Zusammenfassung
Morbus Menière ist gekennzeichnet durch eine anfallsartig auftretende Symptomtrias bestehend aus Drehschwindel, Tinnitus und akuter Hörminderung. Die Anfälle dauern Minuten bis Stunden und können mit Übelkeit und Erbrechen einhergehen. Zusätzlich wird oft von einem Druckgefühl im betroffenen Ohr berichtet. Während die Anfallshäufigkeit über die Jahre i.d.R. abnimmt, besteht eine zunächst fluktuierende Tieftonschwerhörigkeit auch im anfallsfreien Intervall, die progredient verläuft. Die Krankheitsursache ist nicht geklärt, allerdings geht die Krankheit fast immer mit einem endolymphatischen Hydrops einher und wird grundsätzlich auf eine Störung der Innenohrhomöostase zurückgeführt. Es bestehen therapeutische Ansätze, um die Häufigkeit, Dauer und Stärke der Attacken zu verringern, allerdings mit teilweise geringer Evidenz.
Epidemiologie
Ätiologie
- Idiopathisch (ca. 90%)
- Genetisch bedingt (7–15%) [3]
- Bei Auftreten im Kindesalter liegt häufig eine positive Familienanamnese vor [3][4]
- Komorbiditäten [5][6]
- Neurologisch: Bspw. Migräne
- Autoimmun: Bspw. rheumatoide Arthritis
Pathophysiologie
Der Erkrankung liegt eine Störung der Innenohrhomöostase zugrunde, deren Pathophysiologie im Detail ungeklärt ist. Es existieren verschiedene Erklärungsansätze. Das angeborene Immunsystem, proinflammatorische Zytokine sowie der Transkriptionsfaktor NF-κB scheinen bei der Krankheitsentstehung eine Rolle zu spielen. [7][8][9]
- Endolymphhydrops: Lässt sich bei nahezu allen Betroffenen nachweisen
- Definition: Pathologische Zunahme von Endolymphe im Innenohr
- Membranrupturtheorie
- Erweiterung des Endolymphraumes mit Riss von Membranen des Innenohrs
- Vermischung von kaliumreicher (natriumarmer) Endolymphe mit natriumreicher (kaliumarmer) Perilymphe führt zu pathologisch erhöhter Kaliumkonzentration der Perilymphe
- Akute Anfallsymptomatik: Depolarisation von Haarsinneszellen, führt insb. zur Übererregbarkeit des Vestibularorgans als Ursache des Schwindelanfalls sowie zur akuten Hörstörung
- Chronische Symptomatik: Langfristige, durch chronisch-rezidivierende Elektrolytstörungen bedingte Schädigung der Haarsinneszellen im Innenohr, bewirkt insb. progrediente Hörstörung
- Besserung des akuten Schwindelanfalls: Wahrscheinlich durch spontane Verklebung der gerissenen Reissner-Membran [10]
Symptomatik
Symptomtrias [1][7][11]
- Drehschwindel mit Übelkeit/Erbrechen
- Akut rezidivierende Attacken
- Attackendauer: Minuten bis Stunden
- Hörminderung
- Erkrankungsbeginn: Fluktuierendes Hörvermögen
- V.a. im tiefen bis mittleren Frequenzbereich
- Mit Druckgefühl auf dem betroffenen Ohr
- Im Verlauf: Pankochleäre Schwerhörigkeit bis zur Taubheit
- Erkrankungsbeginn: Fluktuierendes Hörvermögen
- Tinnitus: Einseitig, meist tieffrequent, rauschend
Weitere Charakteristika [7]
Verlaufs- und Sonderformen
Sonderformen
- Lermoyez-Syndrom: Im Gegensatz zum klassischen Morbus Menière verbessertes Hörvermögen im Anfall [8]
- Ätiologie: Ebenfalls Endolymphhydrops
- Therapie: Wie Morbus Menière
- Tumarkin-Krise: Im Gegensatz zum klassischen Morbus Menière häufige Stürze und reißende Kopfschmerzen [10][12]
- Ätiologie: Vermutlich Ruptur der trennenden Membranen im Sakkulus und dadurch spontane Bewegungen der Otolithen
- Therapie: Wie Morbus Menière
Diagnostik
Für das Notfallmanagement bei Schwindel unklarer Ursache siehe: Schwindel - AMBOSS-SOP
Diagnostische Kriterien der Bárány Society (2015) [1]
Wenn folgende Kriterien vorliegen, spricht das eindeutig für einen Morbus Menière
- Mehr als zwei spontane Schwindelattacken über eine Dauer von 20 min bis 12 h
- Fluktuierende Symptomatik des betroffenen Ohrs: Hörminderung, Tinnitus, Druckgefühl
- Audiometrisch erfasste Hörminderung im tiefen bis mittleren Frequenzbereich: ≥30 dB Hörminderung im Vergleich zum anderen Ohr in zwei benachbarten Frequenzen <2000 Hz Knochenleitung
- Ausschluss anderer Ursachen
Die klinische Hypothese beruht auf einer typischen Anamnese und einem passenden klinischen Untersuchungsbefund während der Attacke. Mittels Audiometrie wird die Hypothese untermauert und eine definitive Diagnose gestellt!
Neuro-otologische Untersuchungsbefunde [7]
- Nystagmus-Prüfung: Horizontaler Spontannystagmus während der Attacke, dessen Richtung wechseln kann
- Stimmgabelprüfungen: Hinweis für Innenohrschädigung → Lateralisation (Weber-Versuch) ins gesunde Ohr, Rinne-Versuch beidseitig positiv
- Unterberger-Tretversuch: Während der Attacke oft pathologisch
- Kopfimpulstest: Während der Attacke meist gestörter vestibulo-okulärer Reflex
Apparative Diagnostik [7][13][14]
Es existiert kein einzelner pathognomonischer Testbefund für die Diagnose eines Morbus Menière. Entscheidend ist das Zusammentreffen von typischer Anamnese, passenden klinischen Untersuchungsbefunden und wegweisender Zusatzdiagnostik, allen voran der Tonschwellenaudiometrie.
Kochleäre Funktionsprüfung
- Tonschwellenaudiometrie
- Schallempfindungsschwerhörigkeit im Mittel- bzw. Tieftonbereich
- Fluktuation der Hörschwelle im Initialstadium
- Überschwellige Audiometrie: Positives Recruitment (Endolymphhydrops führt zur Schädigung der äußeren Haarzellen → Lautheitsunterschiede werden durch den fehlenden Lautheitsausgleich verstärkt wahrgenommen)
- Otoakustische Emissionen: Zeichen eines Innenohrschadens
- Elektrokochleografie: Relative Erhöhung des Summationspotenzials im Vergleich zum Aktionspotenzial des N. cochlearis auf der betroffenen Seite: SP-AP-Quotient↑
Vestibuläre Funktionsprüfung
- Videonystagmografie
- Kalorische Prüfung: Untererregbarkeit oder Ausfall des betroffenen Labyrinths
- Kopfimpulstest: Objektivierung von Overt- und Covert-Sakkaden
- Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potenziale (VEMPs)
- Primär zur Frühdiagnostik und Verlaufskontrolle
- VEMPs fehlen in 35–54% der Fälle bei Morbus Menière [15]
Weitere (Ausschluss‑)Verfahren
- MRT mit Kontrastmittel (Gadolinium i.v.): Ggf. Nachweis des Endolymphhydrops zur Sicherung der Diagnose und zum Ausschluss anderer Ursachen des vestibulären Schwindels [7][16] [17]
- Dehydratationstest (Klockhoff-Test): Gabe von Diuretikum (Furosemid, Glycerol) führt zum „Ausschwemmen“ des Hydrops und dadurch zur Verbesserung der Hörminderung im Audiogramm [7]
Differenzialdiagnosen
- Siehe für eine vergleichende Übersicht verschiedener Schwindelformen: Schwindel - Klinische Differenzialdiagnostik
Differenzialdiagnosen des Morbus Menière [10][18] | |||
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Erkrankung | Schwindel und Begleitsymptomatik | Hörminderung | Tinnitus |
Morbus Menière |
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Vestibuläre Migräne [19][20][21][22] |
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Perilymphfistel [23][24] |
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Syndrom des dehiszenten Bogenganges [25][26][17] |
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AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Akuttherapie [27]
- Symptomatische Therapie
- Bettruhe/Vermeidung von Sturzgefahren
- Antiemetika (z.B. Dimenhydrinat)
- Siehe auch: Schwindel - Symptomatische Therapie
Langfristige Therapie
- Ziele
- Reduktion von Häufigkeit, Dauer und Stärke der Attacken
- Verhinderung des progredienten Hörverlusts
- Eindämmung des Tinnitus
- Individueller Therapieansatz insb. unter Einbeziehung möglicher Komorbiditäten wie Migräne oder Autoimmunerkrankungen
- Aufklärung und Beratung der Patient:innen und ggf. physiotherapeutisches Schwindeltraining
Anfallsprophylaxe
Prophylaktische Therapie des Morbus Menière [9][14] | |
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Stufe 1 |
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Stufe 2 |
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Stufe 3 |
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Stufe 4 |
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Stufe 5 |
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Im Spätstadium nach ca. 9–10 Jahren lassen die Anfälle meist deutlich nach (sog. „Ausbrennen“), sodass in diesem Stadium oft keine Therapie notwendig ist!
Berufe, die einen intakten Gleichgewichtssinn erfordern (bspw. Dachdecker:in, Taucher:in, Gerüstarbeiter:in) oder bei denen Personen befördert werden (bspw. Busfahrer:in oder Pilot:in), dürfen nicht ausgeübt werden! Eventuell muss über eine generelle Fahruntauglichkeit aufgeklärt werden!
Prognose
- Schwindelattacken: Verminderung um 60–70% innerhalb von 2–8 Jahren [9]
- Hörverlust [7]
- Durchschnittlich 50 dB innerhalb der ersten 10 Jahre mit Fluktuation
- Evtl. bds. kompletter Hörverlust
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- H81.-: Störungen der Vestibularfunktion
- Exklusive: Schwindel: epidemisch (A88.1), o.n.A. (R42)
- H81.0: Ménière-Krankheit
- H81.1: Benigner paroxysmaler Schwindel
- H81.2: Neuropathia vestibularis
- H81.3: Sonstiger peripherer Schwindel
- Lermoyez-Syndrom
- Schwindel: Ohr-Schwindel, otogen, peripher o.n.A.
- H81.4: Schwindel zentralen Ursprungs
- Zentraler Lagenystagmus
- H81.8: Sonstige Störungen der Vestibularfunktion
- H81.9: Störung der Vestibularfunktion, nicht näher bezeichnet
- Schwindelsyndrom o.n.A.
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.