Zusammenfassung
Die Friedreich-Ataxie (FRDA) ist die häufigste hereditäre Ataxie. Ursache ist meist eine autosomal-rezessiv vererbte GAA-Trinukleotidrepeatexpansion im FXN-Gen auf Chromosom 9, welches für das Protein Frataxin kodiert. Frataxin ist ein eisenbindendes Protein mit Bedeutung für den mitochondrialen Energiehaushalt. Leitsymptom der Erkrankung ist die progrediente Ataxie infolge einer Hinterstrangdegeneration. Die weiteren Symptome umfassen u.a. einen gestörten Lage- und Vibrationssinn, Dysarthrie und eine Störung der Okulomotorik. Häufig besteht eine Kardiomyopathie, gelegentlich auch ein Diabetes mellitus. Orthopädische Probleme wie eine Skoliose oder Hohlfüße („Friedreich-Fuß“) gehören zum klinischen Bild. Die Verdachtsdiagnose wird molekulargenetisch bestätigt.
Die Therapie umfasst symptomatische Maßnahmen wie Physiotherapie und Hilfsmittelversorgung sowie internistische und orthopädische Maßnahmen. Seit Juni 2023 ist auch eine kausale Therapie mit Omaveloxolon, einem Aktivator des Transkriptionsfaktors Nrf2, im Rahmen eines Härtefallprogramms möglich. Riluzol wird aufgrund mangelnder Wirksamkeitsnachweise in neueren Studien nicht mehr empfohlen. Die Erkrankung verläuft progredient und führt i.d.R. zu Rollstuhlpflichtigkeit und vorzeitigem Tod, häufig als Folge der Kardiomyopathie.
Epidemiologie
- Prävalenz: Häufigste hereditäre Ataxie, 3–4/100.000 Einwohner (Deutschland) [1]
- Frequenz heterozygoter Mutationsträger: Etwa 1:90 (Deutschland) [1]
- Alter: Manifestation meist im Kindes- und Jugendalter
- Geschlecht: ♂ = ♀
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
-
Autosomal-rezessive Erbkrankheit mit Trinukleotidrepeatexpansion und dadurch verminderter Expression des Proteins Frataxin (FXN): FXN ist wesentliches Element des mitochondrialen Eisenstoffwechsels
- Homozygote Merkmalsträger einer GAA-Trinukleotidrepeatexpansion des FXN-Gens auf Chromosom 9 (>95% der Fälle)
- Repeatanzahl [2]
- Normalallel: 5–33
- Prämutationsallel: 34–65
- Vollmutation: 66 bis >1000
- Repeatanzahl [2]
- Heterozygote Merkmalsträger: Asymptomatisch
- Compound-Heterozygotie: Ein Allel mit GAA-Trinukleotidrepeatexpansion, zweites Allel mit Punktmutation des FXN-Gens (selten)
- Homozygote Merkmalsträger einer GAA-Trinukleotidrepeatexpansion des FXN-Gens auf Chromosom 9 (>95% der Fälle)
Symptomatik
Merkmal der Friedreich-Ataxie ist das gemeinsame Auftreten von Symptomen einer Hinterstrangdegeneration, einer axonalen Neuropathie und in geringerem Ausmaß einer zerebellären Störung. Die Betroffenen bemerken häufig als Erstsymptom einen unsicheren Gang im Jugendalter (variables Manifestationsalter, siehe auch Verlaufsformen der Friedreich-Ataxie); weitere Symptome (s.u.) können in variabler Ausprägung im Krankheitsverlauf auftreten. Die progrediente Stand- und Gangataxie ist das einzige obligate Symptom.Gelegentlich gehen die nachfolgend genannten Skelettdeformitäten neurologischen Symptomen um Jahre voraus.
Neurologische Symptome
- Gangunsicherheit mit Stolpern und Stürzen, allgemeine Ungeschicklichkeit (langsam progrediente Stand- und Gangataxie)
- Gestörter Lage- und Vibrationssinn (Pallhypästhesie) aufgrund der Hinterstrangdegeneration
- Muskeleigenreflexe der Beine sehr häufig fehlend (Areflexie)
- Dysarthrie
- Positive Pyramidenbahnzeichen
- Störung der Okulomotorik (Fixationsinstabilität, abnormaler vestibulo-okulärer Reflex , Blickrichtungsnystagmus )
- Mögliche Symptome insb. bei fortgeschrittenem Krankheitsverlauf
- Hypakusis
- Dysphagie
- Blasenstörung (Dranginkontinenz)
- Visusminderung bis zur Erblindung
- Meist keine oder nur geringe kognitive Defizite
Orthopädische Symptome (∼50%)
Internistische Begleiterkrankungen bzw. -symptome
- Hypertrophe Kardiomyopathie (bis zu 70%) mit Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen
- Diabetes mellitus (10–30%)
- Obstipation
Verlaufs- und Sonderformen
Etwa ein Viertel der Fälle verläuft atypisch.
- Unterschieden werden folgende Formen: [3]
- Late-Onset Friedreich Ataxia (LOFA) und Very Late-Onset Friedreich Ataxia (VLOFA): Krankheitsbeginn im Alter von 26–39 bzw. im Alter von über 39 Jahren
- Friedreich-Ataxie mit erhaltenen Reflexen (Friedreich Ataxia with Retained Reflexes, FARR)
- Gemeinsames Merkmal: Kürzere Trinukleotidrepeatexpansion
- Mildere oder atypische Symptome
- Krankheitsverlauf häufig langsamer
- Geringere Inzidenz internistischer Begleiterkrankungen (Kardiomyopathie, Diabetes mellitus) und orthopädischer Symptome
Diagnostik
Basisdiagnostik [4][5]
- Neurologische Untersuchung: Gang- und Standataxie (anamnestisch progredient), ggf. weitere Symptome (s.o.)
- Familienanamnese: Ggf. Hinweise auf autosomal-rezessive Vererbung
- MRT (Kopf sowie HWS und BWS)
- Befunde
- Atrophie insbesondere des zervikalen Rückenmarks (T1- bzw. FLAIR-Sequenzen)
- Ggf. zerebelläre Atrophie
- Ausschluss von: Raumforderungen, Multipler Sklerose, Hirninfarkten
- Befunde
- Molekulargenetischer Mutationsnachweis
- Bestimmung der Trinukleotid-Repeat-Anzahl
- Fragmentlängenanalyse, etwa mit Kapillargelelektrophorese
- Beratung nach Gendiagnostikgesetz sowie schriftliche Einwilligung obligat
- Bei Angehörigen ggf. Analyse des Konduktorenstatus
- Bestimmung der Trinukleotid-Repeat-Anzahl
Elektrophysiologische Diagnostik
- Neurografie
- Axonale, vor allem sensible Neuropathie
- Motorisch evozierte Potenziale (MEP)
- Zentralmotorische Leitungszeit verlängert
- Amplitudenminderung
- Somatosensibel evozierte Potenziale (SEP)
- Periphere und zentrale Leitungszeit verlängert
- Amplitudenminderung
Diagnostik internistischer Begleiterkrankungen [4]
- Diagnostik eines Diabetes mellitus
- Diagnostik einer Herzbeteiligung
- Echokardiografie [6]
- Befunde
- Meist LV-Hypertrophie (enddiastolische Wanddicke <15 mm)
- Keine Obstruktion des linksventrikulären Ausflusses
- Ejektionsfraktion (EF): Nicht oder nur gering reduziert
- Endstadium: Globale Hypokinesie mit reduzierter EF und leicht dilatiertem LV
- Jährliche Verlaufskontrolle sinnvoll
- Befunde
- EKG [6]
- Erregungsrückbildungsstörungen häufig (diskordante T-Welle v.a. in V5 und V6)
- Supraventrikuläre tachykarde Herzrhythmusstörungen häufig
- QRS-Komplex meist nicht verbreitert
- Echokardiografie [6]
Differenzialdiagnosen
- Andere Ataxien des Erwachsenenalters insb.
- Autosomal-rezessive Ataxien, bspw. Ataxie mit Vitamin-E-Defizienz (AVED)
- Sporadische Ataxien des Erwachsenenalters (SAOA)
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
- Spezifische Therapie: Omaveloxolon (über Härtefallprogramm) [4]
- Nicht mehr empfohlen: Riluzol [4]
- Symptomorientierte Maßnahmen
- Physiotherapie mit Koordinationstraining
- Ergotherapie
- Logopädie
- Hilfsmittelversorgung (Gehstützen, Rollstuhl)
- Dokumentation des funktionellen Status bei jeder Vorstellung
- Friedreich's Ataxia Rating Scale (FARS) oder Scale for the Assessment and Rating of Ataxia (SARA), siehe: Tipps & Links
- Behandlung der internistischen Begleiterkrankungen
-
Hypertrophe Kardiomyopathie
- Therapie der Herzinsuffizienz
- Selten: Antiarrhythmika, ggf. Schrittmacher-Implantation
- Diabetes mellitus: I.d.R. insulinpflichtig
-
Hypertrophe Kardiomyopathie
- Behandlung der Skelettdeformitäten [4]
- Skoliose: Ggf. operative Korrektur
- Hohlfüße: Im Regelfall keine operative Korrektur
Prognose
- Progrediente Erkrankung mit variablem Krankheitsverlauf
- Früherer Krankheitsbeginn: Assoziiert mit größerer Anzahl Trinukleotidrepeats und schnellerem Krankheitsverlauf [2]
- Sehr häufig Rollstuhlpflichtigkeit im Verlauf
- Lebenserwartung: Reduziert [7]
- Häufigste Todesursache: Folgen der Kardiomyopathie
- Atypische Verlaufsformen mit späterer Manifestation: Bessere Prognose
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- G11.-: Hereditäre Ataxie
- Exklusive: Hereditäre und idiopathische Neuropathie (G60.‑), Infantile Zerebralparese (G80.‑), Stoffwechselstörungen (E70–E90)
- G11.0: Angeborene nichtprogressive Ataxie
- G11.1: Früh beginnende zerebellare Ataxie
- Friedreich-Ataxie (autosomal-rezessiv)
- Früh beginnende zerebellare Ataxie [EOCA] mit
- erhaltenen Sehnenreflexen [retained tendon reflexes]
- essentiellem Tremor
- Myoklonie [Dyssynergia cerebellaris myoclonica (Hunt)]
- X-chromosomal-rezessive spinozerebellare Ataxie
- G11.2: Spät beginnende zerebellare Ataxie
- G11.3: Zerebellare Ataxie mit defektem DNA-Reparatursystem
- Ataxia teleangiectatica [Louis-Bar-Syndrom]
- Exklusive: Cockayne-Syndrom (Q87.1), Xeroderma pigmentosum (Q82.1)
- G11.4: Hereditäre spastische Paraplegie
- G11.8: Sonstige hereditäre Ataxien
- G11.9: Hereditäre Ataxie, nicht näher bezeichnet
- Hereditäre(s) zerebellare(s): Ataxie o.n.A., Degeneration, Krankheit, Syndrom
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.