Zusammenfassung
Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen werden durch relativ klar definierbare Faktoren verursacht. Dabei handelt es sich zumeist um ein außergewöhnlich belastendes Ereignis (bei der akuten Belastungsreaktion und der posttraumatischen Belastungsstörung) oder besondere Veränderungen im Leben (bei der Anpassungsstörung), die als direkter Auslöser nachvollziehbar sind. Dass diese Ereignisse eine Störung hervorrufen können, hängt aber maßgeblich von weiteren Faktoren ab wie bspw. von individueller Vulnerabilität, Resilienz und Bewältigungsressourcen.
Die akute Belastungsreaktion tritt unmittelbar nach dem Ereignis auf und ist v.a. durch ein wechselhaftes Bild von dissoziativen Symptomen, gesteigerten Affekten (Wut, Trauer etc.) und überschießenden vegetativen Reaktionen (Herzrasen, Schwitzen etc.) geprägt. Sie ist eher als eine normale Reaktion auf ein „unnormales“ Ereignis zu verstehen und klingt i.d.R nach Stunden bis Tagen ab. Psychosoziale Maßnahmen wie die primäre Vermittlung von Sicherheit, beruhigende Gespräche sowie die Förderung sozialer Anbindung sind hier meist ausreichend.
Die posttraumatische Belastungsstörung hingegen ist eine verzögerte Reaktion (innerhalb von 6 Monaten) auf ein Ereignis „katastrophalen“ Ausmaßes. Sie ist gekennzeichnet durch ein eindringliches, ungewolltes Wiedererleben („Flashbacks“), Vermeidungsverhalten sowie psychische und vegetative Übererregung („Hyperarousal“). Der therapeutische Fokus liegt hier klar auf psychotherapeutischen Interventionen. Unterstützend können Antidepressiva zum Einsatz kommen.
Die Anpassungsstörung kann vereinfacht als eine meist depressive Reaktion (Interessenverlust, gedrückte Stimmung etc.) auf eine klar nachvollziehbare Lebensveränderung („Life Event“) bezeichnet werden und dauert definitionsgemäß nicht länger als 6 Monate an. Obwohl sie zu den häufigsten gestellten psychiatrischen Diagnosen gehört, gibt es bisher keine konkrete Behandlungsleitlinie. Entlastende Gespräche sowie Ressourcenaktivierung stehen hier im Vordergrund.
Akute Belastungsreaktion
Definition [1][2]
Vorübergehende psychische Reaktion auf schwere körperliche oder emotionale Belastungen. Je nach Klassifikationssystem finden sich erhebliche Unterschiede bei der Definition, v.a. hinsichtlich Terminologie und Zeitkriterium. Die akute Belastungsreaktion (ABR) zählt zu den akuten Traumafolgestörungen und gilt in ihrer ausgeprägten Form als relative Notfallindikation. Sie kann in eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine andere Traumafolgestörung übergehen. Sie ist jedoch keine Voraussetzung dafür und wird von einem Großteil der Patient:innen ohne weitere Therapie bewältigt.
- ICD-10: Akute Belastungsreaktion
- Beginn während oder wenige Minuten bis zu einer Stunde nach einem traumatischen Erlebnis
- Dauer: Abklingen i.d.R. nach 2–3 Tagen, oft nach nur wenigen Stunden
- DSM-5: Akute Belastungsstörung
- Beginn innerhalb des ersten Monats nach einem traumatischen Erlebnis
- Dauer: 3 Tage bis 4 Wochen
- ICD-11: Akute Belastungsreaktion entfällt in dieser Kategorie
- Für mehr Informationen zur ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) siehe: Tipps & Links
Die akute Belastungsreaktion ist als eine normale Reaktion auf ein „unnormales“ Erlebnis zu verstehen! [3]
Epidemiologie [3][4][5][6]
- Inzidenz: Starke Schwankungen je nach Quelle
- Geschlecht: ♀ > ♂ [7]
- Lebenszeitprävalenz für Konfrontation mit ≥1 traumatischem Ereignis: Starke Schwankungen je nach Quelle und Region
Insgesamt gibt es kaum epidemiologisch gesicherte Daten, da die Symptomatik meist rasch abklingt und Betroffene dementsprechend selten fachspezifische Einrichtungen aufsuchen!
Ätiologie und Pathogenese [1][9][10]
- Ursache: Ursächlich ist immer das Erleben oder Beobachten eines schweren körperlichen oder emotionalen Ereignisses
- Multifaktorielle Einflüsse (ähnlich wie bei der PTBS, siehe: Ätiologie und Pathogenese der PTBS): Neurobiologische Faktoren, individuelle Entwicklungs- und Lerngeschichte sowie Vulnerabilität, verfügbare Bewältigungsmechanismen (Coping-Strategien), bestimmte Persönlichkeitszüge (bspw. hoher Neurotizismus), frühere Traumatisierungen
Prognose
- Verläuft häufig günstig [3]
- Übergang in PTBS oder andere Traumafolgestörung jedoch möglich [7]
Symptome
Die Symptomatik ist vielfältig und wechselt oft rasch. Typischerweise dominiert kein Symptom über längere Zeit. [3][9]
- Dissoziative Symptome : Gefühl der „Betäubung“, Derealisation, Depersonalisation, Amnesie bzgl. des traumatischen Ereignisses, dissoziativer Stupor
- Bewusstseinseinengung und Desorientiertheit bzw. Verwirrtheit
- Weitere begleitende Symptome
- Vegetative Symptome: Bspw. Tachykardie, Schwitzen, Übelkeit, Blässe, Erröten
- Gesteigerte, z.T. stark schwankende Affekte: Trauer, Wut, Reizbarkeit, Aggression, Verzweiflung, Angst
- Im späteren Verlauf
- Intrusionen: Flashbacks und Albträume
- Hyperarousal
- Weitere Symptome: Sozialer Rückzug, Vermeidungsverhalten, Konzentrationsstörungen, Suizidalität, psychotische Symptome
Diagnostik (inkl. diagnostischer Kriterien)
Exploration [2][3]
- Relative Notfallindikation: Abhängig von der Schwere der Symptomatik [2]
- Kernfragen hierbei
- Vitalgefährdung durch körperliche Verletzungen?
- Ist mit fremdaggressivem Verhalten zu rechnen? (Siehe auch: Einschätzen der Fremdgefährdung)
- Ist der Patient eigengefährdet, insb. suizidal? (Siehe auch: Suizidanamnese)
- Liegt eine somatische oder eine psychiatrische Behandlungsindikation vor?
- Ist eine stationäre oder eine ambulante Behandlung indiziert?
- Kernfragen hierbei
- Frühdiagnostik zur psychosozialen Ersteinschätzung: In den ersten Stunden oder Tagen durchzuführen
- Psychiatrische Anamnese (wenn möglich mit Fremdanamnese) und Erhebung des psychopathologischen Befundes , besonderes Augenmerk auf
- Belastendes Ereignis und zeitlichen Zusammenhang zur Symptomatik
- Beachtung von Schutz- und Risikofaktoren (siehe: Ätiologie der PTBS), insb. Frage nach sozialer Unterstützung [3]
- Beurteilung der Eigengefährdung, insb. Suizidalität (siehe auch: Suizidanamnese, Hauptrisikofaktoren für Suizidalität)
- Einschätzen der Fremdgefährdung
- Substanzintoxikationen und -abhängigkeiten
- Psychiatrische Vorerkrankungen
- Körperliche Vorerkrankungen
- Körperliche Verletzungen, insb. Kopfverletzungen [3]
- Vormedikation
- Psychiatrische Anamnese (wenn möglich mit Fremdanamnese) und Erhebung des psychopathologischen Befundes , besonderes Augenmerk auf
- Ausschluss organischer Ursachen
- Internistische Untersuchung
- Neurologische Untersuchung
- Bestimmung der Vitalparameter (Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung)
- Labordiagnostik [7][11]
- Routinelabor, siehe auch: Labordiagnostik in der Psychiatrie
- Bei klinischem Verdacht: Ggf. Liquordiagnostik (Lumbalpunktion), Urin-Drogenscreening
- Weitere apparative Diagnostik, bspw.
- EKG
- Bei klinischem Verdacht: Ggf. EEG, bildgebende Verfahren (cCT, cMRT)
- Siehe auch: Apparative Diagnostik in der Psychiatrie
- Unterstützend: Ggf. Screeningbögen einsetzen [3]
- Diagnosestellung: Erfolgt nach klinischen Kriterien gemäß ICD bzw. DSM-5, siehe:
- Diagnostische Kriterien einer akuten Belastungsreaktion nach ICD-10
- Diagnostische Kriterien einer akuten Belastungsstörung nach DSM-5
- Diagnostische Kriterien nach ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung): Unter Tipps & Links
- Spezielle psychotraumatologische Diagnostik: Je nach klinischer Situation im Anschluss an die frühe Versorgung erwägen [3]
Sofern keine vollständige Anamnese und Befunderhebung in der Notfallsituation durchgeführt werden kann, sollte dies sobald wie möglich nachgeholt werden! [2]
Diagnostische Kriterien
Nach ICD-10
Kriterium | Diagnostische Kriterien einer akuten Belastungsreaktion nach ICD-10 [10] | |
---|---|---|
A |
| |
B |
| |
C | Symptome der Gruppe 1 |
|
Symptome der Gruppe 2 |
| |
D |
| |
E |
| |
Bewertung |
|
Nach ICD-11
- Wesentliche Änderung [12]
- Diagnose entfällt in hiesiger Kategorie
- Kodierung in einem Zusatzkapitel: „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen“
- Diagnose entfällt in hiesiger Kategorie
- Für mehr Informationen zur ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) siehe: Tipps & Links
Nach DSM-5 [1]
Kriterium | Diagnostische Kriterien einer akuten Belastungsstörung nach DSM-5 [1] |
---|---|
A |
|
B (≥9 Symptome) |
|
C |
|
D |
|
E |
|
Differenzialdiagnostik [1][9]
- Posttraumatische Belastungsstörung und Anpassungsstörung, Abgrenzung durch
- Zeitkriterium
- Art und Schwere des belastenden Ereignisses
- Symptomatik
- Affektive Störungen
- Angststörungen
- Persönlichkeitsstörungen
- Dissoziative Störungen
- Zwangsstörungen
- Psychotische Störungen (bspw. Schizophrenie, akute vorübergehende psychotische Störungen, affektive Störungen mit psychotischen Symptomen)
- Somatoforme Störungen
- Intoxikationen oder Entzugssymptomatik bei Suchterkrankten
- Organische Ursachen
- Endokrine Störungen
- Kardiovaskuläre Erkrankungen
- Neurologische Erkrankungen
Therapie
Psychische Erste Hilfe (Akuthilfe nach schwerer Belastungssituation) [3][8][13][14]
- Definition: Psychosoziale Maßnahmen unmittelbar nach dem schweren Ereignis (noch in der akuten Belastungsphase)
- Ziele
- Prävention negativer Folgen (Traumafolgestörungen)
- Erste Identifizierung von Risikopersonen
- Verantwortliche: Ersthelfende und Rettungskräfte
- Durchführung
- Vermittlung von Sicherheit
- Schutz vor weiteren Belastungen (für sichere und ruhige Umgebung sorgen), Schutz vor Außenreizen (bspw. Zuschauer, Presse), Präsenz der Helfenden, Gespräche über traumaassoziierte Inhalte begrenzen, auf angemessene Berichterstattung achten (falsche Informationen vermeiden)
-
Beruhigen und entlasten
- Beruhigende Ansprache, Empathie und Geduld zeigen, Trost spenden, Zulassen von Emotionen, Mut machen, auf Grundbedürfnisse eingehen
- Informationen über Angehörige und Freunde geben, Probleme am Einsatzort beheben
- Fördern von Selbstwirksamkeit und Kontrolle
- Betroffenen helfen, sich nicht als hilflose Opfer zu fühlen
- Betroffenen helfen, den Part der aktiv Bewältigenden übernehmen zu können
- Kontakt und soziale Anbindung fördern
- Hoffnung und Zukunftsorientierung stärken
- Vermittlung von Sicherheit
- Bei Bedarf
- Hinzuziehen psychosozialer Notfallhelfender/Fachkräfte
- Betroffene auf Informationsmaterial/-möglichkeiten bzgl. traumatypischer Symptome, Verläufe und Therapien hinweisen
Bei einem Großteil der Betroffenen ist keine weitere Intervention außer der „psychischen Ersten Hilfe“ notwendig! Sie bewältigen die Erlebnisse ohne langfristige Folgen. [13]
Die Therapie der akuten Belastungsreaktion besteht primär darin, Betroffene in Sicherheit zu bringen! Es folgen bei Bedarf stützende Gespräche sowie psychotherapeutische Maßnahmen!
Psychologische Frühinterventionen [2][3][8][14]
- Definition: Psychotherapeutische Maßnahmen zur Unterstützung und Behandlung von Patient:innen innerhalb der ersten 3 Monate nach einem schweren Ereignis [15]
- Voraussetzungen
- Grundlage für therapeutische Intervention: Herstellung einer sicheren zwischenmenschlichen Basis
- Partizipative Entscheidungsfindung: Jede Art der Intervention sollte in Absprache und Einverständnis mit den Patient:innen erfolgen
- Ziel: Prävention negativer Folgen (Traumafolgestörungen)
- Unspezifische Frühinterventionen
- Indikation: Patient:innen mit ausgeprägter Symptomatik und/oder Risikofaktoren, die frühe Maßnahmen erforderlich machen
- Verantwortliche: Primär Behandelnde, bspw. notärztliches, allgemeinmedizinisches oder psychiatrisches Personal
- Durchführung
- Patient:innen Empathie, Wertschätzung und Authentizität entgegenbringen [2][3][16]
- Zu beachten beim Erstkontakt [2]
- Herstellung einer vertrauensvollen und angenehmen Gesprächsatmosphäre, ausreichend Distanz und Eigenschutz wahren , dritte Personen um Anwesenheit bitten
- Patient:innen zunächst frei berichten lassen
- Anschließend Erhebung der anamnestisch relevantesten Daten
- Körperliche Untersuchung, vorher Aufklärung über Grund der Untersuchung
- Unnötige diagnostische Maßnahmen vermeiden [2]
- Psychiatrisches Konsil obligat bei Behandlung in somatischer Abteilung [2]
- Supportive Beratung [3]
- Erlebtes Leid validieren
- Ungünstige Einstellungen und Bewertungen von Situationen verändern (insb. Schuldgefühle)
- Erste Bewältigungsstrategien anregen
- Bspw. auf Ressourcen achten (ausreichend Schlaf, gesundes Essen, Tagesstruktur, Sport, Vermeidung von Alkohol und Drogen), Unterstützung durch soziale Kontakte wahrnehmen, Emotionen zulassen, Entspannungsmethoden anwenden
- Allgemeine Wirkfaktoren der Psychotherapie umsetzen (u.a. Ressourcenaktivierung)
- Psychoedukation
- Informationen an Betroffene weitergeben (bspw. durch Broschüren, Gespräche, Vorträge, Informationsmaterial im Netz), siehe: Tipps&Links
- Aufklärung bzgl. traumatypischer Symptome, Verläufe und Therapiemöglichkeiten
- Abwartendes Beobachten („Watchful Waiting“) [3]
- Patient:innen in den ersten Wochen beobachten, begleiten und ggf. weiterbehandeln
- Posttraumatische Symptome, Schutz- und Risikofaktoren erfassen (Screening)
- Symptomentwicklung im Verlauf beobachten (Monitoring)
- Erhebung mittels Selbstbeurteilung, Beobachtung oder Exploration
- Patient:innen in den ersten Wochen beobachten, begleiten und ggf. weiterbehandeln
- Förderung sozialer Unterstützung
- Beratung zu Angeboten der psychosozialen Versorgung oder Unterstützung durch soziale Institutionen [2]
- Enge Bezugspersonen involvieren [3]
- Spezifische Frühinterventionen
- Indikation: Bei anhaltender, ausgeprägter Symptomatik sowie Hochrisikokonstellationen [3]
- Verantwortliche: Psychotherapeutisches Fachpersonal mit traumatherapeutischer Qualifikation
- Therapien
- Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie (Goldstandard) [3]
- Kognitive Umstrukturierung
- Exposition in sensu und in vivo
- Stressbewältigung und Angstmanagement
- EMDR: Wirksamkeit als Frühintervention durch erste Studien belegt [3]
- Weitere Frühinterventionen (bisher ohne ausreichende Evidenz): Internetgestützte Interventionen und psychodynamisch orientierte Verfahren [3]
- Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie (Goldstandard) [3]
- Abwägung einer stationären Aufnahme bei [9]
- Suizidalität
- Anhaltender dissoziativer Symptomatik, Fluchttendenz
- Ausgeprägten Unruhe- und Erregungszuständen, fremdaggressivem Verhalten
Eine Behandlung muss immer individuell abgewogen werden, da sie auch negativ wirken kann (u.a. durch Pathologisierung oder Stigmatisierung einer eigentlich normalen Reaktion)! [3]
Den Betroffenen sollte Hilfe angeboten werden, ohne sie jedoch dazu zu drängen! [3]
Debriefing als einmaliges Durcharbeiten des traumatischen Erlebnisses soll in der Frühintervention keine Anwendung mehr finden! [3]
Pharmakotherapie [3]
- Indikation
- Behandlung akuter Suizidalität
- Therapieversagen nicht-pharmakologischer Maßnahmen und bei anhaltender, schwerer Symptomatik
- Durchführung: Klinikstandards beachten!
- Bei sehr schwerer Symptomatik: Zur psychischen Entlastung ggf. kurzfristige Gabe von Benzodiazepinen erwägen , bspw. Lorazepam oder Diazepam [3]
- Bei psychotischer Dekompensation (eher selten): Vorzugsweise atypisches Antipsychotikum, bspw. Olanzapin [2]
- Prävention von Traumafolgestörungen: Bisher keine evidenzbasierte Pharmakotherapie [3]
Solange keine akute Suizidalität vorliegt, sollten Psychopharmaka nicht eingesetzt und zunächst abwartend beobachtet werden!
Benzodiazepine sollten möglichst vermieden werden! Sie können die Informationsverarbeitung im Gehirn hemmen und dadurch eine PTBS begünstigen! [3]
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Definition (nach ICD-10) [3][16]
Verzögerte oder protrahierte Reaktion, die innerhalb von 6 Monaten nach einem traumatischen, emotional belastenden Ereignis eintreten kann. Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zählt somit zu den spezifischen Traumafolgestörungen. Gekennzeichnet ist sie durch eine Erschütterung des Selbst- und Weltbildes. Leitsymptome sind ein Wiedererleben des Traumas („Flashbacks“), Vermeidung traumaassoziierter Stimuli und Hyperarousal. Eine Chronifizierung ist möglich (ca. 20–30% der Fälle).
Epidemiologie [11][16][17]
- Lebenszeitprävalenz: 1,9% (Europa) und 6,8% (USA)
- Prävalenzrate bei Jüngeren > Älteren, außer in Regionen mit Kriegsvergangenheit
- Geschlecht: ♀ > ♂ (2–3:1)
- Risikogruppen: Besonders gegenüber Traumatisierungen exponierte Berufsgruppen, bspw. Militär, Feuerwehr, Rettungsdienst, Polizei
Ätiologie und Pathogenese [11]
Die folgenden Punkte zur Ätiologie und Pathogenese der PTBS sind Gegenstand aktueller Forschung und noch nicht vollständig geklärt. Klar ist jedoch eine multifaktorielle Genese, bei der das Trauma nicht als isolierte Ursache, sondern im Kontext von begleitenden Faktoren betrachtet werden muss. Gleiches gilt für die akute Belastungsreaktion.
- Ursache: Erleben oder Beobachten eines traumatischen Ereignisses
- Typ-1-Trauma: Kurzfristiges, plötzliches Auftreten
- Typ-2-Trauma: Länger andauerndes, mehrfaches Auftreten
- Entscheidend ist hierbei [17]
- Schwere des Traumas (Art und Dauer)
- Subjektive Bewertung sowie erlebter Kontrollverlust
- Risikofaktoren [3]
- Prätraumatisch: Traumatische Kindheitserfahrungen, vorherige Traumatisierungen, psychische Erkrankungen, weitere Faktoren
- Peritraumatisch: Hoher empfundener Autonomieverlust, plötzliches Auftreten des Traumas, subjektiv hohe wahrgenommene Lebensgefahr, langandauernde dissoziative Symptome, zwischenmenschliche Gewalt („Man-made-Trauma“) [11][16]
- Posttraumatisch: Mangelnde soziale Unterstützung, körperliche Verletzungen , Schmerzen, anhaltender Stress, fortgesetzte Dissoziationsneigung, eigene Schuldzuweisung, sekundäre Belastungen , Alkoholmissbrauch
- Schutzfaktoren [3]
- Peritraumatisch: Hohe Selbstwirksamkeitserwartung
- Posttraumatisch: Soziale Unterstützung, Schutz vor weiteren Belastungen, hohes Kohärenzgefühl
- Neurobiologische Faktoren
- Neurochemische Einflüsse: Serotoninmangel , Beteiligung des Opioidsystems , erhöhte Katecholaminwerte
- Dysregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
- Permanent erhöhte CRH-Spiegel → Herabregulierung von CRH-Rezeptoren → Verminderte ACTH-Ausschüttung [18]
- Erhöhte Sensitivität für negative Rückkopplung durch Cortisol → Verminderte ACTH-Ausschüttung [18]
- Folge: Verminderte Cortisolausschüttung trotz erhöhter CRH-Spiegel [18]
- Strukturelle und funktionelle Veränderungen: Kleinere Hippocampi, verminderte hippokampale Aktivität , verminderte Aktivität des orbitofrontalen Kortex, erhöhte Reaktion der Amygdala auf traumaassoziierte Stimuli
- Genetische Einflussfaktoren [16]
- Integrativ biologisches Erklärungsmodell: Veränderte Verarbeitung angstauslösender Stimuli im Gehirn
- „Normaler“ Weg: Thalamus → Assoziationskortex → Orbitofrontaler Kortex und Hippocampus → Amygdala
- „Verkürzter“ Weg (pathologisch): Thalamus → Amygdala
- Folge: Ausbildung eines sog. Traumagedächtnisses [7][11]
- Mögliche Einflussfaktoren zur Ausbildung des Traumagedächtnisses: Hypocortisolismus → Erhöhte Katecholaminfreisetzung bei Stress → Inhibition des präfrontalen Kortex, Disinhibition der Amygdala
Mangelnde soziale Unterstützung hat eine zentrale Bedeutung bei der Entwicklung einer PTBS! [17]
Prognose [17]
Symptome
Die Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung ist vielfältig. [11][1]
- Wiedererinnerung: Häufig ausgelöst durch einen Schlüsselreiz (sog. „Trigger“)
- Intrusionen: Eindringliches, ungewolltes Erinnern und Wiedererleben psychotraumatischer Ereignisse bei erhaltener Realitätskontrolle
- Flashbacks: Ausgeprägte Form der Intrusion
- Traumatisches Ereignis wird durch Gedanken, Gefühle und Bilder erneut erlebt
- Realitätskontrolle i.d.R. nicht mehr erhalten
- Intrusive Bilder
- Albträume
- Vermeidungsverhalten [16]
- Vermeidung von Gesprächen, Situationen, Orten etc., die mit Trauma in Verbindung stehen oder gebracht werden
- Emotionale Taubheit (Numbing)
- Partielle Amnesie: Erinnerungsbeeinträchtigung in Bezug auf das traumatische Ereignis
- Hyperarousal
- Psychische Übererregung: Reizbarkeit, erhöhte Anspannung, Wutausbrüche, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, übermäßige Wachsamkeit , erhöhte Schreckhaftigkeit
- Vegetative Übererregung: Tachykardie (subjektiv Herzklopfen oder -rasen), Engegefühl in der Brust, Atembeschwerden, Zittern
- Weitere Symptome
- Depressivität: Interessenverlust, Anhedonie, emotionale Abstumpfung und sozialer Rückzug
- Anhaltende negative Einstellungen und verzerrte Kognitionen, bspw. bzgl. der Schuldzuweisung [17]
- Dissoziative Symptome : Bspw. dissoziative Amnesie, Derealisation, Depersonalisation, Abwesenheit, Lähmungen
- Suizidgedanken (siehe auch: Suizidalität im Rahmen psychiatrischer Grunderkrankungen)
- Symptombedingt folgen meist psychosoziale Komplikationen: Bspw. Arbeitsplatzverlust oder Konflikte in zwischenmenschlichen Beziehungen
- Komorbiditäten [21]
- Psychische Störungen: Affektive Störungen, Suchterkrankungen , Somatisierungsstörungen, Psychosen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Angst- und Zwangsstörungen
- Somatische Störungen: Arterielle Hypertonie, Asthma, chronische Schmerzsyndrome, rheumatische Erkrankungen
Die Rate an Suizidversuchen ist bei Vorliegen einer PTBS ca. 8-fach erhöht! [11]
Komorbide Störungen sind bei der PTBS häufig!
Diagnostik (inkl. diagnostischer Kriterien)
Exploration
Die primäre Diagnostik sollte in einem persönlichen, einfühlsamen Gespräch erfolgen. Hierbei kommt insb. Hausärzt:innen eine besondere Rolle zu, da sich Betroffene häufiger aufgrund komorbider Störungen in Behandlung geben. Sie sehen ihre Symptomatik vielmehr als „Problem“, mit dem man zurechtkommen muss, und nicht als Erkrankung. [11][21]
- Psychiatrische Anamnese inkl. der Spontansymptomatik und Traumavorgeschichte mit Erhebung des psychopathologischen Befundes
- Beachten einer entsprechenden Gesprächsatmosphäre und vertrauensvollen Beziehung
- Gezieltes Erfragen des traumatischen Erlebnisses mit zeitlichem Zusammenhang zur Symptomatik [11]
- Aktives Zuhören [16]
- Vermeidung kritischer und abwertender Bemerkungen [16]
- Erfassung der Schutz- und Risikofaktoren (siehe: Ätiologie der PTBS)
- Beurteilung der Eigengefährdung, insb. Suizidalität (siehe auch: Suizidanamnese, Hauptrisikofaktoren für Suizidalität)
- Einschätzen der Fremdgefährdung
- Substanzintoxikationen und -abhängigkeiten (siehe auch: Diagnostik der Alkoholabhängigkeit, Opioidabhängigkeit, Differenzialdiagnose Drogenintoxikation)
- Psychiatrische Vorerkrankungen
- Körperliche Vorerkrankungen
- Körperliche Verletzungen, insb. Kopfverletzungen [11]
- Vormedikation
- Ausschluss organischer Ursachen
- Internistische Untersuchung
- Neurologische Untersuchung
- Bestimmung der Vitalparameter (Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung)
- Labordiagnostik [7][11]
- Routinelabor, siehe auch: Labordiagnostik in der Psychiatrie
- Bei klinischem Verdacht: Ggf. Liquordiagnostik (Lumbalpunktion), Urin-Drogenscreening
- Weitere apparative Diagnostik, bspw.
- EKG
- Bei klinischem Verdacht: Ggf. EEG, bildgebende Verfahren (cCT, cMRT)
- Siehe auch: Apparative Diagnostik in der Psychiatrie
- Unterstützend
- Psychometrische Tests (Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen) und PTBS-spezifische strukturierte klinische Interviews
- Screeningbögen (bspw. für Verkehrsunfälle)
- Diagnosestellung: Erfolgt nach klinischen Kriterien der ICD
- Siehe: Diagnostische Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-10
- Für diagnostische Kriterien nach ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) siehe: Tipps & Links
- Empfohlen: Anwendung der ICF zur Abbildung der funktionalen Gesundheit
PTBS-Patient:innen werden häufiger wegen anderer Symptome (Angst, Depression, somatischer Beschwerden) behandelt. Sie geben das Trauma oftmals aus Scham nicht an! [11]
Die Diagnostik kann für die Patient:innen sehr belastend sein! [11]
Diagnostische Kriterien
Nach ICD-10
Diagnostische Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-10 [10] | |
---|---|
Allgemeine Voraussetzungen |
|
Zusätzlich entweder |
|
oder |
|
Nach ICD-11 [12]
- Wesentliche Änderungen, u.a.
- Kodierung in neuer Kategorie: „Spezifisch Belastungs-assoziierte Störungen“
- Änderung eines Traumakriteriums: Individuelles Erleben der betroffenen Person vordergründig
- Aufhebung des strengen Zeitkriteriums aber Symptomdauer mind. mehrere Wochen
- Reduzierung auf 3 Kriterien
- Wiedererleben
- Vermeidung
- Anhaltende Bedrohungswahrnehmung
- Neue Diagnose: Komplexe PTBS (KPTBS)
- Klassische Symptome bei PTBS
- Zusätzlich
- Veränderungen in der Affektregulation und Impulskontrollstörung, bspw. gewaltsame Emotionsausbrüche, selbstschädigendes Verhalten, Affektverflachung
- Negatives Selbstkonzept, bspw. quälende Scham- und Schuldgefühle, Minderwertigkeitsgefühle
- Problematische zwischenmenschliche Beziehungen, bspw. Misstrauen anderen Personen gegenüber, kaum Gespür für die eigenen Grenzen oder die anderer
- Für mehr Informationen zur ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) siehe: Tipps & Links
Nach DSM-5
- Gilt für Personen >6 Jahre
Kriterium | Diagnostische Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM-5 [1] |
---|---|
A |
|
B (≥1 Symptom) |
|
C (≥1 Symptom) |
|
D (≥2 Symptome) |
|
E (≥2 Symptome) |
|
F |
|
G |
|
H |
|
Subtypen der PTBS: Mit zusätzlich wiederkehrenden dissoziativen Symptomen (1. Depersonalisation, 2. Derealisation) oder mit verzögertem Beginn: Initial einzelne Symptome, jedoch erst >6 Monate nach dem Ereignis werden alle Kriterien erfüllt |
Differenzialdiagnostik [1][3]
- Andere Traumafolgestörungen, bspw.
- Affektive Störungen, bspw. Depressionen
- Angst- und Panikstörungen
- Somatoforme Störungen
- Suchterkrankungen
- Akute Belastungsreaktion und Anpassungsstörung
- Persönlichkeitsstörungen
- Dissoziative Störungen
- Zwangsstörungen
- Psychotische Störungen (bspw. Schizophrenie, akute vorübergehende psychotische Störungen, affektive Störungen mit psychotischen Symptomen)
Therapie
Allgemein [7][21][22]
- Schwerpunkt: Traumafokussierte psychotherapeutische Interventionen
- Ziele
- Verarbeitung der Erinnerung an das Trauma und/oder seiner jeweiligen Bedeutung
- Belastende Erinnerungen aushalten können
- Sicherheit erfahren
- Vermeidungsverhalten reduzieren
- Integration der traumatischen Inhalte in einen sinnvollen Kontext
- Voraussetzungen
- Grundlage für therapeutische Intervention: Herstellung einer sicheren zwischenmenschlichen Basis
- Partizipative Entscheidungsfindung: Jede Art der Intervention sollte in Absprache und Einverständnis mit den Patient:innen erfolgen
- Abklärung des individuellen Stabilisierungsbedarfs
- Setting: I.d.R. ambulant, Wechsel zwischen ambulanter und stationärer Therapie jedoch möglich
- Durchführung: I.d.R. im multiprofessionellen Team, sollte flexibel angepasst werden je nach individuellem Bedarf
Psychotherapie
- Frühinterventionen siehe: Therapie der akuten Belastungsreaktion
- Methode der Wahl
- Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie, nach Stabilisierung üblicherweise mit folgenden zentralen Bestandteilen: Imaginative Exposition, narrative Exposition, Exposition in vivo sowie kognitive Umstrukturierung
- Prolongierte Exposition (nach Foa)
- Kognitive Verarbeitungstherapie (nach Resick)
- Kognitive Therapie nach Ehlers und Clark
- Narrative Expositionstherapie (NET)
- Kombinationen aus expositionsbasierten und kognitiven Ansätzen
- EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing): Unter therapeutischer Anleitung Wachrufen der Traumaszene, gleichzeitig folgen die Augen den sich von links nach rechts bewegenden Fingern der behandelnden Person
- Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie, nach Stabilisierung üblicherweise mit folgenden zentralen Bestandteilen: Imaginative Exposition, narrative Exposition, Exposition in vivo sowie kognitive Umstrukturierung
- Weitere traumafokussierte Interventionen (bisher ohne ausreichende Evidenz)
- Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy (IRRT)
- Metakognitive Therapie nach Wells
- Brief Eclectic Psychotherapy
- Nicht-traumafokussierte Interventionen
- Stressimpfungstraining
- Programm „Sicherheit finden“
- Phasenbasierte Behandlungsansätze zur Behandlung der komplexen PTBS
- Skills-Training zur affektiven und interpersonellen Regulation/narrative Therapie (STAIR/NT)
- Dialektisch-Behaviorale Therapie für PTBS (DBT-PTBS)
- Adjuvante Therapien
- Ergo-, Kunst-, Musik-, Bewegungs- oder Physiotherapie [21]
- Weitere Problembereiche wie bspw. Trauerprozesse, soziale Neuorientierung oder das erhöhte Risiko erneuter Gewalterfahrung (bei Gewaltopfern) berücksichtigen [21]
- Rehabilitation: Im Anschluss an die Akutbehandlung, zur beruflichen und gesellschaftlichen Reintegration [21]
Alle Patient:innen sollten die Möglichkeit einer traumafokussierten Psychotherapie erhalten! [21]
Relative Kontraindikationen für Traumabearbeitung: Suizidalität, psychotische Symptome, dissoziative Symptome, Selbstverletzung, Fremdaggression, Substanzmissbrauch! [21]
Pharmakotherapie [11][21]
Eine Pharmakotherapie ist nur adjuvant (oder alternativ bei Ablehnung oder fehlender Möglichkeit einer Psychotherapie) anzuwenden. Patient:innen sollten darüber aufgeklärt werden, dass ein therapeutischer Effekt bei der Behandlung mit Antidepressiva deutlich zeitverzögert eintritt.
- Mittel der Wahl: Sertralin [23] oder Paroxetin [24]
- Initial: Zu Beginn etwas niedrigere Dosierung als üblich wählen, da PTBS-Patienten meist empfindsamer auf Nebenwirkungen reagieren
- Erhaltungsdosis
- Mind. 8–12 Wochen eher hohe Erhaltungsdosis, da Effekt meist später als bei Depressionen einsetzt
- Erhaltungstherapie mind. 1 Jahr; bei persistierender Restsymptomatik mind. 2 Jahre
- Alternativ (Off-Label Use): Venlafaxin
Unter der Behandlung mit den hier genannten Antidepressiva kann es zu einer passageren Verstärkung von Albträumen und Suizidalität kommen. Die Patient:innen sollten darüber aufgeklärt werden! [7]
Eine alleinige Pharmakotherapie ist nicht anzustreben! Sie sollte, wenn möglich, nur als adjuvante Therapie zur Symptomkontrolle angewendet werden und ersetzt keine traumaspezifische Psychotherapie!
Der Einsatz von Benzodiazepinen wird nicht empfohlen!
Anpassungsstörung
Definition
Die Anpassungsstörung bezeichnet Beeinträchtigungen, die während des Anpassungsprozesses nach einer Lebensveränderung entstehen können und die Lebensqualität einschränken. Diese Beeinträchtigungen sind meist depressive Verstimmungen, Ängste sowie das Gefühl, in der Alltagsbewältigung eingeschränkt zu sein. Ihr Auftreten wird begünstigt durch eine erhöhte individuelle Vulnerabilität. Im Vergleich zur akuten Belastungsreaktion entwickelt sich eine Anpassungsstörung langsamer (nach ICD-10 ≤1 Monat; nach DSM-5 ≤3 Monate), hält aber bis zu 6 Monate an. Sie zählt zu den häufigsten gestellten psychiatrischen Diagnosen.
Die Anpassungsstörung ist eine ≤6 Monate andauernde, meist depressive Reaktion auf eine Veränderungskrise/Lebenskrise (Trennung, Tod)!
Epidemiologie [11]
- Prävalenz: Starke Schwankungen, je nach untersuchter Bevölkerung und eingesetzter Klassifikationssysteme
- In klinischen Untersuchungsgruppen deutlich höhere Raten als in der Allgemeinbevölkerung
- 10–20% aller Patient:innen, die ambulant psychiatrisch behandelt werden
- 50% der konsiliarisch gesehenen Patient:innen
- In klinischen Untersuchungsgruppen deutlich höhere Raten als in der Allgemeinbevölkerung
- Punktprävalenz: 0,9–2,3%
- ♀ > ♂
- Erhöhtes Risiko für Alleinstehende
Ätiologie und Pathogenese [11]
- Ursache/Auslöser
- Belastendes Lebensereignis bzw. Krise oder entscheidende Lebensveränderung bzw. größerer Entwicklungsschritt, definitionsgemäß kein außergewöhnliches oder katastrophales Ausmaß („Life Events“) [2][11]
- Beispiele: Tod einer nahestehenden Person, Trennung, Arbeitsplatzverlust, Geburt eines Kindes, Heirat, Pensionierung, Misserfolg, familiäre Konflikte, Diagnose einer schweren körperlichen Erkrankung, Auswanderung
- Multifaktorielles Geschehen (siehe auch: Vulnerabilitäts-Stress-Modell)
- Zusammenspiel aus geringer Resilienz, erhöhter Vulnerabilität und mangelnden Bewältigungsstrategien
- Vermutlich Einfluss genetischer Faktoren sowie von Risikofaktoren ähnlich wie bei der PTBS
Prognose
- Chronifizierung: 10–20% [11]
- Erhöhtes Risiko für Depressionen [7]
Symptome
Die Symptome einer Anpassungsstörung sind variabel und i.d.R. von leichterer bis mittlerer Intensität. [11]
- Depressive Symptome
- Angstsymptome
- Störungen des Sozialverhaltens (bspw. Aggressivität und dissoziales Verhalten)
- Konzentrationsstörungen
- Substanzmissbrauch
- Somatische Beschwerden: Muskelverspannungen, Verdauungsstörungen
- Suizidalität
- Psychosoziale Komplikationen, bspw. Probleme am Arbeitsplatz, Konflikte in zwischenmenschlichen Beziehungen, Probleme in der Alltagsbewältigung
Anpassungsstörungen gehen mit einem erhöhten Suizidrisiko einher! [1]
Diagnostik (inkl. diagnostischer Kriterien)
Exploration
- Psychiatrische Anamnese und Erhebung des psychopathologischen Befundes, besonderes Augenmerk auf
- Frühere belastende Lebensereignisse und den jeweiligen Umgang damit [11]
- Soziale Einbindung [11]
- Beurteilung der Eigengefährdung, insb. Suizidalität (siehe auch: Suizidanamnese, Hauptrisikofaktoren für Suizidalität)
- Ausschluss organischer Ursachen
- Internistische Untersuchung
- Neurologische Untersuchung
- Bestimmung der Vitalparameter (Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung)
- Labordiagnostik [7][11]
- Routinelabor, siehe auch: Labordiagnostik in der Psychiatrie
- Bei klinischem Verdacht: Ggf. Liquordiagnostik (Lumbalpunktion), Urin-Drogenscreening
- Weitere apparative Diagnostik, bspw.
- EKG
- Bei klinischem Verdacht: Ggf. EEG, bildgebende Verfahren (cCT, cMRT)
- Siehe auch: Apparative Diagnostik in der Psychiatrie
- Diagnosestellung: Erfolgt nach klinischen Kriterien gemäß ICD bzw. DSM-5, siehe:
- Diagnostische Kriterien einer Anpassungsstörung nach ICD-10
- Diagnostische Kriterien einer Anpassungsstörung nach DSM-5
- Diagnostische Kriterien nach ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung): Unter Tipps & Links
Diagnostische Kriterien
Nach ICD-10
Kriterium | Diagnostische Kriterien einer Anpassungsstörung nach ICD-10 [10] |
---|---|
A |
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B |
|
C |
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Differenzierungen |
|
Nach ICD-11 [12]
- Wesentliche Änderungen, u.a.
- Nennung spezifischer Kernsymptome
- Gedankliche Überbeschäftigung mit dem Stressor
- Anpassungsschwierigkeiten im Alltag
- Anhaltende Trauerstörung wird eigenständig gelistet
- Nennung spezifischer Kernsymptome
- Für mehr Informationen zur ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) siehe: Tipps & Links
Nach DSM-5
Kriterium | Diagnostische Kriterien einer Anpassungsstörung nach DSM-5 [1] |
---|---|
A |
|
B |
|
C |
|
D |
|
E |
|
Differenzierungen |
|
Zusätzlich |
|
Differenzialdiagnostik [11][1]
Therapie
Allgemein [11]
Es liegen bislang keine evidenzbasierten Therapieempfehlungen vor.
- Setting: I.d.R. ambulant
- Durchführung: Aufbauende Gespräche sowie soziale und emotionale Unterstützung im Sinne einer Krisenintervention, ggf. verhaltenstherapeutische Interventionen
- Herstellung einer empathischen Beziehung
- Möglichkeit geben, das Erlebte in Worte zu fassen
- Transparente Kommunikation und partizipative Entscheidungsfindung
- Psychoedukation
- Ressourcenaktivierung
- Entwicklung von Bewältigungsstrategien (Coping-Strategien), bspw.
- Problemlösungsstrategien
- Stressbewältigung
- Entspannungsübungen und Achtsamkeitsübungen zur Symptomreduktion
- Kognitive Umstrukturierung
- Aktivierung des sozialen Netzes
- Abwägung einer stationären Aufnahme bei
- Suizidalität
- Stark ausgeprägter Symptomatik
- Fehlender sozialer Unterstützung
Pharmakotherapie [11]
Es gibt in Deutschland kein zugelassenes Medikament für die Behandlung der Anpassungsstörung. Der therapeutische Einsatz von Psychopharmaka erfolgt i.d.R. Off-Label.
- Indikation
- Behandlung von akuter Suizidalität
- Symptomorientiert, bei anhaltender, schwerer Symptomatik
- Substanzen
- Bei vorwiegend depressiver Symptomatik
- Antidepressiva: SSRI, bspw. Citalopram (Off-Label Use) [25]
- Bei schwerer Symptomatik, bspw. Angstzuständen: Zur psychischen Entlastung ggf. kurzfristige Gabe von Benzodiazepinen erwägen , bspw. Lorazepam (sehr gute anxiolytische Wirkung) oder Diazepam [3]
- Bei Schlafstörungen: Antidepressivum in schlafanstoßender Dosierung, bspw. Mirtazapin (Off-Label Use)
- Bei vorwiegend depressiver Symptomatik
Patienteninformationen
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
F43.-: Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen
- F43.0: Akute Belastungsreaktion
- Akut: Belastungsreaktion, Krisenreaktion
- Kriegsneurose
- Krisenzustand
- Psychischer Schock
- F43.1: Posttraumatische Belastungsstörung
- Traumatische Neurose
- F43.2: Anpassungsstörungen
- Hospitalismus bei Kindern
- Kulturschock
- Trauerreaktion
- Exklusive: Trennungsangst in der Kindheit (F93.0)
- F43.8: Sonstige Reaktionen auf schwere Belastung
- F43.9: Reaktion auf schwere Belastung, nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.