Grundlagen
Ziele der AMBOSS-SOP Schwindel
- Erkennen akut behandlungsbedürftiger, weil ggf. lebensbedrohlicher Störungen (systemisch oder zentral-vestibulär)
- Erkennen akut behandlungsbedürftiger, weil behindernder peripher-vestibulärer Erkrankungen
Definition
- Schwindel: Subjektiv empfundene und ggf. durch klinische Befunde objektivierbare Störung des Körpergleichgewichts durch eine vestibuläre oder nicht-vestibuläre Störung
- Vestibulärer Schwindel: Schwindel im engeren Sinne (engl. „Vertigo“) mit (gerichteter) Bewegungsillusion
- Nicht-vestibuläre Störung: Schwindelgefühl (Unsicherheitsgefühl, engl. „Dizziness“) ohne Bewegungsillusion , ausgelöst z.B. durch
- Systemische Ursachen
- Propriozeptionsstörung
- Funktionelle Störung
Klinisch-pragmatische Einteilung
Akut behandlungsbedürftig
- Systemische Ursachen: Störung der Orthostase mit Schwindelgefühl, ausgelöst z.B. durch
- Kardiale Rhythmusstörung
- Hypertonie
- Anhaltende oder intermittierende Hypotonie , z.B. durch
- Volumenmangel
- Kardiale Insuffizienz
- Antihypertensiva-Überdosierung
- Nicht-kardiale Präsynkopen
- Störung der Homöostase
- Substanzeinwirkung
- Ursachen des akuten vestibulären Syndroms
- Zentral-vestibuläre Störung
- Peripher-vestibuläre Erkrankungen, z.B.
I.d.R. nicht akut behandlungsbedürftig
- Störung des propriozeptiven Systems oder des Halte- und Bewegungsapparats
- Rein funktionelles Schwindelgefühl
Das Ursachenspektrum ist breit und sowohl den vestibulären als auch den nicht-vestibulären Schwindelformen können akut behandlungsbedürftige Ursachen zugrunde liegen!
Es besteht nur eine unsichere Übereinstimmung zwischen (subjektiver) Schwere der Beschwerden/Symptome und der Gefährlichkeit der Ursache!
1 - Basismaßnahmen und Anamnese
Basismaßnahmen
- Monitoring der Vitalparameter: Herzfrequenz, EKG, Atmung, spO2, Blutdruck, Körpertemperatur
- 12-Kanal-EKG mit Rhythmusstreifen
- Intravenöser Zugang
- Blutgasanalyse
- Venöse Blutentnahme: Kleines Blutbild, CRP, Blutzucker, Elektrolyte (Na+, K+, Mg2+), Kreatinin, Harnstoff, GFR, ALT, γGT, Troponin, CK, TSH, INR, pTT, Ethanol
- Bedarfsgerechte Versorgung, z.B. Antiemetikum bei Übelkeit und Erbrechen wie bspw. Dimenhydrinat
Anamnese
- Zeitliche Einordnung
- Seit wann besteht das Problem?
- Mit welcher Dynamik hat der Schwindel begonnen?
- Handelt es sich um ein Erstereignis?
- Bewegungsillusion vs. Unsicherheitsgefühl
- Wird eine scheinbare Bewegung wahrgenommen, oder liegt eher ein Unsicherheitsgefühl (insb. beim Stehen und Gehen) vor?
- Wenn ja, hat die Bewegungsillusion eine bestimmte Richtung?
- Wird eine scheinbare Bewegung wahrgenommen, oder liegt eher ein Unsicherheitsgefühl (insb. beim Stehen und Gehen) vor?
- Attackenartige vs. anhaltende Beschwerden
- Sind die Beschwerden anhaltend oder treten/traten sie mehrmals attackenartig mit beschwerdefreien Pausen auf?
- Wenn attackenartig, wie lange dauert eine Attacke? Endet die Attacke von allein?
- Wenn attackenartig, gibt es einen Auslöser?
- Wenn attackenartig, kommen die Beschwerden plötzlich oder anschwellend?
- Sind die Beschwerden anhaltend oder treten/traten sie mehrmals attackenartig mit beschwerdefreien Pausen auf?
- Begleitumstände
- Bestehen Übelkeit oder Erbrechen?
- Liegt eine Fallneigung vor, kam es zu Stürzen?
- Wenn ja, zu einer bestimmten Seite?
- Liegt zeitgleich mit dem Schwindel eine Hörstörung vor (Hypakusis, Tinnitus)?
- Sind andere neurologische Ausfälle oder Kopfschmerzen aufgetreten? Haben Dritte andere Ausfälle bemerkt?
- Gibt es lindernde Faktoren und wenn ja, welche genau?
- Existieren (prädisponierende) Vorerkrankungen?
- Werden (prädisponierende) Medikamente eingenommen?
- Besteht ein regelmäßiger Alkohol- oder sonstiger Substanzkonsum?
2 - Interpretation der bisher erhobenen Befunde
Eine gute Anamnese erlaubt bereits eine erste grobe differenzialdiagnostische Einordnung, wobei das Vorhandensein oder die Abwesenheit einer (gerichteten) Bewegungsillusion das wichtigste Unterscheidungskriterium darstellt!
Verdacht auf nicht-vestibuläre Störung (ohne Bewegungsillusion)
- Erkennen und Behandeln akut therapiebedürftiger systemischer Schwindelursachen durch Befundung der Basismaßnahmen und Anamnese, z.B.
- Kardiale Rhythmusstörung , siehe
- Hypertonie, hypertensive Entgleisung oder hypertensiver Notfall: Akuttherapie der Hypertonie und Evaluation des Effekts, siehe
- Hypotonie und deren Ursachen, siehe Synkope - Therapie
- Volumenmangel: Volumensubstitution und Evaluation des Effekts
- Kardiale Insuffizienz: Siehe auch Therapie der Herzinsuffizienz
- Antihypertensiva-Überdosierung: Therapieoptimierung
- Hypoglykämie, siehe Hypoglykämie - Therapie
- Elektrolytentgleisung, siehe auch Hyponatriämie als Notfall
- Alkohol-/Drogenintoxikation oder -entzug, siehe auch
Verdacht auf vestibuläre Störung (mit Bewegungsillusion)
- Hypothesenbildung anhand der weiteren anamnestischen Angaben
- Attackenartiger Schwindel
- Kurze Attacken
- Ohne Hörstörung: BPLS , Vestibularisparoxysmie
- Mit Hörstörung: Perilymphfistel
- Lange Attacken
- Ohne Hörstörung: Vertebrobasiläre TIAs
- Mit Hörstörung: Morbus Menière-Attacke
- Kurze Attacken
- Anhaltender Schwindel
- Apoplektiformer Beginn
- Ohne Hörstörung: Vertebrobasilärer Infarkt
- Mit Hörstörung: Labyrinthinfarkt
- Progredienter Beginn
- Ohne Hörstörung: Neuropathia vestibularis , verschiedene zentral-vestibuläre Ursachen
- Mit Hörstörung: Akustikusneurinom
- Apoplektiformer Beginn
- Attackenartiger Schwindel
- Überprüfung der Hypothese anhand der anschließenden Untersuchung
Die Anamnese kann zur Hypothesenbildung beitragen, darf aber nie allein zu einer diagnostischen Festlegung führen! Die Unterscheidung zwischen peripherer und zentraler vestibulärer Störung bei anhaltendem Schwindel ist mit der größten Unsicherheit verbunden und erfordert immer eine sorgfältige klinische Untersuchung!
3 - Fokussierte neurologische Untersuchung
Anamnese und klinische Untersuchung beinhalten viele verschiedene Faktoren zur Unterscheidung zwischen peripheren und zentralen vestibulären Störungen, aber kein einzelner ist sensitiv oder spezifisch genug. Es kommt immer auf die Zusammenschau aller Befunde an!
Für die klinische Untersuchung empfiehlt sich ein zweistufiges Vorgehen: Im ersten Schritt werden die visuellen, okulomotorischen, vestibulären und zerebellären Systeme gezielt untersucht. Bei eindeutigen Warnhinweisen für eine zentral-vestibuläre Störung sollte direkt anschließend eine notfallmäßige Bildgebung erfolgen. Bei sicherer klinischer Diagnose einer peripher-vestibulären Erkrankung kann eine spezifische Akuttherapie begonnen werden. Ist die Unterscheidung zwischen zentraler oder peripherer Ursache in diesem ersten Schritt nicht eindeutig oder zeigt sich ein Normalbefund, dann sollte die Untersuchung nachfolgend durch eine komplette neurologische Notfalluntersuchung vervollständigt werden.
Schwindel – Fokussierte neurologische Untersuchung | ||
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Untersuchung | Pathologische Befunde | |
Quantitative Bewusstseinsstörung |
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Sehen |
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Okulomotorik |
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Nystagmus |
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Vestibulo-okulärer Reflex |
Oder
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Diagnostische Lagerungsproben |
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Zerebelläre Funktion im Seitenvergleich |
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Gang- und Standprüfung |
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Erkennen von Warnhinweisen für eine zentral-vestibuläre Störung
Sobald einer der aufgeführten Warnhinweise vorliegt, muss von einer zentral-vestibulären Störung ausgegangen werden!
Wichtigste Warnhinweise auf eine zentral-vestibuläre Störung
HINTS-Protokoll | ||||
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Untersuchungen | Pathologische Befunde | Zusammenfassung | ||
HI | Head Impulse | Normaler horizontaler Kopfimpulstest (vestibulo-okulärer Reflex in der Horizontalen) trotz Schwindels mit Bewegungsillusion | Impulse Normal | IN |
N | Nystagmus | Blickrichtungsabhängiger, alternierender horizontaler Nystagmus (schnelle Phase) | Fast-Phase Alternating | FA |
TS | Test of Skew | Skew Deviation mit Einstellsakkade nach Aufdecken im Abdecktest | Refixation on Cover Test | RCT |
Weitere Warnhinweise auf eine zentral-vestibuläre Störung
- Quantitative Bewusstseinsstörung
- Zeichen einer zentralen Okulomotorikstörung
- Diskonjugierte Bulbusstellung
- Bulbusbewegungsstörung inkl. Funktionsstörung der Hirnnerven III , IV , VI , Konvergenzstörung, horizontaler Blickparese , internukleärer Ophthalmoplegie , Eineinhalb-Syndrom etc.
- Gestörte Fixationssuppression des vestibulo-okulären Reflexes
- Nystagmus durch Fixation bzw. deren Aufhebung nicht modifizierbar
- Jeder alternierende Nystagmus
- Dissoziierter Nystagmus
- Rein torsionaler Nystagmus
- Vertikaler Nystagmus (Upbeat-Nystagmus oder Downbeat-Nystagmus )
- Lageabhängiger Nystagmus
- Erworbener Pendelnystagmus
- Nystagmus retractorius
- Lateralisiert sakkadierte Blickfolge
- Verlangsamte und/oder dysmetrische Willkürsakkaden
- Zeichen einer Koordinationsstörung von Rumpf und/oder Extremitäten
- Gestörte zerebelläre Koordinationsprüfung
- Rumpfataxie
- Zeitliche Charakteristik
- Eindeutiger apoplektiformer Beginn und anhaltende Störung
Notfallmäßige Bildgebung bei Warnhinweisen
- Idealerweise cMRT (inkl. DWI, FLAIR, T2* und TOF-MR-A), weil damit Hirnstamm und Kleinhirn am besten dargestellt werden können
- Frage nach strukturellen, insb. infratentoriellen und ischämischen Läsionen
- Weiteres Vorgehen dann je nach Befund
- Bei Symptombeginn innerhalb des Lysezeitfensters oder bei hochdynamischer klinischer Präsentation Vorgehen gemäß: Bildgebung bei V.a. akuten Schlaganfall - AMBOSS-SOP
Bei möglicher, aber klinisch nicht eindeutiger zentral-vestibulärer Störung muss die neurologische Notfalluntersuchung unverzüglich komplettiert werden! In Zweifelsfällen muss danach die notfallmäßige Bildgebung folgen!
Bei schwer systematisierbaren Symptomen der Okulomotorik- und Koordinationsstörung und nachvollziehbarer Einnahme/Überdosierung von Anfallssuppressiva / neuropathischen Schmerzmitteln, anderen zentral wirksamen Ionenkanalblockern oder ototoxischen Medikamenten auch an mögliche UAW denken!
Erkennen von peripher-vestibulären Erkrankungen
Hier muss jeweils eine Kombination von entscheidenden Befunden zutreffen. In Zweifelsfällen sollte bis zum Ausschluss immer von einer zentralen Ursache ausgegangen werden!
Schwindel – Befundübersicht peripher-vestibulärer Erkrankungen | ||
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Anamnese | Klinische Befunde | Verdachtsdiagnose + Therapie |
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- Sonderfall: Vestibuläre Migräne
- Migräneaura mit vorübergehenden peripheren oder zentralen vestibulären Symptomen
- Vestibuläre Symptome können den migränetypischen Kopfschmerzen vorausgehen oder als isolierte Migräneaura auftreten
- Diagnosestellung über gründliche Anamnese
- Insb. bei Erstmanifestation mit zentralen vestibulären Symptomen Bildgebung zum sicheren Ausschluss anderer zentraler Ursachen sinnvoll
- Nicht spezifisch therapierbar, Fokus auf Patientenedukation und ggf. medikamentöse Migräneprophylaxe
4 - Komplettierte neurologische Notfalluntersuchung
Befunderhebung
Wenn im ersten Schritt keine eindeutigen oder unauffällige Befunde erhoben wurden, erfolgt im zweiten Schritt die komplettierte neurologische Notfalluntersuchung mit der Frage nach anderen zentralen fokal-neurologischen Defiziten, die mit einer zentral-vestibulären Störung vergesellschaftet sein können oder unabhängig davon dem unscharfen Beschwerdebegriff „Schwindel“ zugrunde liegen können.
Komplettierte neurologische Notfalluntersuchung | ||
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Untersuchung | Pathologische Notfallbefunde | |
Sprechen |
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Faziale Motorik im Seitenvergleich |
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Faziale Sensibilität im Seitenvergleich |
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Hirnstammreflexe im Seitenvergleich |
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Grobe Kraftprüfung im Seiten- und Höhenvergleich |
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Einzelkraftprüfung im Seiten- und Höhenvergleich und gegen Widerstand |
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Muskeltonus im Seiten- und Höhenvergleich |
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Reflexe im Seiten- und Höhenvergleich |
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Sensibilität im Seiten- und Höhenvergleich |
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Notfallmäßige Bildgebung bei zentralen fokal-neurologischen Defiziten
- Idealerweise cMRT (inkl. DWI, FLAIR, T2* und TOF-MR-A), weil damit Hirnstamm und Kleinhirn am besten dargestellt werden können
- Frage nach strukturellen, insb. infratentoriellen und ischämischen Läsionen
- Weiteres Vorgehen dann je nach Befund
- Bei Symptombeginn innerhalb des Lysezeitfensters oder bei hochdynamischer klinischer Präsentation Vorgehen gemäß: Bildgebung bei V.a. akuten Schlaganfall - AMBOSS-SOP
Schwindel ist immer dann stationär zu behandeln, wenn eine zentrale Ursache (zentral-vestibuläre oder andere zentrale Störung) nicht ausgeschlossen werden kann oder wenn vegetative Begleitsymptome (Übelkeit, Erbrechen und dadurch eingeschränkte Mobilität) eine ambulante Weiterbehandlung unmöglich machen!