Zusammenfassung
Das Symptom Torticollis beschreibt eine angeborene oder erworbene Schiefhaltung des Kopfes mit Neigung zur betroffenen und Rotation zur gesunden Seite. Die zugrunde liegenden Krankheitsbilder sind vielfältig und reichen von muskulären und ossären Veränderungen über ZNS-Pathologien und Seh- oder Hörstörungen bis hin zu Traumata, Infektionen und rheumatischen Erkrankungen. Die häufigste Form ist der Torticollis muscularis congenitus infolge einer angeborenen einseitigen Verkürzung des M. sternocleidomastoideus. Der Symptombeginn und -verlauf sowie das Vorgehen bei Diagnostik und Therapie sind in Abhängigkeit von der Ursache sehr variabel.
Definition
Torticollis (Schiefhals): Angeborene oder erworbene Schiefhaltung des Kopfes (Neigung zur betroffenen und Rotation zur gesunden Seite). Abhängig von der Ursache zeigt sich ein variabler Symptombeginn und -verlauf.
Klassifikation
Einteilung nach Beginn und Verlauf
Der Torticollis ist ein Symptom und keine Diagnose, weshalb verschiedene Krankheitsbilder als Ursache in Frage kommen!
Epidemiologie
- Neugeborene: Meist Torticollis muscularis congenitus, Torticollis osseus oder Torticollis spasmodicus
- Kleinkinder: Zusätzlich zu den typischen Formen beim Neugeborenen Torticollis opticus und benigner paroxysmaler Torticollis
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Torticollis muscularis congenitus (angeborener muskulärer Schiefhals)
- Definition: Angeborene einseitige Verkürzung des M. sternocleidomastoideus mit konsekutiver Fehlhaltung des Kopfes [1][2]
- Epidemiologie: Häufigste Form des Torticollis bei Kindern im 1. Lebensjahr
- Ätiologie und Pathogenese
- Kein Geburtstrauma, da der Schiefhals schon vor der Geburt vorliegt
- Pathogenese nicht vollständig geklärt: Hypothesen
- Kompartmentsyndrom mit Ischämie infolge Fehlhaltung im Mutterleib bzw. im Geburtskanal
- Abnorme Gefäßversorgung
- Risikofaktor: Beckenendlage
- Assoziation mit Hüftdysplasie und Klumpfuß
- Klinik
- Neigung des Kopfes zur betroffenen Seite, Rotation zur gesunden Seite
- Evtl. tastbarer verdickter Muskelstrang
- Häufig schon direkt postnatal erkennbar
- Diagnostik: Röntgen der HWS immer vor Beginn einer Bewegungstherapie!
- Differenzialdiagnosen
- Kontraktur oder Fehlen anderer Halsmuskeln
- Atlanto-axiale Subluxation
- Therapie
- Frühzeitige Einleitung einer Physiotherapie nach Vojta
- Korrigierende Lagerung und vermehrte Ansprache des Kindes von der Gegenseite
- Bei Fortbestehen über das 1. Lebensjahr hinaus: Ggf. Tenotomie von Ansatz und Ursprung des betroffenen M. sternocleidomastoideus
- Anschließend Orthesenversorgung und Fortführen der Physiotherapie
- Komplikationen
Torticollis osseus (Kurzhals oder ossärer Schiefhals)
- Epidemiologie [2]
- Angeboren: Diagnosestellung postnatal oder in den ersten Lebensjahren
- Erworben: In jedem Alter möglich
- Ätiologie
- Angeborene Fehlbildung der Halswirbel
- Asymmetrische Atlasassimilation, Wirbelverschmelzungen oder Halbwirbel
- Klippel-Feil-Syndrom: Blockwirbel mit Kurzhals und Bewegungseinschränkung
- Erworbene Asymmetrie infolge
- Geburtstraumatischer Fehlstellung
- Defektheilung nach traumatischer Halswirbelfraktur
- Angeborene Fehlbildung der Halswirbel
- Klinik: Progrediente Fehlhaltung des Kopfes mit Neigung zur betroffenen und Rotation zur gesunden Seite, bei angeborenem/geburtstraumatischem Defekt oft schon postnatal erkennbar
- Diagnostik: Röntgen der HWS
- Therapie
- Physiotherapie
- Ggf. operative Therapie
Benigner paroxysmaler Torticollis
- Epidemiologie: Auftreten i.d.R. innerhalb der ersten Lebensmonate [1]
- Ätiologie
- Wahrscheinlich genetische Komponente
- Assoziation mit Migräne
- Klinik
- Muskelspasmen mit konsekutiver Fehlhaltung des Kopfes
- Häufig alternierend links- und rechtsseitig
- Morgens > abends
- Dauer: Minuten über Stunden bis Tage, ca. 1–3×/Monat
- Zum Teil zusätzlich Drehung von Rumpf und Armen sowie Blickdeviation, rollende Augenbewegungen, Ptosis, Mydriasis, Blässe, Übelkeit, Erbrechen, Gangunsicherheit, Weinen und reduziertes Allgemeinbefinden
- I.d.R. spontanes Verschwinden innerhalb des ersten Lebensjahres
- Muskelspasmen mit konsekutiver Fehlhaltung des Kopfes
- Diagnostik
- Immer
- Bildgebung des Schädels, insb. der hinteren Schädelgrube und des kraniozervikalen Übergangs zum Ausschluss von ossären/intrakraniellen Ursachen
- Ausschluss eines gastroösophagealen Refluxes
- EEG
- Im Intervall neurologische Kontrolle
- Immer
- Therapie
- Keine kausale oder prophylaktische Therapie verfügbar
- Im Anfall ggf. Antiemetika: Bspw. Dimenhydrinat
- Siehe auch: Vorgehen bei Übelkeit und Erbrechen im Kindes- und Jugendalter
- Differenzialdiagnosen
- Extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen, bspw. durch Metoclopramid
- Sandifer-Syndrom
Torticollis spasmodicus (spastischer Schiefhals)
- Weitere Synonyme: Torticollis spasticus, zervikale Dystonie
- Definition: Idiopathische, primär fokale, zervikale Dystonie mit konsekutiver Fehlhaltung des Kopfes
- Epidemiologie: Häufige Form im Kindesalter, insgesamt Altersgipfel im Alter 30–50 Jahre
- Ätiologie: Spasmen der Halsmuskulatur durch
- Alle Arten von Hirnschädigungen, bspw.
- Einnahme von Antagonisten am Dopaminrezeptor (Antipsychotika, Metoclopramid (sog. MCP-Tropfen))
- Klinik
- Plötzliche krampfhafte, schmerzhafte Kontraktion des M. sternocleidomastoideus (fokal) mit konsekutiver Fehlhaltung des Kopfes
- Anschließend spontan sistierend, intermittierend auftretend
- Unterdrückung durch den Patienten mittels Geste antagoniste
- Diagnostik
- Klinik und Anamnese!
- Bei reduziertem Allgemeinzustand bzw. V.a. eine akute Enzephalitis: Sofortige Notfalldiagnostik!
- Bei V.a. eine intrakranielle Raumforderung: Sofortige kraniale Bildgebung!
- Therapie
- Therapie der ursächlichen Erkrankung bzw. Absetzen ursächlicher Medikamente
- Bei Symptomatik infolge Dopaminantagonisten: Biperiden
- Kinder <1 Jahr
- Kinder 1–6 Jahre
- Kinder 7–10 Jahre
- Kinder ≥11 Jahre und Erwachsene
- Bei ZNS-bedingter Schiefhaltung
- Physiotherapie
- Lokale, wiederholte Botulinum-Toxin-Injektion in den betroffenen Muskel , ggf. EMG-Kontrolle
Siehe auch: Torticollis spasmodicus im Kapitel Dystonie
Torticollis opticus (okulärer Schiefhals)
- Epidemiologie: Typischerweise im Kleinkindalter [2]
- Ätiologie: Einseitige Sehstörung, insb. Parese des M. obliquus superior (infolge N.-trochlearis-Lähmung ) mit kompensatorischer Kopfhaltung
- Klinik: Progrediente, initial habituelle, im Verlauf fixierte Fehlhaltung des Kopfes
- Diagnostik: Sehtest
- Therapie
- Therapie der ursächlichen Erkrankung
- Ggf. Physiotherapie
Torticollis acusticus (otogener Schiefhals)
- Epidemiologie: Typischerweise im Kleinkindalter [2]
- Ätiologie: Einseitige Hörminderung mit kompensatorischer Kopfhaltung
- Klinik: Progrediente, initial habituelle, im Verlauf fixierte Fehlhaltung des Kopfes mit Neigung zur betroffenen und Rotation zur gesunden Seite
- Diagnostik: Hörtest
- Therapie
- Therapie der ursächlichen Erkrankung
- Ggf. Physiotherapie
Torticollis acutus (akuter Schiefhals)
- Epidemiologie: Insb. Kinder und Jugendliche, in jedem Alter möglich [2]
- Ätiologie
- Frühform einer diskogenen HWS-Erkrankung mit Fehlhaltung und Bewegungseinschränkung (Sonderform des Zervikalsyndroms)
- Pathogenese
- Horizontalspalten und Hypermobilität der Bewegungssegmente im HWS-Bereich → intradiskale Massenverschiebungen → Irritation der sensiblen Fasern des Ramus meningeus im hinteren Längsband → reflektorische, entlastende Schiefhaltung durch Einstellen der Wirbelgelenkfacetten in extreme Position → sekundäre Dauerkontraktur der Schulternackenmuskulatur zur Aufrechterhaltung der Position
- Klinik: Plötzliche schmerzbedingte Zwangshaltung des Kopfes mit Neigung zur betroffenen und Rotation zur gesunden Seite
- Diagnostik: Diagnosestellung klinisch, i.d.R. keine erweiterte Diagnostik notwendig
- Therapie
- Wärmetherapie
- Analgetikatherapie
-
Paracetamol
- Erwachsene
- Kinder
- Siehe auch: Paracetamol (pädiatrisch)
-
Ibuprofen
- Erwachsene
- Kinder
- Siehe auch: Ibuprofen (pädiatrisch)
-
Paracetamol
- Ggf. Physiotherapie (Traktion)
- Prognose: I.d.R. folgenloses Abheilen der akuten Symptomatik innerhalb weniger Tage
Torticollis infectiosus (infektiöser Schiefhals)
- Epidemiologie: In jedem Alter möglich
- Ätiologie: Bakterielle HNO-Infektion (bspw. Pharyngitis oder Tonsillitis) mit konsekutiver Entzündung der Halsweichteile
- Klinik: Plötzlich schmerz- und schwellungsbedingte Fehlhaltung des Kopfes mit Neigung zur betroffenen und Rotation zur gesunden Seite
- Diagnostik: Meist klinische Diagnosestellung, i.d.R. keine erweiterte Diagnostik notwendig
- Therapie
- Therapie der ursächlichen Erkrankung
- Analgetikatherapie
- Paracetamol
- Erwachsene
- Kinder
- Siehe auch: Paracetamol (pädiatrisch)
- Ibuprofen
- Erwachsene
- Kinder
- Siehe auch: Ibuprofen (pädiatrisch)
- Paracetamol
- Komplikation: Torticollis atlantoepistrophealis (Grisel-Syndrom)
- Schiefhals infolge einer atlantoaxialen Dislokation durch eine entzündlich bedingte Lockerung des Querbandes hinter dem Dens des 2. Zervikalwirbels
- Prognose: Spontan rückläufig mit Abklingen der Entzündung innerhalb weniger Tage
Torticollis rheumaticus (rheumatischer Schiefhals)
- Epidemiologie: Eher im Erwachsenenalter, prinzipiell in jedem Alter möglich [2]
- Ätiologie: Rheumaerkrankung
- Genaue Pathogenese unklar, wahrscheinlich durch entzündliche Vorgänge in den Gelenkkapseln der HWS
- Klinik: Plötzliche schmerzbedingte Zwangshaltung des Kopfes mit Neigung zur betroffenen und Rotation zur gesunden Seite
- Diagnostik: Meist klinische Diagnosestellung, i.d.R. keine erweiterte Diagnostik notwendig
- Therapie
- Therapie der ursächlichen Erkrankung
- Leichte Extensionshaltung, ggf. Halskrawatte
- Analgetikatherapie
- Paracetamol
- Erwachsene
- Kinder
- Siehe auch: Paracetamol (pädiatrisch)
- Ibuprofen
- Erwachsene
- Kinder
- Siehe auch: Paracetamol (pädiatrisch) und Ibuprofen (pädiatrisch)
- Paracetamol
Torticollis cutaneus (Narbenschiefhals)
- Epidemiologie: In jedem Alter möglich [2]
- Ätiologie: Zusammenziehen der Haut infolge zervikaler Weichteil- oder Hautverletzungen durch Trauma, Operation (bspw. Neck Dissection) oder Verbrennung
- Klinik: Progrediente Fehlhaltung des Kopfes mit Neigung zur betroffenen und Rotation zur gesunden Seite
- Diagnostik: Meist klinische Diagnosestellung, i.d.R. keine erweiterte Diagnostik notwendig
- Therapie
- Physiotherapie
- Ggf. operative Intervention
Torticollis mentalis (psychogener Schiefhals)
- Epidemiologie: Ab dem Kleinkindalter in jedem Alter möglich [2]
- Ätiologie: Tic-Störung mit Neigung des Kopfes
- Klinik: Progrediente, initial habituelle, im Verlauf fixierte Fehlhaltung des Kopfes
- Diagnostik: Meist klinische Diagnosestellung, i.d.R. keine erweiterte Diagnostik notwendig
- Therapie
- Therapie der ursächlichen Erkrankung
- Ggf. Physiotherapie
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- M43.-: Sonstige Deformitäten der Wirbelsäule und des Rückens
- M43.6: Tortikollis
- Exklusive: Tortikollis:
- akute Verletzung – siehe Verletzung der Wirbelsäule nach Körperregion
- angeboren (muskulär) (Q68.0)
- durch Geburtstrauma (P15.2)
- psychogen (F45.8)
- spastisch (G24.3)
- G24.-: Dystonie
- G24.3: Torticollis spasticus
- Exklusive: Tortikollis o.n.A. (M43.6)
- P15.-: Sonstige Geburtsverletzungen
- P15.2: Verletzung des M. sternocleidomastoideus durch Geburtsverletzung
- Q68.-: Sonstige angeborene Muskel-Skelett-Deformitäten
- Q68.0: Angeborene Deformitäten des M. sternocleidomastoideus
- Kontraktur des M. sternocleidomastoideus
- Kopfnickerhämatom
- (angeboren) Torticollis congenitus (muscularis)
- Q68.0: Angeborene Deformitäten des M. sternocleidomastoideus
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.