Zusammenfassung
Die Gruppe der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen ist durch qualitative Abweichungen in sozialen Interaktionen und in der Kommunikation sowie durch eingeschränkte, stereotype, repetitive Interessen und Aktivitäten definiert. Zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zählen auch die Autismus-Spektrum-Störungen. Nach ICD-10 wird insb. der frühkindliche Autismus vom Asperger-Syndrom unterschieden.
Der frühkindliche Autismus manifestiert sich vor dem dritten Lebensjahr und ist oft durch eine Intelligenzminderung mit Sprachentwicklungsstörung und deutlich eingeschränkter sozialer Interaktion geprägt. Beim Asperger-Syndrom liegt i.d.R. keine(!) kognitive Beeinträchtigung, sondern eher ein normaler bis hoher Intelligenzquotient mit einem sehr ausgewählten Sprachvermögen vor. Hier steht vielmehr eine Beeinträchtigung in der sozialen Interaktion im Vordergrund.
Übersicht
Einteilung
- Folgende Störungen werden in der ICD-10 hauptsächlich zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gezählt [1]
- F84.0: Frühkindlicher Autismus
- F84.1: Atypischer Autismus
- F84.2: Rett-Syndrom
- F84.3: Andere desintegrative Störung des Kindesalters (Heller-Syndrom)
- F84.4: Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien
- F84.5: Asperger-Syndrom
- Weitere Einteilungen
- Nach DSM-5, siehe: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen nach DSM-5
- Nach ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung), siehe: Tipps & Links
Klinik
Trias der qualitativen Beeinträchtigungen
- Beeinträchtigung bei der sozialen Interaktion
- Beeinträchtigung bei der Kommunikation
- Repetitive, stereotype Interessen und Verhaltensmuster
Weitere Charakteristika
- Beginn aller tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in der Kindheit
- Entwicklungsverzögerung oder -auffälligkeit (insb. von Funktionen, die mit der ZNS-Reifung korrelieren)
- Verhalten typischerweise nicht(!) dem jeweils vorliegenden Intelligenzquotienten entsprechend
- Konstanter Verlauf
Autismus-Spektrum-Störung
Definition
- Zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gehörendes Störungsbild mit [2]
- Beeinträchtigung der sozialen Interaktion
- Beeinträchtigung der Kommunikation
- Repetitiven, stereotypen Verhaltensmustern
- Zugeordnete Diagnosen
- Nach ICD-10: Frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus und Asperger-Syndrom [2]
- Nach DSM-5: Siehe Autismus-Spektrum-Störung nach DSM-5
- Nach ICD-11: Dimensionaler Ansatz statt kategoriale Typenzuordnung [3]
- Differenzierung zwischen atypischem Autismus, frühkindlichem Autismus und Asperger-Syndrom entfällt
- Mehr Informationen zur ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) unter Tipps & Links
Epidemiologie der Autismus-Spektrum-Störung [2]
Ätiologie der Autismus-Spektrum-Störung
Anders als jahrzehntelang vermutet, besteht heutzutage Einigkeit darüber, dass Autismus-Spektrum-Störungen nicht(!) Folge psychosozialer Deprivation sind (sog. „Kühlschrankmütter“ ). Vielmehr liegen allen(!) Autismusformen neurobiologische Ursachen zugrunde. Die genaue Pathogenese ist unklar.
- Neurobiologische Ursachen
- Genetische Faktoren
- Hirnschädigungen oder Hirnfunktionsstörungen [5]
- Biochemische Anomalien
- Assoziierte körperliche Erkrankungen
- Umweltfaktoren, u.a.
- Röteln in der Schwangerschaft als Risikofaktor diskutiert
- MMR-Impfung als Ursache widerlegt [6]
Allen Autismusformen liegen neurobiologische Ursachen zugrunde!
Allgemeine Merkmale von Autismus-Spektrum-Störungen
- Störung der sozialen Interaktion
- Reduziertes non-verbales Verhalten, bspw. wenig Gestik und Mimik, eingeschränkter Blickkontakt
-
Störung der kognitiven Empathie (sog. „Theory of Mind“)
- Mangel an geteilter Freude
- Mangelndes Verständnis für Rollenspiele („So-tun-als-ob“-Spiele)
- Probleme bei der Herstellung zwischenmenschlicher Beziehungen
- Störung der Kommunikation
- Sprachentwicklung und/oder -verständnis
- Mimik, Gestik, Blickverhalten [7]
- Stereotypes, repetitives Verhalten
-
Zwanghaftes Verhalten, bspw.
- Repetitive, gleichförmige motorische Bewegungen
- Ritualisiertes Verhalten
- Angst vor Veränderung
- Häufig spezielle Sonderinteressen, kein symbolisches Spiel
-
Zwanghaftes Verhalten, bspw.
Diagnostik der Autismus-Spektrum-Störung [2][8]
Die Diagnose ist klinisch zu stellen. Die vorhandenen Testverfahren sind (insb. für Erwachsene) nicht ausreichend valide.
- (Fremd‑)Anamnese
- Situationsübergreifende, grundlegende Symptomatik seit früher Kindheit
- Defizite in allen 3 charakteristischen Bereichen (s.o.)
- Verhaltensbeobachtung (in verschiedenen Situationen)
- Untersuchung in (kinder- und jugend)psychiatrischer Fachklinik oder Praxis
- Private Videoaufzeichnungen
- Einschätzung von
- Entwicklungsstand
- Intelligenz und kognitiven Funktionen (mittels neuropsychologischer Testung)
- Standardisierte Testverfahren (Auswahl)
- „Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)“ (Screeningfragebogen)
- Autism Diagnostic Interview-Revised (ADI-R; Diagnostisches Interview für Autismus - Revidiert)
- Diagnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen (ADOS-2) [7]
- Adult Asperger Assessment (AAA) [7]
- Abklärung von Komorbiditäten (somatische und psychische)
- Inkl. internistischer und neurologischer Untersuchung
- Ggf. EEG
- Ggf. Hör- und Sehprüfung
- Ggf. Karyotypisierung und molekulargenetische Untersuchung
Allgemeine Therapieempfehlungen bei Autismus-Spektrum-Störungen [9]
Wichtig ist eine früh beginnende multimodale Therapie unter Einbeziehung von Eltern und Umfeld.
Rahmenbedingungen anpassen [9]
- Fallmanagement einrichten
- Termine schriftlich festhalten
- Wartezeit reduzieren
- Umgebungsreize minimieren
Setting [9]
- I.d.R. ambulant
- (Teil‑)stationäre Behandlung ggf. notwendig bei
- Dekompensation im ambulanten Setting
- Psychischer Komorbidität mit starker Symptomausprägung
- Schwer einzustellender Pharmakotherapie
Therapieziele
- Für einen definierten Zeitraum konkret festlegen
- Im Rahmen von Verlaufskontrollen ggf. anpassen
- Hierarchisch sortieren
- Mögliche Zielsymptome, u.a.
- Soziale Kommunikations- und Interaktionsfertigkeiten
- Soziale Wahrnehmung und Emotionsregulation
- Spielverhalten
- Problemlösefähigkeiten
- Identitätsbildung
Therapiemaßnahmen
Nicht-medikamentös
- Schaffen von klaren und bleibenden sozialen Strukturen
-
Verhaltenstherapie, bspw. [7]
- Individuelle Einzeltherapie (insb. für jüngere Kinder)
- Soziales Kompetenztraining in der Gruppe
- Elternberatung und -training
- Supportive Therapien, bspw. Physiotherapie, Ergotherapie, Frühförderung
- Psychosoziale Dienste, bspw. Schulbegleiter, Sozialpädagogen
Medikamentös [9]
- Behandlung von Komorbiditäten
- Bei stark ausgeprägten Verhaltensauffälligkeiten: Additiv (zu psychosozialen Maßnahmen) und zeitlich befristet
Frühkindlicher Autismus (Kanner-Syndrom)
Epidemiologie
Störungsspezifische Merkmale
Neben den allgemeinen Merkmalen für Autismus-Spektrum-Störungen sind folgende Merkmale spezifisch für den frühkindlichen Autismus:
- Symptombeginn meist ab Geburt, immer vor dem 2. Geburtstag [1]
- Oft mit Intelligenzminderung (ca. 80% der Fälle)
-
Sprachentwicklungsverzögerung oder -störung, bspw.
- Echolalien
- Neologismen
- Andere Sprachauffälligkeiten, bspw. Pronomenumkehr deutlich häufiger und über längere Zeit als bei Kindern ohne frühkindlichen Autismus
- In ca. 50% kein Spracherwerb [12]
Es besteht eine große Variabilität in der klinischen Ausprägung von totalem sozialen Rückzug ohne aktive Sprache über Distanzlosigkeit mit floskelhafter Sprache bis hin zu ausgeprägter Intelligenzminderung!
Für die Diagnosestellung müssen nicht alle Symptome vorliegen; jedoch sind Auffälligkeiten in allen drei Bereichen obligat!
Diagnostik und Therapie
- Siehe
Komorbiditäten
- Epilepsie [5]
- Selbstverletzendes Verhalten (Autoaggressivität)
- Wutausbrüche und aggressives Verhalten
- Angststörungen
- Schlaf- und Essstörungen
Differenzialdiagnosen
- Intelligenzminderung anderer Genese
- Rezeptive Sprachentwicklungsstörung mit erhaltener non-verbaler Kommunikation
- Schizophrene Erkrankungen
- Angststörungen und elektiver Mutismus
- Bindungsstörungen
Prognose
- Kontinuierlicher Verlauf, schlechtere Prognose als Asperger-Syndrom
- Lebenslanges Persistieren der Leitsymptome
- Ca. 50% der Menschen mit frühkindlichem Autismus lernen nie sprechen [12]
- Meist kein selbstständiges Leben außerhalb der Familie möglich
Atypischer Autismus
Epidemiologie [5]
- Prävalenz: 2–11/10.000
- Oft bei Personen mit schwerer Intelligenzminderung oder starker Sprachentwicklungsstörung [1][2]
- Geschlecht: ♂ > ♀ (3:1)
Störungsspezifische Merkmale
- Nur 2 der 3 Kernbereiche aus den allgemeinen Merkmalen für Autismus-Spektrum-Störungen betroffen
- Symptombeginn ab dem 2. Geburtstag [1]
Diagnostik und Therapie
- Siehe
Die Diagnosekriterien entsprechen denen des frühkindlichen Autismus, jedoch müssen nur 2 der 3 Kernbereiche betroffen sein!
Komorbiditäten und Prognose
- Analog zum frühkindlichen Autismus
Asperger-Syndrom
Epidemiologie [5][11]
Störungsspezifische Merkmale
Neben den allgemeinen Merkmalen für Autismus-Spektrum-Störungen sind folgende Merkmale spezifisch für das Asperger-Syndrom:
-
Normaler bis hoher Intelligenzquotient
- Keine Verzögerung der kognitiven Entwicklung [1]
-
Keine Sprachentwicklungsverzögerung [1]
- Sprache eher über Altersdurchschnitt, häufig stilistisch anspruchsvolle Sprache
- Jedoch Beeinträchtigung des sozialen Sprachverständnisses
- Häufig akribisch verfolgte Sonderinteressen
- Ggf. Inselbegabung
- Oft motorische Ungeschicklichkeit
Diagnostik und Therapie
- Siehe
Psychopathologische Komorbiditäten
Insb. im Zusammenhang mit Veränderungen oder Belastungssituationen (bspw. Scheidung der Eltern oder Schulwechsel) kommt es häufig zu psychopathologischen Komorbiditäten. Im Kindesalter sind ADHS, ab der Jugend Depressionen die häufigsten Komorbiditäten.
- Verstärkung bereits vorhandener Symptome, bspw. Autoaggression, Hyperaktivität, Fixierung auf Rituale
- AD(H)S
- Affektive Störungen, bspw. Depression, bipolare affektive Störung
- Angststörungen
- Zwangsstörungen
- Tic-Störungen
- Schizophreniforme psychotische Episoden
Differenzialdiagnosen
- Frühkindlicher Autismus
- Schizophrenie
- Reaktive Bindungsstörung
- Zwangsstörung und zwanghafte Persönlichkeitsstörung
- Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS)
Prognose
- Variabler Verlauf, bessere Prognose als beim frühkindlichen Autismus
- Lebenslanges Persistieren der Leitsymptome
- Verbesserung des Interaktions- und Sozialverhaltens mit dem Heranwachsen
- Entwickeln von Routinen im alltäglichen Leben
- Hohe prognostische Bedeutung von Komorbiditäten
Geschichte der Namensgebung [13]
Der österreichische Pädiater Hans Asperger (1906–1980) war – laut neueren Forschungsergebnissen – an der durch die Nationalsozialisten durchgeführten Ermordung von Menschen mit psychischer oder körperlicher Behinderung (sog. „Euthanasie“ ) beteiligt. So schickte er nachweislich ein Mädchen mit postenzephalitischem Syndrom in die „Jugendfürsorgeanstalt am Spiegelgrund“, wo es ermordet wurde. Außerdem gehörte er einer Kommission einer psychiatrischen Anstalt an, in der Kinder im Hinblick auf ihre „Bildungsfähigkeit“ begutachtet und je nach Beurteilung ebenfalls ermordet wurden. Asperger war darüber hinaus Mitglied in der antisemitischen Vereinigung der deutschen Ärzte in Österreich, die sich u.a. für einen Numerus Clausus für jüdische Medizinstudierende einsetzte.
Im ICD-11 wird das Asperger-Syndrom als „Autism spectrum disorder without disorder of intellectual development and with mild or no impairment of functional language“ bezeichnet (ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung), siehe: Tipps & Links). In AMBOSS wird der Begriff entsprechend angepasst, sobald die deutsche Übersetzung endgültig veröffentlicht ist.
Weitere tiefgreifende Entwicklungsstörungen nach ICD-10
In der ICD-10 zählt auch das Rett-Syndrom (F84.2), neben der anderen desintegrativen Störung des Kindesalters (F84.3) und der überaktiven Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.4) zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. [2]
Rett-Syndrom
Definition
- Entwicklungsstörung mit progressivem Verlust der Intelligenz und kognitiven Fähigkeiten wie Sprache, Lokomotion und Gebrauchsfähigkeit der Hände
- Nach DSM-5 ist das Rett-Syndrom keine eigenständige psychiatrische Diagnose, sondern ein molekulargenetischer Befund, der bei Vorliegen zusätzlich zur Autismus-Spektrum-Störung kodiert werden kann [14][15]
Epidemiologie
- Prävalenz: 1/10.000 weibliche Neugeborene in Deutschland [5][11][16]
- Geschlecht: Betrifft fast ausschließlich Mädchen
Ätiologie
- In >95% der Fälle Mutation im MECP2-Gen
- X-chromosomal-dominanter Gendefekt (Xq28)
- Meist kein vererbter Gendefekt, sondern spontane Neumutation, daher irrelevant für das Erkrankungsrisiko des Einzelnen, ob Verwandte betroffen sind
- Oft ist die mutierte Kopie des MECP2-Gens dem Allel des Vaters zuzuordnen (infolge einer zufälligen Mutation bei der Spermienbildung), folglich sind meist Mädchen von der Erkrankung betroffen
- Das Rett-Syndrom zählt zu den MECP2-related-disorders
- Unterscheidung zwischen klassischem Rett-Syndrom und atypischen Varianten (siehe: Klinik)
Pathophysiologie
- Genaue Pathogenese unklar
- Zusammenschau von Neuropathologie und Klinik spricht eher für eine Entwicklungsstörung und weniger für eine degenerative ZNS-Erkrankung
- Unspezifische neuropathologische Befunde
- Insb. im Bereich von Frontalhirn und Basalganglien: Volumenabnahme des Gehirns ohne Verlust von Neuronen
- In der Substantia nigra: Hypopigmentation der Neuronen
- Im Bereich von Kleinhirn und Rückenmark: Atrophie, Gliose und spongiforme Veränderungen
- Neurophysiologische Untersuchungen: Auffälligkeiten im primären Atemzentrum des Hirnstamms
Klinik des klassischen Rett-Syndroms
- Beginn im Alter von 6–18 Monaten
- Normale Prä- und Perinatalzeit, normale psychomotorische Entwicklung innerhalb der ersten 6 (oft 12–18) Lebensmonate
- Abweichende Verläufe, siehe: Atypische Varianten des Rett-Syndroms
Periodischer Verlauf des Rett-Syndroms (4 Stadien nach Hagberg) [11]
Frühe Stagnationsphase (6–18 Mon.): Über wenige Monate
- Entwicklungsstillstand innerhalb der ersten beiden Lebensjahre nach vorheriger normaler Entwicklung
- Abnahme des Schädelwachstums
- Verlust zielgerichteter Handbewegungen
Rapide Entwicklungsregressionsphase (1–4 J.): Über Wochen bis Monate
- Stereotypien, insb. stereotype Handbewegungen vor dem Körper (windend-wringende Drehbewegungen der Hände)
- Progredienter Verlust der Intelligenz und kognitiven Fähigkeiten
- Autistische Züge mit Störung der Kommunikation und sozialen Interaktion
- Verlust der Handfunktionen
- Rumpfataxie, Apraxie, choreatische Bewegungen, breitbeiniges Stehen, Amimie
- Mikrozephalie
- Apnoe, Hyperventilation
- Epileptische Anfälle (meist tonisch-klonisch generalisiert, ggf. Partialanfälle)
Pseudostationäre Phase (Schulalter): Über Jahre
- Intelligenzminderung
- Ausgeprägte Rumpfataxie
- Epileptische Anfälle
Späte motorische Regressionsphase (5–25 J.): Über Jahrzehnte
- Paraplegische oder tetraplegische Symptome
- Oft Gehunfähigkeit durch Kyphoskoliose und progrediente Spastik
- Kachexie, Kleinwuchs
- Normale Pubertätsentwicklung
- Besserung der epileptischen Symptome
Atypische Varianten des Rett-Syndroms [16]
- Rolando-Variante (angeborenes Rett-Syndrom)
- Entwicklungsstörung ab Geburt
- Kein Fixieren, Mikrozephalie ab dem 4. Lebensmonat
- Kein Laufenlernen
- Kleine, kalte Hände und Füße
- Atemstörungen im Wachzustand
- Bewegungsstereotypien der Zunge und Zuckungen der Extremitäten
- Molekulargenetik: Nachweis von MECP2-Mutationen selten; immer Analyse von FOXG1-Mutationen veranlassen!
- Hanefeld-Variante (Variante mit epileptischen Anfällen im frühen Kindesalter)
- Erste epileptische Anfälle meist innerhalb der ersten 5 Lebensmonate
- Anfallsbeginn vor Regression
- Blitz-Nick-Salaam-Anfälle (BNS)
- Refraktäre myoklonische Epilepsie
- Molekulargenetik: MECP2-Mutationen selten; immer Analyse von CDKL5-Mutationen und ggf. MEF2C veranlassen!
- Zapella-Variante (Variante mit erhaltener Sprache)
- Regression im Alter von 1–3 Jahren
- Verschlechterung der Handfunktionen, aber kein kompletter Verlust
- Wiedererwerb der Sprache nach Regression (i.d.R. im Alter von 5 Jahren)
- Intellektuelle Einschränkung (IQ ≤50)
- Häufig autistische Züge
- Aber: Im Normbereich bei Kopfumfang, Größe und Gewicht, nur selten Epilepsie oder vegetative Störungen, nur leichte Skoliose oder Kyphose
- Molekulargenetik: Meist Nachweis einer MECP2-Mutation
Diagnostik
- Typische Klinik: Diagnosekriterien des Rett-Syndroms [16]
- Hauptkriterien des Rett-Syndroms
- Teilweiser oder kompletter Verlust erworbener Handfunktionen
- Teilweiser oder kompletter Verlust von bereits erworbener Sprache
- Gangstörungen oder Gehunfähigkeit
- Stereotype (meist waschende oder wringende) Handbewegungen
- Ausschlusskriterien
- Peri- oder postnatale Hirntraumata, neurometabolische ZNS-Erkrankungen oder ZNS-Infektionen
- Deutliche psychomotorische Entwicklungsstörungen innerhalb der ersten 6 Lebensmonate
- Beim atypischen Rett-Syndrom zusätzliche Kriterien
- Atemstörung im Wachzustand
- Zähneknirschen im Wachzustand
- Gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus
- Abnormer Muskeltonus
- Periphere vasomotorische Störungen
- Skoliose und/oder Kyphose
- Wachstumsverzögerung
- Kleine kalte Hände und Füße
- Hauptkriterien des Rett-Syndroms
- Molekulargenetische Untersuchung: Nachweis einer MECP2-Mutation
- Bei Verdacht auf ein atypisches Rett-Syndrom: Analyse von weiteren Mutationen, z.B. FOXG1, CDKL5 oder MEF2C
- MRT: Häufig Atrophie von Frontal- und Kleinhirn
- EEG: Typischerweise Spikes oder Sharp Waves in der Einschlafphase (zum Krankheitsbeginn)
Auch bei Jungen mit schwerer Intellgenzminderung muss an ein Rett-Syndrom gedacht und eine molekulargenetische Untersuchung des MECP2-Gens durchgeführt werden!
Differenzialdiagnosen
- Neuronale Zeroidlipofuszinose
- Tuberöse Sklerose
- West-Syndrom
- Neurometabolische Krankheiten (z.B. OTC-Mangel)
- Fragiles-X-Syndrom
- Angelman-Syndrom
- Infantiler Autismus
Therapie
- Keine kausale Therapie verfügbar
- Am Mausmodell: Aktivierung der MECP2-Expression zur Korrektur der typischen Symptome bereits möglich
- Symptomatische Therapie
- Frühförderung
- Motopädische und heilpädagogische Maßnahmen
- Beratung und psychotherapeutische Betreuung der Familie
- Bei Skoliose und Fußfehlstellungen: Ggf. chirurgische Intervention
- Bei Schluckstörungen: Anlage einer PEG-Sonde
- Bei epileptischen Anfällen: Anfallssuppressive Therapie mit Sultiam, Carbamazepin, Valproat, Lamictal und Levetiracetam
- Bei Osteoporose: Substitution von Vitamin D und Calcium
Prognose
- Durchschnittliche Lebenserwartung: ca. 45 Jahre
- Tod oft im Rahmen von epileptischen Anfällen, kardialen Überleitungsstörungen (verlängerte QT-Zeit) und Atemregulationsstörungen bei bronchopulmonalen Erkrankungen
Geschichte der Namensgebung [17]
Andreas Rett (1924–1997), österreichischer Neuropädiater und Erstbeschreiber des Rett-Syndroms, war als junger Mann HJ-Führer und Mitglied der NSDAP. Zwar versuchte er sich später von seiner Nazi-Vergangenheit zu distanzieren, publizierte jedoch noch Ende der 60er Jahre einen wissenschaftlichen Aufsatz auf Grundlage von Gehirnpräparaten von Kindern, die aufgrund ihrer psychischen oder körperlichen Behinderung durch die Nationalsozialisten systematisch ermordet wurden. Zusätzlich setzte er sich bis in die späten 80er Jahre u.a. für eine sexuelle „Triebdämpfung“ von Menschen mit Behinderung mittels Epiphysan ein. In Ermangelung eines anderen Begriffs für das Rett-Syndrom wird dieser vorerst in AMBOSS weiter verwendet.
Andere desintegrative Störung des Kindesalters (Heller-Syndrom)
Synonyme
- Heller'sche Demenz, Heller-Syndrom, Dementia infantilis, desintegrative Psychose, Childhood Disintegrative Disorder
Epidemiologie
Ätiologie
- Pathogenese unklar, wahrscheinlich sind hirnorganische Ursachen
- Im DSM-5 wurde das Heller-Syndrom als Diagnose ersatzlos gestrichen und die Symptomatik in die Autismus-Spektrum-Störung integriert [14][15]
Klinik
- Diagnosekriterien des Heller-Syndroms (nach ICD)
- Beginn im Alter von 2–3 Jahren (nach mind. 2 Jahren normaler Entwicklung)
- Innerhalb weniger Monate Verlust von erworbenen Fähigkeiten in mind. 2 der folgenden Entwicklungsbereiche
- Expressive Sprache
- Motorik
- Sozialverhalten
- Spielen
- Urin- und Stuhlkontrolle
- Qualitative Auffälligkeiten des Sozialverhaltens in mind. 2 der folgenden Bereiche
- Wechselseitige soziale Interaktion (autistische Züge)
- Kommunikation (ähnlich einer autistischen Störung)
- Interessen und Aktivitäten
- Eingeschränkte repetitive Verhaltensmuster (Stereotypien)
- Interessenverlust an Objekten oder der ganzen Umwelt
- Symptome lassen sich nicht besser durch eine andere Störung erklären
- Ggf. progrediente Regression mit neurologischen Ausfällen, die manchmal zum Tod führen
- Epileptische Anfälle (ca. 50% der Fälle)
- Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus
Diagnostik
- Typische Klinik
- EEG-Veränderungen: In etwa 50% der Fälle
- Ausschluss von Stoffwechselstörungen oder anderen organischen Ursachen
Differenzialdiagnosen
- Frühkindlicher Autismus
- Rett-Syndrom
- Geistige Behinderung
- Stoffwechselerkrankungen
Therapie
- Keine kausale Therapie verfügbar
- Verhaltenstherapeutische Maßnahmen [18]
- Bei fremd- oder selbstverletzendem Verhalten: Ggf. atypische Antipsychotika (v.a. Aripiprazol oder Risperidon) [19]
Prognose
- Reduzierte Lebenserwartung
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen nach DSM-5
In Deutschland erfolgt die Diagnosestellung anhand der ICD-Kriterien (siehe auch: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen - Kodierung nach ICD). Ergänzend kommt das amerikanische Klassifikationssystem DSM-5 zum Einsatz. [14][15]
Diagnosekriterien der Autismus-Spektrum-Störung nach DSM-5
Einschlusskriterien einer Autismus-Spektrum-Störung nach DSM-5 | |
---|---|
A. Andauernde Defizite bei der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion in allen Kontexten Nicht durch generelle Entwicklungsverzögerungen erklärbar Manifestation in allen nebenstehenden Bereichen (aktuell oder anamnestisch) |
|
B. Restriktive, repetitive Verhaltens-, Interessen- oder Aktivitätsmuster Manifestation in wenigstens zwei der nebenstehenden Bereiche (aktuell oder anamnestisch) |
|
C. Symptome müssen seit früher Kindheit vorhanden sein | |
D. Symptome begrenzen und beeinträchtigen insgesamt das alltägliche Funktionieren | |
E. Ausschlussdiagnosen: Symptome lassen sich nicht durch intellektuelle Behinderung oder globale Entwicklungsstörung erklären | |
Anhand A und B Einstufung des aktuellen Schweregrads: Schweregrade der Autismus-Spektrum-Störung nach DSM-5 |
Menschen mit deutlichen Defiziten bei der sozialen Kommunikation, deren Symptome aber nicht die Kriterien für eine Autismus-Spektrum-Störung erfüllen, sollten im Hinblick auf eine soziale Kommunikationsstörung untersucht werden!
Zusätzlich zu kodierende Spezifizierungen
- Mit/ohne begleitende kognitive Beeinträchtigung
- Mit/ohne begleitende Sprachstörung
- Assoziation mit einer klinischen oder genetischen Besonderheit oder einem Umweltfaktor
- Assoziation mit einer anderen entwicklungsneurologischen, psychischen Störung oder Verhaltensstörung
- Mit Katatonie
Schweregrade der Autismus-Spektrum-Störung nach DSM-5
Schweregrad 1 “Unterstützung wird benötigt” | Schweregrad 2 “Substanzielle Unterstützung wird benötigt” | Schweregrad 3 “Unterstützung wird in beträchtlichem Ausmaß benötigt” | |
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Soziale Kommunikation |
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Restriktive, repetitive Verhaltensweisen |
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Differenzialdiagnose: Soziale (pragmatische) Kommunikationsstörung („social (pragmatic) communication disorder“) 315.39
Diese Differenzialdiagnose kommt bei Menschen mit sub-syndromalen Symptomen in Betracht, die nicht alle Diagnosekriterien einer Autismus-Spektrum-Störung erfüllen, aber aufgrund ihrer autistischen Züge psychosoziale Beeinträchtigungen erfahren .
Einschlusskriterien der sozialen (pragmatischen) Kommunikationsstörung nach DSM-5 | |
---|---|
A. Andauernde Schwierigkeiten im sozialen Gebrauch verbaler und non-verbaler Kommunikationsmittel, die sich in allen nebenstehenden Bereichen manifestieren |
|
B. Die Defizite resultieren in Einschränkungen bei der effektiven Kommunikation, der sozialen Teilhabe, sozialen Beziehungen, akademischen und/oder beruflichen Erfolgen | |
C. Die Symptome müssen seit früher Kindheit vorhanden sein | |
D. Ausschlussdiagnosen: Die Symptome lassen sich nicht durch andere physische Erkrankungen, Schwächen in Wortstruktur und Grammatik, eine Autismus-Spektrum-Störung, eine intellektuelle Behinderung, eine globale Entwicklungsstörung oder eine andere psychiatrische Erkrankung erklären |
Darstellung in Anlehnung an DSM-5 [14]
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- F84.-: Tief greifende Entwicklungsstörungen
- Diese Gruppe von Störungen ist gekennzeichnet durch qualitative Abweichungen in den wechselseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern und durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten. Diese qualitativen Auffälligkeiten sind in allen Situationen ein grundlegendes Funktionsmerkmal des betroffenen Kindes.
- F84.0: Frühkindlicher Autismus
- Diese Form der tief greifenden Entwicklungsstörung ist durch eine abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung definiert, die sich vor dem dritten Lebensjahr manifestiert. Sie ist außerdem gekennzeichnet durch ein charakteristisches Muster abnormer Funktionen in den folgenden psychopathologischen Bereichen: in der sozialen Interaktion, der Kommunikation und im eingeschränkten stereotyp repetitiven Verhalten. Neben diesen spezifischen diagnostischen Merkmalen zeigt sich häufig eine Vielzahl unspezifischer Probleme, wie Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche und (autodestruktive) Aggression.
- Autistische Störung
- Frühkindliche Psychose
- Infantiler Autismus
- Kanner-Syndrom
- Exklusive: Autistische Psychopathie (F84.5)
- F84.1: Atypischer Autismus
- Diese Form der tief greifenden Entwicklungsstörung unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus entweder durch das Alter bei Krankheitsbeginn oder dadurch, dass die diagnostischen Kriterien nicht in allen genannten Bereichen erfüllt werden. Diese Subkategorie sollte immer dann verwendet werden, wenn die abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung erst nach dem dritten Lebensjahr manifest wird und wenn nicht in allen für die Diagnose Autismus geforderten psychopathologischen Bereichen (nämlich wechselseitige soziale Interaktionen, Kommunikation und eingeschränktes, stereotyp repetitives Verhalten) Auffälligkeiten nachweisbar sind, auch wenn charakteristische Abweichungen auf anderen Gebieten vorliegen. Atypischer Autismus tritt sehr häufig bei schwer retardierten bzw. unter einer schweren rezeptiven Störung der Sprachentwicklung leidenden Patienten auf.
- Atypische kindliche Psychose
- Intelligenzminderung mit autistischen Zügen
- F84.2: Rett-Syndrom
- Dieses Zustandsbild wurde bisher nur bei Mädchen beschrieben; nach einer scheinbar normalen frühen Entwicklung erfolgt ein teilweiser oder vollständiger Verlust der Sprache, der lokomotorischen Fähigkeiten und der Gebrauchsfähigkeiten der Hände gemeinsam mit einer Verlangsamung des Kopfwachstums. Der Beginn dieser Störung liegt zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat. Der Verlust zielgerichteter Handbewegungen, Stereotypien in Form von Drehbewegungen der Hände und Hyperventilation sind charakteristisch. Sozial- und Spielentwicklung sind gehemmt, das soziale Interesse bleibt jedoch erhalten. Im 4. Lebensjahr beginnt sich eine Rumpfataxie und Apraxie zu entwickeln, choreo-athetoide Bewegungen folgen häufig. Es resultiert fast immer eine schwere Intelligenzminderung.
- F84.3: Andere desintegrative Störung des Kindesalters
- Diese Form einer tief greifenden Entwicklungsstörung ist - anders als das Rett-Syndrom - durch eine Periode einer zweifellos normalen Entwicklung vor dem Beginn der Krankheit definiert. Es folgt ein Verlust vorher erworbener Fertigkeiten verschiedener Entwicklungsbereiche innerhalb weniger Monate. Typischerweise wird die Störung von einem allgemeinen Interessenverlust an der Umwelt, von stereotypen, sich wiederholenden motorischen Manierismen und einer autismusähnlichen Störung sozialer Interaktionen und der Kommunikation begleitet. In einigen Fällen kann die Störung einer begleitenden Enzephalopathie zugeschrieben werden, die Diagnose ist jedoch anhand der Verhaltensmerkmale zu stellen.
- Dementia infantilis
- Desintegrative Psychose
- Heller-Syndrom
- Symbiotische Psychose
- Exklusive: Rett-Syndrom (F84.2)
- F84.4: Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien
- Dies ist eine schlecht definierte Störung von unsicherer nosologischer Validität. Diese Kategorie wurde für eine Gruppe von Kindern mit schwerer Intelligenzminderung (IQ unter 35) eingeführt, mit erheblicher Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörungen und stereotypen Verhaltensweisen. Sie haben meist keinen Nutzen von Stimulanzien (anders als Kinder mit einem IQ im Normbereich) und können auf eine Verabreichung von Stimulanzien eine schwere dysphorische Reaktion - manchmal mit psychomotorischer Entwicklungsverzögerung - zeigen. In der Adoleszenz kann sich die Hyperaktivität in eine verminderte Aktivität wandeln, ein Muster, das bei hyperkinetischen Kindern mit normaler Intelligenz nicht üblich ist. Das Syndrom wird häufig von einer Vielzahl von umschriebenen oder globalen Entwicklungsverzögerungen begleitet. Es ist nicht bekannt, in welchem Umfang das Verhaltensmuster dem niedrigen IQ oder einer organischen Hirnschädigung zuzuschreiben ist.
- F84.5: Asperger-Syndrom
- Diese Störung von unsicherer nosologischer Validität ist durch dieselbe Form qualitativer Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen, wie für den Autismus typisch, charakterisiert, zusammen mit einem eingeschränkten, stereotypen, sich wiederholenden Repertoire von Interessen und Aktivitäten. Die Störung unterscheidet sich vom Autismus in erster Linie durch fehlende allgemeine Entwicklungsverzögerung bzw. den fehlenden Entwicklungsrückstand der Sprache und der kognitiven Entwicklung. Die Störung geht häufig mit einer auffallenden Ungeschicklichkeit einher. Die Abweichungen tendieren stark dazu, bis in die Adoleszenz und das Erwachsenenalter zu persistieren. Gelegentlich treten psychotische Episoden im frühen Erwachsenenleben auf.
- Autistische Psychopathie
- Schizoide Störung des Kindesalters
- F84.8: Sonstige tief greifende Entwicklungsstörungen
- F84.9: Tief greifende Entwicklungsstörung, nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.