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Intelligenzminderung

Letzte Aktualisierung: 27.8.2024

Zusammenfassungtoggle arrow icon

Die Intelligenzminderung ist durch eine Beeinträchtigung kognitiver sowie alltagspraktischer Fertigkeiten gekennzeichnet und manifestiert sich vor Erreichen des Erwachsenenalters. Die Ursachen sind vielfältig, wobei endogene, i.d.R. genetisch bedingte Faktoren (bspw. Trisomie 21, Fragiles-X-Syndrom), von exogenen Ursachen (bspw. fetale Alkoholspektrumstörung, Geburtskomplikationen) unterschieden werden. Bei V.a. eine Intelligenzminderung sollte so früh wie möglich eine umfassende ätiologische Abklärung erfolgen, zu der neben einer umfassenden Anamnese und körperlichen Untersuchung auch testpsychologische und ggf. genetische Untersuchungsverfahren gehören. Personen mit Intelligenzminderung sind vulnerabler für somatische und psychische Erkrankungen, was einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Dabei erschweren Kommunikationsstörungen und z.T. abweichende Symptompräsentation häufig deren Diagnostik.

Therapeutische Maßnahmen zielen insb. auf die Verbesserung der Anpassungsfähigkeit und somit Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ab. Hier können u.a. psychotherapeutische und heilpädagogische Interventionen eine Rolle spielen. Eine medikamentöse Therapie der Intelligenzminderung selbst ist nicht möglich; häufigste Indikationen für eine medikamentöse Therapie sind sog. Verhaltensauffälligkeiten (Challenging Behaviour) oder komorbid vorliegende Störungen.

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Epidemiologietoggle arrow icon

  • Prävalenz (abhängig vom Schweregrad): 0,6–1,8% [1][2]
  • Geschlechterverteilung: > [1]

Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.

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Ätiologietoggle arrow icon

Es werden endogene, i.d.R. genetisch bedingte, von exogenen (erworbenen) Ursachen unterschieden. Insb. bei der leichten Intelligenzminderung spielen auch soziokulturelle Faktoren eine Rolle. Im Folgenden beispielhaft aufgeführt sind wichtige Ursachen ohne Anspruch auf Vollständigkeit. [1][2]

Genetische Ursachen

Erworbene Ursachen

Iodmangel ist weltweit die häufigste vermeidbare Ursache einer Intelligenzminderung!

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Symptomatiktoggle arrow icon

Allgemein [1]

  • IQ-Wert <70
  • Einschränkungen im adaptiven Verhalten
  • Manifestierung der Störung meist vor Erreichen des Erwachsenenalters

Einteilung

Die Schweregradeinteilung dient nur der Orientierung, bei der eine zu starre Anwendung der IQ-Werte vermieden werden sollte. Häufig ist eine genaue Abgrenzung der Untergruppen gar nicht möglich.

Einteilung der Intelligenzminderung nach Schweregrad (angelehnt an ICD-10) [1][2][5][6]
Schweregrad IQ-Wert Merkmale
Leichte Intelligenzminderung 50–69
  • Intelligenzalter bei Erwachsenen: 9 bis <12 Jahren
  • Sprache: Häufig verzögerter Spracherwerb bei erhaltener Fähigkeit zur Konversation im Alltag
  • Motorik: Mitunter verzögerte Entwicklung
  • Soziale/emotionale Fertigkeiten: Variable Beeinträchtigungen
  • Bildung
    • Lernschwierigkeiten in der Schule, v.a. beim Lesen/Schreiben
    • Meist einfache (praktische) berufliche Tätigkeit möglich
  • Selbstversorgung: Erhaltene Autonomie
  • Ursache
    • I.d.R. keine organische Ursache
    • Gehäuftes Auftreten in Familien mit ebenfalls niedrigen IQ-Werten
Mittelgradige Intelligenzminderung 35–49
  • Intelligenzalter bei Erwachsenen: 6 bis <9 Jahren
  • Sprache: Deutliche Verzögerung/Einschränkung in der sprachlichen Entwicklung, einfache Kommunikation möglich
  • Motorik: Verzögerte Entwicklung, i.d.R. mobil
  • Soziale/emotionale Fertigkeiten: Soziale Kontakte möglich, ggf. Schwierigkeiten bei emotionaler Selbstkontrolle und Regeleinhaltung
  • Bildung
    • Meist einfache, praktische Tätigkeit mit Unterstützung möglich
    • Zählen, Lesen, Schreiben oft möglich
    • Besondere Begabung in einzelnen Teilbereichen möglich
  • Selbstversorgung: Komplett autonome Lebensgestaltung i.d.R. nicht möglich
  • Ursache
Schwere Intelligenzminderung 20–34
  • Intelligenzalter bei Erwachsenen: 3 bis <6 Jahren
  • Sprache: Spracherwerb stark eingeschränkt, verbale Kommunikation i.d.R. nicht oder nur gering möglich
  • Motorik: Meist deutliche Einschränkungen
  • Soziale/emotionale Fertigkeiten: Ähnlich wie bei mittelgradiger Intelligenzminderung
  • Bildung
    • Einfache Kenntnisse erlernbar
    • Meist einfache, praktische Tätigkeit mit Unterstützung möglich
  • Selbstversorgung: I.d.R.keine autonome Lebensführung möglich, intensive Betreuung erforderlich
  • Ursache: Meist organische Ursache
Schwerste Intelligenzminderung <20
  • Intelligenzalter bei Erwachsenen: <3 Jahren
  • Sprache: I.d.R. nur rudimentäre nonverbale Kommunikation
  • Motorik: Erhebliche motorische Fehlentwicklung bis hin zur Immobilität
  • Soziale/emotionale Fertigkeiten: Deutliche Einschränkungen
  • Bildung: Ggf. visuell-räumliche Fertigkeiten möglich (bspw. Ordnen/Sortieren)
  • Selbstversorgung: Keine autonome Lebensführung möglich, i.d.R. hochgradig pflegebedürftig
  • Ursache: Meist organische Ursache
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Komorbiditätentoggle arrow icon

Personen mit Intelligenzminderung sind vulnerabler für somatische und psychische Erkrankungen. Dabei erschweren Kommunikationsstörungen und z.T. abweichende Symptompräsentation häufig deren Diagnostik. [1][6]

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Diagnostiktoggle arrow icon

Basisdiagnostik [1][2]

Bei V.a. eine Intelligenzminderung sollte die Ätiologie so früh wie möglich umfassend abgeklärt werden.

Neben der Exploration der Betroffenen sollte immer eine umfassende Fremdanamnese (bspw. der Eltern) durchgeführt werden!

Testpsychologische Verfahren [1]

Eine fundierte und differenzierte Messung eines IQ-Wertes <50 ist nicht möglich.

Testverfahren zur Diagnostik der Intelligenzminderung (Auswahl) [1]
Indikation Test Alter
  • Messbereich: Unterdurchschnittliche Intelligenz (IQ: 70–84) und leichte Intelligenzminderung (IQ: 50–69)
  • Keine/geringe Einschränkungen bei den Zugangsfertigkeiten
KABC-II (Kaufman Assessment Battery for Children - II) 3–18 Jahre
WAIS-IV (Wechsler Adult Intelligence Scale - IV) 16–89 Jahre
WISC-V (Wechsler Intelligence Scale for Children - V) 6–16 Jahre
WPPSI-IV (Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence - IV) 2,6–7,7 Jahre
  • O.g. Testverfahren können aufgrund folgender Faktoren nicht durchgeführt werden
    • Alter
    • Schwere der kognitiven Beeinträchtigung
    • Fehlende Zugangsfertigkeiten

AID 3 (Adaptives Intelligenz Diagnostikum 3)

6–15 Jahre
Sprachfreier Index der KABC-II 3–18 Jahre
RIAS (Reynolds Intellectual Assessment Scales and Screening) 3–99 Jahre

SON-R 2-8 (Snijders-Oomen Non-verbaler Intelligenztest 2–8 – Revision)

2–8 Jahre

Eine Intelligenzminderung sollte so früh wie möglich diagnostisch abgeklärt werden!

Weiterführende Diagnostik [1]

Sofern sich anhand der oben aufgeführten Basisdiagnostik kein spezifischer V.a. eine Ursache der Intelligenzminderung ergeben hat, werden folgende Untersuchungen empfohlen:

Genetische Stufendiagnostik [10]

  1. Chromosomenanalyse
  2. Array-CGH
  3. Molekulargenetische Diagnostik des Fragiles-X-Syndroms
  4. Next Generation Sequencing (NGS): Panel-Diagnostik
  5. Whole Exome Sequencing

Labordiagnostik

Stoffwechseldiagnostik

Bildgebung

Diagnosestellung

Die Diagnose einer Intelligenzminderung sollte behutsam, sorgfältig und interdisziplinär gestellt werden. Sie kann zwar Vorteile (bspw. frühe Fördermöglichkeiten und Zugänge zu Unterstützungssystemen), aber auch erhebliche Nachteile (bspw. soziale Ausgrenzung) mit sich bringen. [1]

  • Beruht auf [1]

Die Diagnose sollte immer das gegenwärtige Funktionsniveau erfassen und dabei berücksichtigen, dass sich intellektuelle Fähigkeiten durch therapeutische Maßnahmen verbessern können! [6]

Klassifikationssysteme

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Therapietoggle arrow icon

Da Intelligenzminderung i.d.R. nicht heilbar ist, dienen therapeutische Interventionen insb. der Behandlung komorbider Störungen, der Verbesserung der Anpassungsfähigkeit und somit der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Sie sollten, wann immer möglich, ambulant im vertrauten Lebensumfeld durchgeführt werden. [7]

Nicht-medikamentöse Therapie

Psychotherapie [1]

  • Verfahren: Grundsätzlich alle Verfahren möglich, jedoch insb.
  • Anwendungshinweise: Anpassung an die besonderen Bedürfnisse der Betroffenen
    • Kürzere Dauer, dafür höhere Frequenz der Therapieeinheiten
    • Einfache Kommunikation (u.a. kurze Sätze, keine Fremdwörter)
    • Aktivere, direktivere und stärker lenkende Rolle der Therapeut:innen
    • Therapieinhalte
      • Möglichst konkret und handlungsbezogen
      • Spielerische Inhaltsvermittlung und Nutzung von Veranschaulichungshilfen
    • Einbezug von Angehörigen/Betreuungspersonen
  • Setting: Ggf. Durchführung der therapeutischen Arbeit im Lebensumfeld der Betroffenen

Weitere [1][6]

Je nach Symptomatik und unter aktivem Einbezug von vertrauten Bezugspersonen (z.B. Eltern) :

Medikamentöse Therapie [1]

Die medikamentöse Behandlung erfolgt stets eingebettet in ein therapeutisches Gesamtkonzept, unter Einschluss von psycho- und soziotherapeutischen sowie pädagogischen Maßnahmen. Einer der wichtigsten Indikationen für eine Psychopharmakotherapie stellt das Challenging Behaviour dar. [7]

  • Einsatz
    • Symptomorientiert
    • Bei Komorbiditäten
  • Durchführung
    • Grundsatz: „Start low, go slow“
    • Monotherapie bevorzugen
    • Bestimmung einer verantwortlichen Person, die die Medikamenteneinnahme sicherstellt
    • Unter regelmäßiger Evaluation von Dosierung, Wirkung und Nebenwirkung

Indikation

Im Folgenden aufgeführt sind die therapeutischen Besonderheiten bei Challenging Behaviour und ADHS. Für die Behandlung weiterer Komorbiditäten sei auf die Therapie der entsprechenden Krankheitsbilder verwiesen.

Challenging Behaviour

Eine medikamentöse Behandlung von Challenging Behaviour sollte erst durchgeführt werden, wenn alle anderen therapeutischen Interventionen (psycho- und soziotherapeutisch, pädagogisch) zu keinem ausreichenden Effekt geführt haben.

ADHS bei Kindern und Jugendlichen

  • Geringere Response- und höhere Nebenwirkungsrate
  • Keine Gabe von Stimulanzien bei IQ-Werten <50 [12]
  • Keine Gabe von Atomoxetin (nicht wirksam)
  • Siehe auch: ADHS - Therapie
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Praxistipps für die medizinische Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderungtoggle arrow icon

Besonderheiten der Untersuchungssituation [9]

  • Interaktion
    • Auf Augenhöhe begegnen
    • Einfache Sprache/Kommunikation wählen (u.a. kurze Sätze, keine Fremdwörter/Metaphern)
    • Genügend Zeit zum Antworten geben („6-Sekunden-Regel“)
    • Wertschätzende und empathische Grundhaltung einnehmen
  • Untersuchung/Diagnostik

Besonderheiten der Diagnostik [9]

Verhaltensweisen und deren mögliche (Schmerz‑)Ursache
Verhalten Mögliche Ursachen (Auswahl) Maßnahmen
  • Am Ohr reiben
  • Otoskopie
  • Ins eigene Gesicht schlagen
  • Spucken
  • Nahrungsverweigerung
  • Unruhe
  • Autoaggressives Verhalten
  • Juckende Hautkrankheiten
  • Wälzen/Schlagen am Boden
  • Schreien
  • Schonhaltung
  • Manipulation im Genitalbereich
  • Urinstatus
  • Ggf. Untersuchung/Inspektion des Genitalbereiches
  • Fremd-/Autoaggressives Verhalten
  • Unruhe
  • Schreien
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025toggle arrow icon

F7.-: Intelligenzstörung

Zusatzcodierung

Die folgenden vierten Stellen sind bei den Kategorien F70F79 zu benutzen, wenn das Ausmaß der Verhaltensstörung angegeben werden soll:

  • .0 Keine oder geringfügige Verhaltensstörung
  • .1 Deutliche Verhaltensstörung, die Beobachtung oder Behandlung erfordert
  • .8 Sonstige Verhaltensstörung
  • .9 Ohne Angabe einer Verhaltensstörung

Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.

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