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Grundlagen der allgemeinmedizinischen Versorgung

Letzte Aktualisierung: 30.1.2025

Zusammenfassungtoggle arrow icon

Der Allgemeinmedizin kommt im deutschen Gesundheitssystem eine Filter- und Steuerfunktion der ärztlichen Behandlung zu. Durch eine kontinuierliche Betreuung und Kenntnis des sozialen Umfeldes des Patienten kann der Allgemeinmediziner die Mehrdimensionalität des körperlichen und geistigen Zustandes bzw. des Krankseins berücksichtigen und eine bestehende Symptomatik vor diesem Hintergrund bewerten. Der Allgemeinmediziner muss dabei einerseits frühzeitig gefährliche Verläufe erkennen und zeitnah Diagnostik und ggf. Therapie einleiten, andererseits durch abwartendes Offenhalten bei nicht eindeutig zu stellenden Diagnosen Ruhe bewahren und den Patienten nicht beunruhigen. Diese Gegensätzlichkeit stellt eine besondere Herausforderung dar.

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Definitiontoggle arrow icon

Angelehnt an die Definition der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (2002) kann die Allgemeinmedizin wie folgt beschrieben werden:

  • Der Arbeitsbereich:
    • Grundversorgung aller Patienten mit körperlichen und seelischen Gesundheitsstörungen
    • Notfall-, Akut- und Langzeitversorgung
    • Prävention und Rehabilitation
  • Die fallorientierte Arbeitsweise sollte nicht eindimensional, sondern mehrdimensional sein ("hermeneutisches Fallverständnis") . Berücksichtigt werden:
    • Somatische, psychosoziale, soziokulturelle und ökonomische Aspekte
    • Das Krankheitskonzept des Patienten, sein Umfeld und seine Geschichte
  • Die Arbeitsgrundlage:
  • Der Arbeitsauftrag beinhaltet:
    • Filter- und Steuerfunktion (z.B. Stufendiagnostik)
    • Bewertung aller Ergebnisse und deren kontinuierliche Dokumentation
    • Betreuung des Patienten auch im Kontext des sozialen Umfelds (z.B. Hausbesuch)
    • Gesundheitsberatung und Gesundheitsförderung
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Besonderheiten der allgemeinmedizinischen Versorgungtoggle arrow icon

Durch eine kontinuierliche Betreuung ergibt sich eine besondere Arzt-Patienten-Beziehung, die nicht nur medizinische, sondern ebenso biopsychosoziale Aspekte einbezieht.

Allgemeinmedizinische Anamnese

Eine umfassende allgemeinmedizinische Anamnese besteht aus:

  • (Aktuelle) Medizinische Anamnese: Erfragen der aktuellen Beschwerden
  • Berücksichtigung des Krankheitskonzeptes des Patienten
    • Beschreibung: Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung von Krankheit bzw. ein eigenes Krankheitskonzept! Das persönliche Krankheitskonzept erfasst sämtliche Gedanken, Gefühle und Handlungen des Patienten bezüglich seiner Krankheit und ist von soziokulturellen und biografischen Einflüssen geprägt . Auch in relativ homogenen Gesellschaften sind die Unterschiede im Krankheitskonzept teilweise sehr deutlich
    • Wichtiges Instrument, um Informationen über das Krankheitskonzept des Patienten zu sammeln, ist die einfache Frage: "Was denken Sie, was Sie haben?"
    • Typische Probleme
      • Störung der Arzt-Patienten-Kommunikation: Der Patient wird in seiner Vorstellung nicht ernst genommen
      • Sprachliche Barrieren stellen ein großes Hindernis dar
  • Berücksichtigung der Hidden Agenda
    • Die angegebenen Symptome können in einigen Fällen nur als Anlass dienen, den Allgemeinmediziner aufzusuchen. Hinter der Symptompräsentation "versteckt" sich jedoch eine andere Ursache der Konsultation
  • Langfristiges Ziel: Erlebte Anamnese
    • Sammlung von Informationen über den betreuten Patienten, die aufgrund des kontinuierlichen Betreuungsverhältnisses entstanden sind
    • Hierzu gehören neben den medizinischen Informationen (Erkrankungen, Erkrankungsdauer, psychosomatische Komorbiditäten) auch psychosoziale Umstände wie Partnerschaft, Lebensumstände, berufliche Zufriedenheit, vergangene Auslandsaufenthalte etc.

Untersuchung

  • Eine vollständige körperliche Untersuchung sollte angestrebt werden, kann aber auch erst im Verlauf bei Wiedervorstellung komplettiert werden
  • Weitere diagnostische Maßnahmen sind nicht immer notwendig

Allgemeinmedizinische Prävention und Gesundheitsberatung

  • Gesundheitsberatung
    • Definition: Bezeichnet die Unterrichtung, Motivierung und Begleitung des Patienten bei der Veränderung von gesundheitlich risikoreichem Verhalten (z.B. körperliche Untätigkeit, Fehlernährung, Drogenkonsum)
  • Allgemeinmedizinische Prävention
    • Primärpräventive Maßnahmen (z.B. Impfung)
    • Sekundärpräventive Maßnahmen: Screening-Untersuchungen und Früherkennung

Entscheidungsfindung und Therapie

  • Shared Decision-making
    • Definition: Bezeichnet die gemeinsame Entscheidungsfindung von Patient und Arzt, die bestenfalls zu einem Konsens als Therapiegrundlage führt
    • Berücksichtigt die Patientenwünsche bei Diagnostik und Therapieentscheidung → Wirkt sich positiv auf die Therapieadhärenz aus: Insb. bei chronischen Erkrankungen hilfreich
      • Beispiel "Mehrere gleichwertige Therapieoptionen": Hier besteht die Aufgabe darin, den Patienten über alle Möglichkeiten, Vor- und Nachteile zu informieren (z.B. bei der Auswahl des Antihypertonikums bei der Hypertonietherapie)
      • Beispiel "Deutlich divergierende Therapievorstellungen bei Arzt und Patient": Hier besteht die Aufgabe darin, mit dem Patienten Optionen und ggf. einen Mittelweg auszuarbeiten, denn ein Arzt kann seinen Patienten nicht zu einer Therapie zwingen!
  • Therapieentscheidung
    • Die Mehrheit der allgemeinmedizinischen Symptome bedarf keiner akuten Behandlung. Bei der Entscheidung, ob eine Therapie eingeleitet wird oder nicht, sollten folgende Punkte berücksichtigt werden:
      • Symptombeginn: Akut vs. chronisch
      • Symptomintensität: Banal vs. gefährlich
      • Symptomausprägung: Somatisch vs. psychisch
  • "Red flags"
    • Definition: Red flags sind Warnzeichen der präsentierten Symptomatik, die ein dringend behandlungsbedürftiges Krankheitsbild kennzeichnen (bspw. Peritonismus)
    • Diese Warnzeichen können z.B. sein:
      • Neurologische Ausfälle
      • Akut einsetzender und heftiger Symptombeginn
      • Hohes Fieber etc.
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Häufige Beratungsanlässetoggle arrow icon

Besondere Personengruppen

Jeder Mensch geht mehr oder weniger regelmäßig zum Allgemeinmediziner. Einige Patientengruppen sind jedoch hervorzuheben:

  • Chronisch Erkrankte
    • Definition nach Waltz: Eine chronische Krankheit ist das Ergebnis eines länger andauernden Prozesses degenerativer Veränderung somatischer oder psychischer Zustände
    • Epidemiologie: 20-40% der Patienten in der allgemeinmedizinischen Praxis leiden unter chronischen Erkrankungen (da sie häufiger als andere Patienten kommen, machen sie ca. 50% aller Patientenkontakte des Allgemeinmediziners aus)
    • Schwierigkeiten in der Behandlung und Betreuung chronisch kranker Patienten zeichnen sich aus durch
      • Multimorbidität : Beschreibt das Auftreten mehrerer Erkrankungen bei einer Person - eine einheitliche Definition gibt es nicht, häufig werden jedoch folgende Kriterien angeführt:
        • Oft mit Verschlechterung von Körperfunktionen und Fähigkeiten einhergehend
        • Bestehen in mindestens drei von vier Quartalen
        • Mindestens zwei behandlungsbedürftige Erkrankungen
        • In der Geriatrie beschreibt Multimorbidität meist einen Funktionsverlust, der infolge mehrerer Erkrankungen und Schädigungen entsteht und durch eine höhere Vulnerabilität (Sturz, Nebenwirkungen, etc.) gekennzeichnet ist
          • Der Funktionsverlust wird meist durch ein akutes Ereignis getriggert (z.B. Dehydratation, Radiusfraktur)
      • Geringe Therapieadhärenz
        • Definitionen
          • Therapieadhärenz: Einhalten gemeinsam vereinbarter Therapieempfehlungen durch Patient und Arzt in einer intakten Arzt-Patient-Beziehung
          • Compliance: Einseitiges Befolgen ärztlicher Ratschläge/Anordnungen durch den Patienten
          • Non-Compliance: Mangelndes, einseitiges Befolgen ärztlicher Ratschläge/Anordnungen durch den Patienten
        • Gründe für geringe Therapieadhärenz
          • Patientenbezogene Faktoren, bspw. Angst vor Nebenwirkungen
          • Krankheitsbedingte Faktoren, bspw. schwere Symptome
          • Therapiebedingte Faktoren, bspw. komplexe Therapie
          • Medizinische Betreuung, gesundheitssystembedingte Faktoren, bspw. unzureichende Aufklärung des Patienten
          • Soziale/ökonomische Faktoren, bspw. prekäre finanzielle Situation
        • Verbesserung der Therapieadhärenz bspw. durch gemeinsame Festlegung individueller Therapieziele, Patientenschulungen, Erinnerungshilfen zur Medikamenteneinnahme, Patiententagebuch
      • Unzureichende Coping-Strategie
        • Definition (von engl. to cope with = "mit etwas zurecht kommen"): Coping bezeichnet das Bewältigungsvermögen von Krankheiten
          • Persönliche Coping-Strategien: Wie geht der Patient selbst mit seiner Krankheit um?
          • Kollektive Coping-Strategien: Soziale Unterstützung durch Familie, Freunde etc.
  • Geriatrische Patienten
  • Psychosomatische und psychiatrische Beschwerden

Multimorbidität, fehlende Therapieadhärenz und unzureichende Coping-Strategien verlängern die Krankheitsgeschichte und führen volkswirtschaftlich zu einer hohen sozioökonomischen Belastung durch chronisch Kranke!

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Hausbesuchtoggle arrow icon

  • Definition: Der Hausbesuch beinhaltet die Diagnostik und/oder Behandlung eines Patienten in seiner Unterkunft (Wohnung, Pflegeheim etc.) und muss durchgeführt werden, wenn der Patient nicht dazu in der Lage ist, selbst die ärztliche Praxis aufzusuchen.
  • Rechtliche Grundlage, die den behandelnden Arzt zu Hausbesuchen verpflichtet: „Ärztinnen und Ärzte dürfen individuelle ärztliche Behandlung, insbesondere auch Beratung, nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchführen.“ (§ 7 Abs. 4 Musterberufsordnung)

Hausbesuche gehören zum Aufgabenspektrum eines jeden niedergelassenen Arztes. Eine ausschließlich telefonische Beratung eines Patienten sowie eine "Telefondiagnose" sind nicht ausreichend!

  • Arten des Hausbesuchs
    • Termingerecht: Der Besuch erfolgt außerhalb der Sprechstundenzeiten und ist fest im Terminplan des Arztes berücksichtigt
      • Erstbesuch: Jeder Hausbesuch, der aufgrund eines neu aufgetretenen Symptoms erfolgt (z.B. Dyspnoe und Fieber)
      • Folgebesuch: Hausbesuche, die zur Verlaufskontrolle eines Krankheitsbildes notwendig sind (z.B. Verlaufskontrolle einer ambulant behandelten Pneumonie)
      • Hausbesuch im Rahmen einer Langzeitbetreuung: Verlaufskontrolle einer chronischen Erkrankung (z.B. Patienten im Pflegeheim, palliative ambulante Versorgung)
    • Notärztlicher Hausbesuch: Für einen notärztlichen Hausbesuch unterbricht der Arzt seine Sprechstunde. Von dem Patienten bzw. den Angehörigen wird eine dringliche, ärztliche Visite gefordert.

Neben einer adäquaten medizinischen Versorgung bietet der Hausbesuch die Möglichkeit, das häusliche Umfeld des Patienten zu erfassen!

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Medizin für Obdachlose: Hinschauen, handeln, helfen (Dezember 2024)

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