Gegenstand und Ziel dieser SOP
Ziele der AMBOSS-SOP Schlaganfall
- Schnellstmögliche klinische Identifikation eines plausiblen Schlaganfallsyndroms
- Bildgebende Notfalldiagnostik zum Blutungsausschluss und zur Identifikation von Gefäßverschlüssen und Stenosen
- Indikationsstellung und ggf. Durchführung einer Neurothrombektomie und/oder einer Schlaganfall-Thrombolyse
Definition
Plötzlich einsetzendes und anhaltendes oder spontan remittierendes neurologisches Defizit aufgrund fokaler Hirnfunktionsstörung durch
- Blutung aus einem arteriellen Hirngefäß mit direkter Schädigung des umgebenden Hirngewebes (intrazerebrale Blutung)
- Verschluss eines arteriellen Hirngefäßes mit Ischämie des abhängigen Hirngewebes (Hirninfarkt oder TIA)
Das rechtzeitige Erkennen eines Schlaganfalls und die Einleitung der geeigneten Diagnostik ist in allen Bereichen der Notfallversorgung gefordert, die weitere Versorgung und Therapie sollte nach Möglichkeit immer in spezialisierten Zentren erfolgen!
1 - Ersteinschätzung und Basismaßnahmen
Jedes plötzlich aufgetretene neurologische Defizit deutet unabhängig davon, ob es persistiert, auf einen Schlaganfall hin und muss als Notfall behandelt werden! Hirninfarkte und TIAs beruhen auf denselben zugrunde liegenden Risikofaktoren, die zu einer schnellen sekundären Verschlechterung führen können!
Bei V.a. Schlaganfall muss die erste Bildgebung schnellstmöglich erfolgen – auch bei Patienten, die absehbar nicht für eine Schlaganfall-Thrombolyse in Frage kommen, weil im Einzelfall eine Neurothrombektomie noch möglich sein und ein hämorrhagischer Schlaganfall zu weitreichenden Therapieentscheidungen führen kann! Die Ersteinschätzung und Basismaßnahmen vor Bildgebung sollten daher nicht länger als 5–10 Minuten dauern!
Anamnese
- Identifikation der Symptomatik
- Welche Symptome oder Defizite sind aufgetreten? Liegt oder lag eine relevante Störung der Sprache, des Sprechens, des Sehens, der Sensomotorik oder der Koordination vor?
- Zeitliche Charakteristik der Symptomatik: Beginn (plötzlich)? Dynamik (anhaltend oder bereits remittiert)? Genaues Zeitfenster bekannt?
- Beginn: Sind die Symptome apoplektiform, d.h. in ihrer vollständigen Ausprägung plötzlich aufgetreten?
- Dynamik: Liegen unverändert anhaltende Defizite vor oder ist die Symptomatik bereits rückläufig oder vollständig remittiert?
- Genaues Zeitfenster: Um wie viel Uhr ist die Symptomatik eingetreten bzw. wann war der letzte sicher symptomfreie Zeitpunkt?
- Komplettierung der Anamnese über die Klärung der o.g. Fragen hinaus erfolgt parallel zu den nun folgenden Maßnahmen, ohne diese zu verzögern!
- Vaskuläre Vorerkrankungen?
- Bekannte kardiovaskuläre Risikofaktoren?
- Bekannte Erkrankung mit erhöhtem Blutungsrisiko?
- Bestehen andere Vorerkrankungen?
- Vormedikation?
Basismaßnahmen
- Überprüfung und Sicherung der Vitalfunktionen nach dem cABCDE-Schema
- Monitoring der Vitalparameter: 12-Kanal-EKG (mit Befundung!), Herzfrequenz, Blutdruck, Atmung, spO2, Körpertemperatur
- Intravenöser Zugang: Mind. einen stabilen i.v. Zugang
- BGA inkl. BZ-Messung
- Basis-Labordiagnostik bei Schlaganfall: Kleines Blutbild, CRP, Blutzucker, Elektrolyte (Na+, K+), Lactat, Kreatinin, Harnstoff, GFR, Bilirubin, ALT, AST, γGT, Troponin, CK, TSH, INR, pTT, Ethanol
- Außerdem (spätestens im stationären Verlauf): Lipidstatus (Gesamtcholesterin, LDL, HDL, Triglyceride, ggf. Lp(a)), HbA1c
Neurologische Notfall-Untersuchung
Orientierende neurologische Notfalluntersuchung auf fokal-neurologische Defizite | ||
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Untersuchung | Pathologische Notfallbefunde | |
Sprache/Sprechen |
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Sehen |
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Okulomotorik |
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Faziale Motorik im Seitenvergleich |
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Faziale Sensibilität im Seitenvergleich |
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Hirnstammreflexe im Seitenvergleich |
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Grobe Kraftprüfung im Seitenvergleich |
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Einzelkraftprüfung im Seitenvergleich und gegen Widerstand |
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Muskeltonus im Seitenvergleich |
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Reflexe im Seitenvergleich |
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Sensibilität im Seitenvergleich |
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Zerebelläre Funktion im Seitenvergleich |
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Stand- und Gangprüfung, wenn durchführbar |
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Interpretation der Erstbefunde (Plausibilitätsprüfung)
Ziel von Anamnese und Untersuchung ist die Klärung, ob es sich bei dem klinischen Erscheinungsbild um ein plausibles Schlaganfallsyndrom handelt! Wesentlich ist hierfür der plötzliche Beginn und der Bezug der Symptome zur neurovaskulären Anatomie des Gehirns!
Plausibilitätsprüfung anhand dreier Kriterien
Die Befunde aus Anamnese, Untersuchung und Basisdiagnostik (insb. BGA) müssen auf die Plausibilität im Hinblick auf ein Schlaganfallsyndrom geprüft werden. Dafür sollten die folgenden drei Kriterien erfüllt sein:
- Defizit lässt sich auf eine neurovaskuläre Lokalisation im Gehirn zurückführen
- Einseitige sensomotorische Defizite
- Sprachstörung
- Zentrale Sehstörung
- Hirnstammsyndrom inkl. isolierter Sprechstörung
- Zerebelläres Defizit
- Plötzlicher Symptombeginn
- Plötzlichkeit resultiert aus einer sofortigen Minderperfusion des von einem blockierten arteriellen Gefäßabschnitt abhängigen Hirngewebes
- Fluktuierende Defizite im Sinne schnell rezidivierender, plötzlich einsetzender reversibler Ausfälle/TIAs können bei floriden arterioarteriellen Emboliequellen und bei hämodynamischen Störungen vorkommen
- Im Zweifelsfall (unbekannter Symptombeginn bei passendem Schlaganfallsyndrom) sollte bis zur genaueren Klärung ein plötzlicher Symptombeginn angenommen werden
- Das vorliegende Defizit ist kein offensichtliches Stroke Mimic, z.B.
- Hypoglykämie in der BGA → Hypoglykämie ausgleichen und prüfen, ob das Defizit trotzdem persistiert
- Periphere oder streng segmentale Zuordnung gelähmter Muskeln oder betroffener Dermatome → Periphere Nervenläsion in Erwägung ziehen
- Streng mediane Begrenzung sensibler Ausfälle → Neuroanatomisch unplausibles Symptom
- Zwischen verschiedenen Körperregionen fluktuierende Symptomatik → Unplausibles Erscheinungsbild im Sinne der neurovaskulären Anatomie
Bei hämorrhagischen Schlaganfällen ist es möglich, dass die Defizite sich nicht eindeutig an die neurovaskuläre Anatomie halten! Daher gilt im Zweifel bei plötzlich eingetretenen fokal-neurologischen Defiziten, mind. bis zur Befundung der ersten Bildgebung fortzufahren!
Häufige Schlaganfallsyndrome
- Territoriale Syndrome, z.B.
- Mediasyndrom: Vordergründig kontralaterale brachiofaziale (d.h. arm- und gesichtsbetonte) sensomotorische Hemisymptomatik, Aphasie (bei Lokalisation in der dominanten Hemisphäre)
- Posteriorsyndrom: Vordergründig kontralaterale homonyme Hemianopsie
- Lakunäre Syndrome, z.B.
- Pure Motor Stroke: Einseitige rein motorische Ausfälle
- Dysarthria-clumsy Hand Syndrom: Sprechstörung, einseitige zentrale faziale Parese und ipsilaterale Feinmotorikstörung der Hand
- Weitere Syndrome siehe: Symptomatik des Schlaganfalls
Quantifizierung des Schweregrads mittels NIHSS
- Standardisiertes klinisch-funktionelles Monitoring ab sofort und im anschließenden Verlauf
- Erhebung aus den zuvor erhobenen Untersuchungsbefunden
2 - Bildgebung
- Anforderung (auch bei bereits remittiertem Defizit!): CT des Kopfs + supraaortale CT-A
- Fragestellung
Bildgebung und therapeutische Konsequenzen bei Schlaganfall | ||
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Initiale Befundkonstellation | Zeitfenster | Weiteres Vorgehen |
Unabhängig vom Zeitfenster |
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| - |
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≤4,5 h | ||
>4,5 h und <9 h oder unklar, aber Bemerken der Symptome ab der zweiten Nachthälfte |
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Unklar, aber Bemerken der Symptome innerhalb 4,5 h |
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>9 h |
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| ≤4,5 h | |
>4,5 h und <6 h | ||
>6 h |
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Unklar |
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| ≤4,5 h | |
>4,5 h oder unklar |
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Spezialfall
| Unabhängig vom Zeitfenster |
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Spezialfall
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Spezialfall
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Die endgültige Indikationsstellung zur Neurothrombektomie obliegt der zuständigen neurointerventionellen Fachabteilung. Danach sollten sowohl die überbrückende Lysetherapie des Schlaganfalls („Bridging“, wenn möglich) als auch alle anderen Vorbereitungen (z.B. Anästhesievorbereitung, Notfallverlegung) schnellstmöglich erfolgen! Anmerkung: Dargestellt ist ein idealisierter schematischer Ablauf der praktischen Akutdiagnostik bei Schlaganfall, der sowohl die medikamentöse als auch die Neurothrombektomie als Therapieoptionen berücksichtigt und dabei nicht von flächendeckend verfügbaren Notfall-MRT-Kapazitäten ausgeht. Dies geschieht mit dem Ziel, das Vorgehen zu vereinheitlichen, um einen allgemein sicheren Umgang mit diesem schwerwiegenden Notfall möglichst über verschiedene medizinische Fachdisziplinen und Ausbildungsstufen hinweg zu gewährleisten. Im Einzelfall kann der vorgeschlagene Ablauf die Notwendigkeit zur notfallmäßigen Verlegung bedeuten.
3 - Systemische Lysetherapie bei ischämischem Schlaganfall
Indikationsstellung für die Lysetherapie des Schlaganfalls mit rt-PA
Die systemische Lysetherapie ist für die meisten Pat. mit Hirninfarkten die einzige infrage kommende rekanalisierende Therapie, die eine anhaltende Behinderung verhindern kann. Die Entscheidung gegen eine Lysetherapie sollte daher nur bei absoluten Kontraindikationen und nach sorgfältiger Nutzen/Risiko-Abwägung gefällt werden!
- Absolute Kontraindikationen
- Intrakranielle Blutung
- Frisch demarkierte Ischämie
- Hypodensität >⅓ des Territoriums der A. cerebri media
- INR >1,7
- Intrakranielle arterielle Dissektion
- Aortendissektion
- Bakterielle Endokarditis
- Relative Kontraindikationen: Individuelle Abwägung von Nutzen und Risiken der Lysetherapie
- Geringfügiges, funktionell nicht relevantes neurologisches Defizit
- Schnelle Besserung der klinischen Symptomatik
- Spontan sistierter epileptischer Anfall
- Einnahme direkter oraler Antikoagulanzien , Lysetherapie erwägen, wenn sensitive Gerinnungstests unauffällig sind oder bei normaler Nierenfunktion in den letzten 48 h keine Einnahme erfolgt ist
- Intrakranielle Blutung in der Vorgeschichte
- Schlaganfall, schweres Schädel-Hirn-Trauma oder intrakranieller operativer Eingriff in den letzten 3 Monaten
- Gastrointestinale oder urogenitale Blutung in den letzten 3 Wochen
- Großer chirurgischer Eingriff oder schweres Trauma in den letzten 2 Wochen
- Punktion eines nicht-komprimierbaren Gefäßes oder Lumbalpunktion in der letzten Woche
- Thrombozytopenie <100 /nL
- Schwangerschaft, Entbindung oder Wochenbett
- Verdacht auf oder bekannte Erkrankung mit erhöhtem Blutungsrisiko
Der Nutzen der medikamentösen Lysetherapie ist zeitabhängig, Indikationsstellung und Therapiebeginn sollten daher so schnell wie möglich erfolgen!
Durchführung der Lysetherapie des Schlaganfalls mit rt-PA
- Voraussetzung: Blutdruck systolisch <180 mmHg und diastolisch <105 mmHg
- Bei Hypertonie über den Schwellenwerten: Gabe von Urapidil
- Siehe auch: Hypertensiver Notfall - Therapie
- Schnellstmöglicher Beginn innerhalb von 4,5 h nach Symptombeginn unter kontinuierlicher Überwachung der Vitalparameter inkl. engmaschiger Blutdruckkontrolle
- Bei fehlenden Hinweisen auf Gerinnungsstörung und ohne orale Antikoagulation in der Vormedikation kann auch vor Eintreffen der Gerinnungsdiagnostik begonnen werden
- Beginn der Lysetherapie idealerweise direkt nach der Bildgebung
- Perfusortherapie i.v.: 0,9 mg/kgKG rt-PA (Actilyse®) , davon 10% als Bolus in der 1. Minute und 90% über 60 min
- Auf Komplikationen achten!
Mögliche Komplikationen während/nach der Lysetherapie des Schlaganfalls
- Intrakranielle Blutung: Verschlechterung des neurologischen Defizits , Vigilanzstörung, rascher Blutdruckanstieg, Kopfschmerzen, Erbrechen
- Vorgehen
- Lysetherapie abbrechen
- Notfallmäßige CT-Kontrolle
- Bei Blutung siehe: Intrazerebrale Blutung - Therapie
- Vorgehen
- Extrakranielle Blutung: Symptomatik divers je nach Lokalisation
- Vorgehen je nach Lokalisation und Ausmaß
- Meist kein Abbruch der Lysetherapie und keine spezifische Therapie nötig
- Ggf. Vorgehen nach cABCDE-Schema
- Vorgehen je nach Lokalisation und Ausmaß
- Angioneurotisches Ödem: 30–120 min nach Infusionsbeginn zumeist milde Schwellung von Lippen und Zunge, dann Ausweitung auf den Oropharynx
- Vorgehen
- Lysetherapie abbrechen
- Notfalltherapie mit i.v. Glucocorticoid , H2-Blocker und H1-Blocker [1]
- Atemwegsmanagement, siehe: Erstmaßnahmen zur Atemwegssicherung
- Für das weitere Vorgehen siehe: Therapie medikamenteninduzierter Angioödeme
- Vorgehen
4 - Aufnahme auf die Stroke Unit
- Indikation: Ischämischer Schlaganfall oder TIA mit Symptombeginn innerhalb der letzten 72 h
- Allgemeine Anordnungen
- Kontinuierliches Monitoring der Vitalparameter (EKG, Herzfrequenz, Blutdruck, Atmung, spO2), Temperatur- und Blutzuckerkontrollen mind. alle 8 h
- Vigilanzkontrolle und Erhebung des NIHSS mind. alle 8 h, bei relevanter Verschlechterung notfallmäßige CT-Kontrolle, bei Blutung siehe: Intrazerebrale Blutung - Therapie
- Orale Antikoagulanzien zunächst pausieren
- Antihypertensive Medikation nach TIA fortführen, nach ischämischem Schlaganfall zunächst pausieren
- Blutdruck-Zielwerte, z.B.: syst. 170 mmHg (Toleranz: 220–110 mmHg) und diast. 95 mmHg (Toleranz: 110–80 mmHg)
- Beginn einer Thromboseprophylaxe
- Beginn (oder Fortführung) der Thrombozytenaggregationshemmung nach ischämischem Schlaganfall am Folgetag
- Spezielle Maßnahmen nach Lysetherapie des Schlaganfalls
- Blutdruck-Zielwerte, z.B.: syst. 170 mmHg (Toleranz: 180–110 mmHg) und diast. 95 mmHg (Toleranz: 100–75 mmHg)
- CT-Kontrolle 24 h nach Lysetherapie, bei Blutung siehe: Intrazerebrale Blutung - Therapie
- Beginn der Thromboseprophylaxe und Thrombozytenaggregationshemmung nach Ausschluss einer intrakraniellen Blutung in der CT-Kontrolle
- Spezielle Anordnungen nach Neurothrombektomie erfolgen individuell nach Rücksprache mit den interventionell behandelnden Ärzten
Die Kombination aus Fieber und akutem fokal-neurologischem Defizit erfordert schnellstmögliche Liquordiagnostik (Ausschluss einer ZNS-Inflammation inkl. zerebraler Vaskulitis)! Bei Z.n. systemischer Lyse sollte die Punktion erst nach unauffälliger CT-Kontrolle nach 24 h erfolgen!