäulenveränderungen durchgeführt werden, die im Folgenden erläutert werden.
Bewegungsumfang nach Neutral-Null-Methode
Der Bewegungsumfang der Halswirbelsäule sollte sowohl aktiv als auch passiv untersucht werden. Bei der Brust- und Lendenwirbelsäule wird meist nur der aktive Bewegungsumfang untersucht. Die differenzierte Untersuchung des passiven Bewegungsumfangs ist hier mitunter sehr schwierig und findet v.a. in der physiotherapeutischen Diagnostik Anwendung.
- Halswirbelsäule
-
Inklination/Reklination: 45°/0°/45°
- Rotation: 80°/0°/80°
- Lateralflexion: 45°/0°/45°
-
Inklination/Reklination: 45°/0°/45°
- Brustwirbelsäule
- Inklination/Reklination: 35°/0°/25°
- Rotation: 40°/0°/40°
- Lateralflexion: 20°/0°/20°
- Lendenwirbelsäule
- Inklination/Reklination: 50°/0°/30°
- Rotation: 10°/0°/10°
- Lateralflexion: 20°/0°/20°
Das physiologische Bewegungsausmaß der Wirbelsäule variiert stark von Person zu Person (je nach Alter, Konstitution und Trainingszustand), weshalb die o.g. Werte auch bei Gesunden nicht immer erreicht werden können.
Hinterkopf-Wand-Abstand („Flèche-Maß“)
- Durchführung
- Befund und Bedeutung
- Physiologisch: Kein oder nur geringer Abstand zwischen Hinterkopf und Wand
- Pathologisch: (Größerer) Abstand zwischen Hinterkopf und Wand
Kinn-Sternum-Abstand
- Kurzbeschreibung: Maß und Verlaufsparameter für Beweglichkeit (Inklination/Reklination) der HWS
- Durchführung
- Der Untersucher bittet den Patienten, sein Kinn auf die Brust zu legen und misst den Abstand zwischen Kinn und Sternum mit dem Maßband
- Anschließend wird der Patient gebeten, den Kopf in den Nacken zu legen und die Messung wird wiederholt
- Befund und Bedeutung
- Physiologisch: Kinn-Sternum-Abstand in Inklination ≤0–2 cm und in Reklination 16–24 cm
- Pathologisch: Kinn-Sternum-Abstand in Inklination >2 cm und in Reklination <16 oder >24 cm
- Hinweis auf eine Bewegungseinschränkung der HWS (z.B. im Rahmen eines Morbus Bechterew)
Bestimmung der Thorax-Umfangsdifferenz
- Durchführung
- Der Untersucher misst den Thoraxumfang in tiefer, gehaltener Exspiration, anschließend in tiefer, gehaltener Inspiration
- Die Messung sollte entlang eines horizontalen Lots in Höhe des Proc. xiphoideus oder alternativ 5 cm darüber/darunter durchgeführt werden
- Befund und Bedeutung
- Pathologisch: Verkleinerung der Umfangsdifferenz zwischen Inspiration und Exspiration auf ≤2,5 cm (bspw. bei einer Skoliose, Morbus Bechterew oder einem Lungenemphysem)
Schober-Maß
- Kurzbeschreibung: Maß für Beweglichkeit (Inklination/Reklination) der LWS
- Durchführung (die Untersuchung erfolgt von dorsal)
- Für die Bestimmung des Schober-Maßes werden LWK5 (einige Autoren verwenden SWK1) und ein Punkt markiert, der sich 10 cm kranial davon befindet
- Der Untersucher bittet den Patienten anschließend, den Rumpf zuerst maximal nach vorn und danach maximal nach hinten zu beugen und misst den Abstand zwischen den markierten Punkten
- Befund und Bedeutung
- Abstand zwischen markierten Punkten:
- Physiologisch: Beide Punkte liegen bei Ventralflexion >4 cm weiter auseinander und bei Dorsalextension >2 cm näher beieinander
- Pathologisch: Bei degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen (typischerweise bei Morbus Bechterew) sind die Abstände verkleinert
- Abstand zwischen markierten Punkten:
Ott-Maß
- Kurzbeschreibung: Maß für Beweglichkeit (Inklination/Reklination) der BWS
- Durchführung (die Untersuchung erfolgt von dorsal)
- Für die Bestimmung des Ott-Maßes werden HWK7 und ein Punkt markiert, der sich 30 cm weiter kaudal befindet.
- Der Untersucher bittet den Patienten anschließend, den Rumpf zuerst maximal nach vorn und danach maximal nach hinten zu beugen und misst den Abstand zwischen beiden Punkten
- Befund und Bedeutung
- Abstand zwischen markierten Punkten:
- Physiologisch: Beide Punkte liegen bei Ventralflexion >2 cm weiter auseinander und bei Dorsalextension >1–2 cm näher beieinander
- Pathologisch: Bei degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen (typischerweise bei Morbus Bechterew) sind die Abstände verkleinert
- Abstand zwischen markierten Punkten:
Vorbeuge-Test und Finger-Boden-Abstand
- Durchführung
- Der Untersucher bittet den Patienten, sich etwas nach vorne über zu beugen. Dabei sollten die Beine etwa schulterbreit auseinander stehen, die Knie dürfen während des Tests nicht durchgedrückt werden. Grundsätzlich sollte der Untersucher den Patienten im Voraus darüber aufklären, dass der Test bei Schmerzen abzubrechen ist.
- Nun erfolgt initial der Vorbeugetest (Inspektion des Wirbelsäulenverlaufs von dorsal)
- Anschließend erfolgt die Messung der Distanz zwischen dem Mittelfinger einer Hand und dem Fußboden
- Befund und Bedeutung
- Vorbeuge-Test
- Physiologisch: Symmetrischer und zentraler Verlauf der gesamten Wirbelsäule ohne Hinweis auf eine einseitige Rippenerhöhung oder Lendenwulst
- Pathologisch
- Asymmetrischer (skoliotischer) Verlauf → Der Vorbeuge-Test ermöglicht die Differenzierung zwischen funktioneller Skoliose und struktureller Skoliose
- Einseitige Rippenerhöhung → Hinweis auf BWS-Skoliose
- Lendenwulst → Hinweis auf LWS-Skoliose
- Finger-Boden-Abstand
- Physiologisch: Finger-Boden-Abstand konstitutionsabhängig 0–10 cm
- Pathologisch: Finger-Boden-Abstand >10 cm
- Bedeutung: Maß für Beweglichkeit der gesamten Wirbelsäule
- Vorbeuge-Test
Orientierende neurologische Untersuchung
Im Rahmen der Wirbelsäulenuntersuchung, insb. bei Verdacht auf einen Diskusprolaps mit Wurzelkompression, ist eine orientierende neurologische Untersuchung obligatorisch. Häufig wird dabei eine lediglich auf bestimmte neurologische Systeme fokussierte Untersuchung durchgeführt. Diese umfasst meist folgende Untersuchungen:
- Kraftgrade nach Janda
- Erhaltene, seitengleiche Muskeleigenreflexe in allen Kennmuskeln
- Seitengleiche Sensibilität in allen Dermatomen
- Prüfung der Nervendehnungszeichen
Bei Verdacht auf ein Konussyndrom oder ein Kaudasyndrom sollten das Vorliegen einer Reithosenanästhesie, der Sphinktertonus sowie der Anal- und Achillessehnenreflex überprüft werden!