Zusammenfassung
Die Neuropathia vestibularis (Synonym: Neuritis vestibularis) ist eine meist einseitige idiopathische Inflammation des N. vestibularis (vestibulärer Anteil des N. VIII), die zum Funktionsausfall des Gleichgewichtsorgans führt. Als Auslöser wird eine Inflammation des vestibulären Anteils des achten Hirnnerven durch Viren diskutiert, auch weil der Symptomatik oft Infekte der oberen Atemwege vorausgehen. Aus völliger Gesundheit heraus kommt es zu einem akuten vestibulären Syndrom mit über Tage anhaltendem Drehschwindel sowie Übelkeit, Erbrechen, Stand- und Gangunsicherheit. Die Diagnose erfolgt klinisch anhand typischer Untersuchungsbefunde und kann durch apparative Funktionsdiagnostik des Vestibularorgans unterstützt werden. Therapeutisch stehen ein physiotherapeutisches Gleichgewichtstraining und eine antiinflammatorische Behandlung mit Glucocorticoiden im Vordergrund. I.d.R. kommt es nach wenigen Tagen zu einer Besserung und innerhalb von 2–3 Wochen zur Symptomfreiheit.
Epidemiologie
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Die Symptomatik resultiert grundsätzlich aus einer Schädigung des N. vestibularis. Prinzipiell sind hierfür verschiedene Ursachen denkbar (z.B. auch eine Kompression des Nerven), i.d.R. wird allerdings eine idiopathische bzw. durch eine virale Infektion bedingte Inflammation angenommen.
- Häufige zeitliche Assoziation mit oberen Atemwegsinfekten
- Hypothese: Inflammation in Folge einer reaktivierten HSV1-Infektion [4][5]
Symptomatik
- Akut einsetzender und für Tage anhaltender heftiger Schwindel mit Bewegungsillusion (gerichteter Drehschwindel) mit [6]
- Übelkeit und Erbrechen
- Gang- und Standunsicherheit durch Fallneigung zur betroffenen Seite
- Ggf. Anamnese eines kürzlich aufgetretenen grippalen Infekts, meist der oberen Atemwege
Keine kochleären Symptome: Keine Hörminderung, kein Tinnitus!
Verlaufs- und Sonderformen
- Beidseitige Neuropathia vestibularis, dann mit dem klinischen Bild der bilateralen Vestibulopathie
Diagnostik
Für das Notfallmanagement bei Schwindel mit zunächst unklarer Ursache siehe: Schwindel - AMBOSS-SOP
Typische Anamnese
-
Anhaltender, in allen Körper-/Kopfpositionen vorhandener Schwindel mit gerichteter Drehbewegungsillusion (Drehschwindel)
- Meistens rasch-progredienter, gelegentlich auch stotternder oder als plötzlich beschriebener Beginn
- Übelkeit und Erbrechen
- Stand- und Gangunsicherheit mit Fallneigung zu einer Seite
- Keine Hörstörung
Fokussierte neurologische Untersuchung
- Ausschluss von Warnhinweisen für eine zentral-vestibuläre Störung (insb. anhand des HINTS-Protokolls)
Charakteristische Befunde in der neurologischen Untersuchung [1][7]
- Ausfallnystagmus
- Unidirektionaler horizontal-torsionaler Spontannystagmus (unprovozierter Nystagmus) zur gesunden Seite (=aktiveres Vestibularorgan)
- Richtung (der schnellen Phase) des Nystagmus bleibt auch bei Änderung der Blickrichtung gleich, Verstärkung bei Blick zur gesunden Seite
- Durch Fixation supprimierbar, d.h.
- ↑ bei Aufhebung der Fixation unter einer Frenzel-Brille
- ↓ bei Fixation eines Gegenstands
- Kopfschüttelnystagmus (provozierter Nystagmus) zur gesunden Seite
- Provokation durch aktives oder passives Kopfschütteln in der Horizontalen für ca. 30 s
- Bei milder/abklingender Symptomatik (subakute oder chronische Phase einer Neuropathia vestibularis)
- Unidirektionaler horizontal-torsionaler Spontannystagmus (unprovozierter Nystagmus) zur gesunden Seite (=aktiveres Vestibularorgan)
- Gestörter vestibulo-okulärer Reflex (Korrektursakkade ) beim Kopfimpulstest zur betroffenen Seite
- Stand- und Gangstörung
- Romberg-Stehversuch: Lateralisierte Fallneigung oder Schwanken zur betroffenen Seite
- Unterberger-Tretversuch: Pathologisch, d.h. Drehung um >45°
- Störung der subjektiven visuellen Vertikalen: Pathologische Abweichung zur betroffenen Seite
- Eimertest: ≥ +/-2,5° Abweichung von der echten Vertikalen
- Normales Hörvermögen
- Orientierende Hörtestung durch Fingerreiben oder Testung mittels audiometrischer Verfahren
Im Gegensatz zu zentralen Schwindelursachen zeigt die Neuropathia vestibularis im HINTS-Protokoll einen pathologischen Kopfimpulstest , einen Ausfallnystagmus (typischerweise Spontannystagmus ), keinen Blickrichtungsnystagmus und keine Skew Deviation!
Kalorische Testung
- Prinzip: Testung der Erregbarkeit des Gleichgewichtsorgans durch definierte thermische Reizung
- Durchführung
- Patient:in liegt mit 30° angehobenem Oberkörper auf einer Liege
- Spülung des oben liegenden äußeren Gehörgangs mit je etwa 100 mL warmem (44 °C) und kaltem (30 °C) Wasser oder entsprechend temperierten Luftströmen
- Dabei Beobachtung der Augenbewegungen zur Detektion der auftretenden Nystagmen mittels Frenzel-Brille
- Oder Videonystagmografie und/oder Elektronystagmografie
- Normalbefund
- Typischer Befund bei Neuropathia vestibularis: Unter- oder Unerregbarkeit des betroffenen Gleichgewichtsorgans (reduzierter oder fehlender Nystagmus bei Reizung)
Akronym „COWS“ für den Normalbefund der kalorischen Testung: „cold opposite, warm same“!
Differenzialdiagnosen
- Siehe für eine vergleichende Übersicht verschiedener Schwindelformen: Schwindel - Klinische Differenzialdiagnostik
Peripher-vestibuläre Differenzialdiagnosen [1]
Zentral-vestibuläre Differenzialdiagnosen [1][8]
- Kleinhirn- oder Hirnstamm-Läsion (insb. durch ischämische Schlaganfälle)
- Kein Spontannystagmus, sondern zentrale Nystagmusform bzw. Okulomotorikstörung
- Nystagmus nicht durch Fixation supprimierbar
- Meist intakter vestibulo-okulärer Reflex bei gestörter Fixationssuppression des vestibulo-okulären Reflexes
- Häufig, aber nicht immer geringer ausgeprägte vegetative Begleitsymptomatik
- Oft Kombination mit weiteren neurologischen Defiziten
- Siehe hierzu: Warnhinweise auf eine zentral-vestibuläre Störung (insb. HINTS-Protokoll)
- Vorgehen bei V.a. zentral-vestibuläre Schwindelursache
- Bei Symptombeginn innerhalb des Lysezeitfensters oder bei hochdynamischer klinischer Präsentation Vorgehen gemäß: Bildgebung bei V.a. akuten Schlaganfall - AMBOSS-SOP
- Ansonsten: cMRT (inkl. DWI, FLAIR, T2* und TOF-MR-A)
und weiteres Vorgehen dann je nach Befund
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
- Glucocorticoide: Kurzzeitig
- Bspw. Prednisolon
[9][10]
- Bspw. Prednisolon
- Antiemetika: Kurzzeitig und nur bei schwerer Übelkeit/Erbrechen für max. 1–3 Tage
- Bspw. Dimenhydrinat
- Physiotherapeutische Gleichgewichtsübungen [9][11][12] bspw.
- Aktive Kopfbewegungen, insb. horizontale Drehungen
- Kontrollierte Augenbewegungen
- Geh- und Balanceübungen
Weil die antiemetische Therapie die Ausbildung der zentralen Kompensationsmechanismen verzögert, sollte sie nur bei schwerer Symptomatik und nur innerhalb der ersten Tage eingesetzt werden [6]!
Prognose
- Meist spontane Heilung innerhalb von 2–3 Wochen
- Die Prognose hängt von der schnellstmöglichen körperlichen Aktivierung der Patient:innen ab
- Insb. Ältere mit reduziertem Allgemeinzustand haben deshalb länger bestehende Symptome
3D-Anatomie
In Kooperation mit Effigos bieten wir dir die Möglichkeit, Anatomie auch in 3D zu erfahren. Die Inhalte sind vielfach auf AMBOSS abgestimmt oder ergänzend. Neben Komplettmodellen bieten wir dir auch sprach- oder textgeführte Exkurse zu einzelnen Themen. In allen Versionen hast du die Möglichkeit mit den Modellen individuell zu interagieren, z.B. durch Schneiden, Zoomen oder Aus- bzw. Einblenden bestimmter Strukturen. Eine Übersicht über alle Inhalte findest du in dem Kapitel Anatomische 3D-Modelle. Die unterschiedlichen Pakete zu den 3D-Modellen findest du im Shop.
3D-Modell
Modellansicht
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- H81.-: Störungen der Vestibularfunktion
- Exklusive: Schwindel: epidemisch (A88.1), o.n.A. (R42)
- H81.2: Neuropathia vestibularis
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.