Zusammenfassung
Primäre zerebelläre Ataxien bezeichnen eine Gruppe nicht-fokaler degenerativer Kleinhirnerkrankungen, die sich wiederum in hereditäre und sporadische Formen unterteilen lassen. Je nach Erkrankung gehen sie neben dem Leitsymptom einer progredienten oder episodischen zerebellären Ataxie meist mit weiteren neurologischen und nicht-neurologischen Symptomen einher. Pathophysiologisch liegt eine Schädigung des Kleinhirns und seiner auf- und absteigenden Bahnen zugrunde. Zur Eingrenzung der Verdachtsdiagnose sind neben der klinischen Untersuchung insb. die Familienanamnese, das Erkrankungsalter und teilweise auch Laborparameter und MRT-Bildgebung hilfreich. Bei den hereditären Ataxien ist der molekulargenetische Nachweis einer Mutation entscheidend zur Diagnosestellung. Es existieren zwar keine kausalen Therapien, jedoch stehen für einige Entitäten neben supportiven Maßnahmen auch medikamentöse Behandlungsoptionen zur Verfügung.
Durch lokale oder systemische Störungen verursachte symptomatische Ataxien werden an anderer Stelle behandelt. Für eine Übersicht siehe: Sekundäre Kleinhirnerkrankungen
Zum allgemeinen praktischen Vorgehen bei ätiologisch zunächst unklarer Ataxie siehe: Vorgehen bei Kleinhirnsymptomen
Hereditäre Ataxien (Heredoataxien)
Die hereditären Ataxien lassen sich je nach Erbgang in autosomal-dominante, autosomal-rezessive, x-chromosomale oder mitochondrial vererbte Ataxien einteilen. Zur Eingrenzung der Verdachtsdiagnose sind insb. die Familienanamnese, das Erkrankungsalter und teilweise auch Laborparameter und MRT-Bildgebung hilfreich. Zur Diagnosesicherung wird eine molekulargenetische Untersuchung durchgeführt. Auch wenn keine kausalen Therapien existieren, stehen für einige Entitäten neben supportiven Maßnahmen medikamentöse Behandlungsoptionen zur Verfügung. Bei den spinozerebellären Ataxien und der Friedreich-Ataxie kann z.B. ein individueller Heilversuch mit Riluzol versucht werden.
Autosomal-dominante Ataxien
Das Vorliegen einer autosomal-dominant vererbten Ataxie ist insb. dann in Betracht zu ziehen, wenn in jeder Generation Merkmalsträger zu finden sind. Die Eingrenzung der Ataxie-Form erfolgt mithilfe des Manifestationsalters, der Art des Auftretens der Ataxie (progredient vs. paroxysmal), charakteristischer Nebensymptome sowie der MRT-Befunde und wird schließlich durch die genetische Diagnostik gesichert. Für manche autosomal-dominant vererbte Ataxien stehen medikamentöse Therapien zur Verfügung.
Spinozerebelläre Ataxien (SCA) [1][2]
- Synonym: Autosomal-dominante zerebelläre Ataxie (ADCA)
- Ätiologie: Fast immer durch Trinukleotid-Repeat-Mutationen mit vermehrter Wiederholung des CAG-Basentripletts [3]
- Manifestationsalter: Durchschnittlich 30.–40. Lebensjahr
- Symptome
- Progrediente Ataxie
- Weitere Nebensymptome je nach Unterform, siehe: Unterformen der spinozerebellären Ataxien - Klinische Einteilung
- Diagnostik
- Diagnosesicherung: Molekulargenetische Untersuchung
- Typische Befunde
- MRT: Atrophie des Spinozerebellums
- Neurophysiologische Diagnostik mittels SEP und ENG: Zeichen einer Neuropathie
- Therapie: Individueller Heilversuch mit Riluzol möglich (Off-Label Use) [1]
Unterformen der spinozerebellären Ataxien - Klinische Einteilung | |
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Gruppe | Nebensymptome bedeutsamer Unterformen |
ADCA I
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ADCA II |
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ADCA III |
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Episodische Ataxien [1][2]
- Allgemeines
- Gruppe hereditärer Ataxien mit episodisch auftretender Symptomatik
- 9 Formen bekannt, dabei Typ 1 und Typ 2 am häufigsten
- Provokation der Symptome durch Stress, Schreck, körperliche Anstrengung, Alkohol und Nikotin
Episodische Ataxien - Übersicht | ||
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Typ 1 | Typ 2 | |
Ätiologie |
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Manifestationsalter |
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Symptome |
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Diagnosesicherung |
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Therapie [1] |
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Autosomal-rezessive Ataxien
Eine autosomal-rezessiv vererbte Ataxie ist insb. bei progredienter Ataxie mit phänotypisch gesunden Eltern (Konduktoren) und ggf. betroffenen Geschwistern in Betracht zu ziehen. Die Eingrenzung der Ataxie-Form erfolgt mithilfe charakteristischer Nebensymptome sowie Laborparameter und wird schließlich durch die genetische Diagnostik gesichert. Für einige autosomal-rezessiv vererbte Ataxien stehen spezifische Therapien zur Verfügung. Es handelt es sich um eine große Erkrankungsgruppe, aus der wir folgend eine Auswahl relativ häufiger Entitäten vergleichend darstellen. [2]
Autosomal-rezessive Ataxien – Übersicht | ||||||||
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Friedreich-Ataxie [1] | Ataxie mit Vitamin-E-Defizit (AVED)[1][2][4][5] | Zerebrotendinöse Xanthomatose (CTX)[1][2][4][6] | RFC1-assoziierte Ataxie [2][4] | Ataxia teleangiectatica (Louis-Bar-Syndrom) [2][4] | Ataxie mit okulomotorischer Apraxie (AOA) Typ 1 und 2 [1][2][4] | Morbus Niemann-Pick Typ C [1][7] | A-β-Lipoproteinämie (Bassen-Kornzweig-Syndrom) [4][8] | |
Ätiopathogenese |
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Manifestationsalter |
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Häufige Nebensymptome |
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Spezifische Diagnostik |
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Therapie |
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Weitere (Auswahl)
- HMSN Typ IV
- Hartnup-Syndrom
- Autosomal-rezessive spastische Ataxie Charlevoix-Saguenay (ARSACS)
- Morbus Tay-Sachs (GM2-Gangliosidose Typ I) [12]
- Definition: Autosomal-rezessiv vererbte Krankheit aus der Gruppe der Lipidspeicherkrankheiten
- Pathophysiologie: Defekt oder Mangel der Hexosaminidase A führt zu intrazellulärer Akkumulation von Gangliosiden
- Klinik
- Infantile Form: Beginn ab 3. Lebensmonat mit geräuschabhängigen Schreckreaktionen, psychomotorischer Retardierung, fortschreitender Muskelschwäche bis zur Paralyse, Erblindung
- Juvenile Form: Beginn ab 2. Lebensjahr mit Ataxie, zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten und kognitiven Defiziten
- Adulte Form: Beginn ab 10. Lebensjahr mit
- a) Ataktischen Symptomen ähnlich der Friedreich-Ataxie oder
- b) Muskulären Symptomen ähnlich der SMA Typ 3
X-chromosomale Ataxien
Fragiles-X-assoziiertes Tremor-Ataxie-Syndrom (FXTAS) [1][2][4]
Unter den x-chromosomalen Ataxien ist das FXTAS am häufigsten. Aufgrund des Erbgangs ist vorwiegend das männliche Geschlecht betroffen. In der Familienanamnese der Erkrankten haben häufig der Großvater oder die Onkel mütterlicherseits ein Fragiles-X-Syndrom. Betroffene Frauen zeigen i.d.R. eine weniger starke Ausprägung der neurologischen Symptome.
- Ätiologie: X-chromosomal vererbte Mutation des Fragiles-X-mental-Retardation-1-Gens (FMR1)
- Manifestationsalter: Um das 60. Lebensjahr
- Nebensymptome
- Neurologisch
- Aktionstremor
- Parkinson-Syndrom
- Polyneuropathie
- Autonome Dysfunktion
- Demenz
- Andere
- Neurologisch
- Spezifische Diagnostik: Molekulargenetische Untersuchung zum Nachweis der FMR1-Genmutation
- Therapie: Bisher keine kausale Therapie bekannt
Mitochondriale Ataxien
Syndrom aus Neuropathie, Ataxie und Retinitis pigmentosa (NARP) und Maternal vererbtes Leigh-Syndrom (MILS) [4]
- Ätiologie
- NARP: Punktmutation der mitochondrialen DNA mit geringer Heteroplasmie
- MILS: Punktmutation der mitochondrialen DNA mit hoher Heteroplasmie >90%
- Nebensymptome
- NARP: Axonale Neuropathie, Retinitis pigmentosa, ggf. epileptische Anfälle, proximale Muskelschwäche, Taubheit, extrapyramidale und pyramidale Störungen, Demenz, Kardiomyopathie
- MILS: Perinatale Asphyxie, generalisierte Muskelschwäche, Entwicklungsverzögerung, Lactatazidose
- Spezifische Diagnostik
-
cMRT
- NARP: Ggf. Kleinhirnatrophie
- MILS: Symmetrische Läsionen in Kleinhirn, Hirnstamm und Basalganglien
- Molekulargenetische Untersuchung zum Nachweis der mitochondrialen DNA-Mutation
-
cMRT
- Therapie: Bisher keine kausale Therapie bekannt
Weitere (Auswahl)
- Kearns-Sayre-Syndroms
- MERFF-Syndrom
Sporadische degenerative Ataxien
Sporadische degenerative Ataxien sind Ataxien des Erwachsenenalters, die ohne Hinweise auf genetische oder erworbene (sekundäre) Ursache bleiben.
Sporadische Ataxie im Erwachsenenalter (SAOA) [2][4]
- Ätiologie: Unbekannt
- Manifestationsalter: Um das 50. Lebensjahr
- Nebensymptome
- Ggf. Babinski-Zeichen
- Ggf. Polyneuropathie
- Diagnostik: Diagnosestellung durch Ausschluss anderer Ataxie-Ursachen, insb.
- Häufiger hereditärer Ataxien (negative Familienanamnese und molekulargenetische Diagnostik)
- Sekundärer Kleinhirnerkrankungen
- MSA-C
- Therapie: Bisher keine kausale Therapie bekannt
Weitere
- MSA-C
- Idiopathische Kleinhirndegeneration
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- G11.-: Hereditäre Ataxie
- Exklusive: Hereditäre und idiopathische Neuropathie (G60.‑), Infantile Zerebralparese (G80.‑), Stoffwechselstörungen (E70–E90)
- G11.0: Angeborene nichtprogressive Ataxie
-
G11.1: Früh beginnende zerebellare Ataxie
- Friedreich-Ataxie (autosomal-rezessiv)
- Früh beginnende zerebellare Ataxie [EOCA] mit:
- erhaltenen Sehnenreflexen [retained tendon reflexes]
- essentiellem Tremor
- Myoklonie [Dyssynergia cerebellaris myoclonica (Hunt)]
- X-chromosomal-rezessive spinozerebellare Ataxie
- G11.2: Spät beginnende zerebellare Ataxie
- G11.3: Zerebellare Ataxie mit defektem DNA-Reparatursystem
- Ataxia teleangiectatica [Louis-Bar-Syndrom]
- Exklusive: Cockayne-Syndrom (Q87.1), Xeroderma pigmentosum (Q82.1)
- G11.4: Hereditäre spastische Paraplegie
- G11.8: Sonstige hereditäre Ataxien
- G11.9: Hereditäre Ataxie, nicht näher bezeichnet
- Hereditäre(s) zerebellare(s): Ataxie o.n.A., Degeneration, Krankheit, Syndrom
- R27.-: Sonstige Koordinationsstörungen
- Exklusive: Ataktischer Gang (R26.0), Hereditäre Ataxie (G11.‑), Vertigo o.n.A. (R42)
- R27.0: Ataxie, nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.