Zusammenfassung
Der Morbus Hirschsprung (Megacolon congenitum) ist eine angeborene Aganglionose des Kolons, die insb. das Rektosigmoid betrifft. Im betroffenen Darmabschnitt kommt es zu einer funktionellen Stenose mit Dilatation der vorgeschalteten Darmabschnitte. Meist fallen die Neugeborenen bereits postnatal durch einen verzögerten Mekoniumabgang und ein geblähtes Abdomen auf. Die Hirschsprung-assoziierte Enterokolitis stellt eine lebensbedrohliche Komplikation dar und präsentiert sich mit Fieber, massiv aufgeblähtem Abdomen und blutigen Diarrhöen. Die Sofortmaßnahmen bestehen aus einer Entlastung mittels Darmrohr sowie einer Infusions- und Antibiotikatherapie. Ca. 10% der Betroffenen werden erst jenseits der Neugeborenenperiode mit einer chronischen Obstipation im Kindesalter symptomatisch.
Diagnostischer Goldstandard ist die Stufenbiopsie des Rektums mit histologischem Nachweis der Aganglionose in der Submukosa. Therapeutisch erfolgt immer die operative Resektion des gesamten aganglionären Segments. Die Prognose ist i.d.R. gut, es kann jedoch zu Spätkomplikationen wie anhaltender Obstipation oder Inkontinenz kommen.
Epidemiologie
- Inzidenz: 1:5.000 Lebendgeburten [1]
- Geschlecht: ♂ > ♀ (3–4:1) [2]
- Auftreten [1]
- Häufig sporadisch (familiäre Häufung bei ca. 20%)
- Isoliert (ca. 70%)
- Mit weiteren angeborenen Fehlbildungen (ca. 18%)
- Mit syndromalen Erkrankungen (ca. 12%)
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Ätiologie: Multifaktoriell (unklar)
- Genetik: Multigenetische Vererbung
- Hauptgenort: RET-Protoonkogen (Chromosom 10q11.2)
- Phänotypische Ausprägung: Sehr variabel
- Assoziation mit syndromalen Erkrankungen
- Trisomie 21 (0,6–3%)
- Multiple endokrine Neoplasie (insb. MEN 2: 2,5–5%)
- Waardenburg-Syndrom
- Undine-Syndrom (20%)
- Smith-Lemli-Opitz-Syndrom u.v.m.
Klassifikation
- Ausmaß der Aganglionose: Beginn ab Anus nach oral [1]
- Kurzstreckig: Auf Rektosigmoid begrenzt (ca. 80–85%)
- Langstreckig (ca. 15–20%)
Pathophysiologie
- Gestörte Migration von Neuralleistenzellen von oral nach aboral in der 6.–12. SSW → Fehlende Einwanderung enteraler Ganglienzellen in den Plexus submucosus (Meissner-Plexus) und Plexus myentericus (Auerbach-Plexus) in distalen Darmabschnitten → Aganglionose in betroffenen Abschnitten → Hypertrophie cholinerger (parasympathischer) Nervenfasern in der Submukosa → Unkoordinierte, verlangsamte Peristaltik und spastische Kontraktion der glatten Muskulatur im betroffenen Darmabschnitt → Funktionelle Stenose und Obstipation → Aufweitung der Darmabschnitte proximal der Stenose → Ggf. toxisches Megakolon
Symptomatik
Neugeborenenperiode [1]
- Verzögerter Mekoniumabgang (>24–48 h nach Geburt)
- Distale Darmobstruktion: Abdominelle Distension , Erbrechen, Symptome eines Ileus
- Begleitende Enterokolitis bzw. toxisches Megakolon
Jenseits der Neugeborenenperiode
- Schwere chronische Obstipation im Kindesalter
- Überlaufenkopresis
- Symptome eines (Sub‑)Ileus bzw. toxischen Megakolons
- Gedeihstörung
- Harnunregelmäßigkeiten [3]
Verlaufs- und Sonderformen
- Zuelzer-Wilson-Syndrom: Aganglionose des gesamten Kolons (ca. 5% aller Fälle)
- Totale intestinale Aganglionose: Gesamter Gastrointestinaltrakt distal des Magens (ca. 1% aller Fälle)
- Ultrakurze Aganglionose [2][3]
- Abschnitt: Auf anorektale Zone unterhalb des Beckenbodens begrenzt
- Symptome: Obstipation im Kindesalter
- Diagnostik: Unauffällige Stufenbiopsie, aber auffällige anorektale Manometrie
- Therapie: Stuhlaufweichende Maßnahmen
- Prognose: Häufig spontane Normalisierung ≥5. Lebensjahr
Diagnostik
Anamnese/Untersuchung
- Stuhl- bzw. Obstipationsanamnese
- Siehe: Red Flags bei Obstipation von Kindern und Jugendlichen
- Bei älteren Kindern siehe auch: Obstipation bei Kindern und Jugendlichen - Diagnostisches Vorgehen
- Hinweise auf weitere Fehlbildungen oder syndromale Erkrankungen
-
Digital-rektale Untersuchung
- Regelrechte Anlage des Anus
- Ampulle leer und eng
- "Explosionsartige" Entleerung von Stuhl und Luft nach rektaler Manipulation
- Familienanamnese
Apparative Diagnostik [1][2]
- Röntgenkontrasteinlauf
- Indikation: Verdacht auf Morbus Hirschsprung, OP-Planung bei histologisch gesicherter Diagnose
- Kontraindikationen: Toxisches Megacolon, V.a. Perforation
- Prinzip: Darstellung der Darmschlingen nach Kontrastmitteleinlauf
- Befunde: Kalibersprünge zwischen gesunden und betroffenen Darmabschnitten
- Proximal (oralwärts) der Stenose: Aufgeweitete, luft- und stuhlgefüllte Darmschlingen
- Ggf. hypoganglionäre Transitionszone: Trichterförmige Übergangszone zwischen normalem und aganglionären Abschnitt
- Aganglionose: Schmaler distaler Darmabschnitt
- Röntgen des Abdomens
- Indikation: Verdacht auf intestinale Obstruktion im Neugeborenenalter (keine Standarddiagnostik bei V.a. Morbus Hirschsprung)
- Befund: Ggf. Darstellung luft- und stuhlgefüllter Darmschlingen proximal der Stenose
- Anorektale Manometrie [2]
- Indikation: Therapierefraktäre Obstipation jenseits der Neugeborenenperiode
- Prinzip: Messung des anorektalen Ruhedruckprofils
- Pathologisch: Fehlender rektoanaler Inhibitionsreflex
- Falsch-positive Befunde ≤62%
- Falsch-negative Befunde ≤24%
Histopathologische Untersuchung [2]
- Verfahren: Rektumsaugbiopsie oder offen-chirurgische Biopsie
- Indikation: Goldstandard bei V.a. Morbus Hirschsprung
- Zeitpunkt: ≥6.–8. Lebenswoche
- Durchführung: Stufenbiopsien inkl. Submukosa 2, 3 und 6 cm oral der Linea dentata
- Typische Befunde
-
Histopathologisch
- Vollständig fehlende Ganglienzellen im Plexus myentericus und Plexus submucosus
- Hyperplasie cholinerger Nervenfasern in der Submukosa
- Enzymhistochemisch: Erhöhung der Acetylcholinesterase
- Immunhistochemisch
- Darstellung hyperplasierter cholinerger Nervenfasern
- Fehlender Nachweis der Ganglienzellen
-
Histopathologisch
Molekulargenetische Diagnostik [2]
- Indikationen
- Langstreckige Aganglionose
- Assoziation mit syndromaler Erkrankung
- Familiäre Häufung
- Durchführung
- RET-Mutationsanalyse
- Ggf. weitere genetische Diagnostik
Differenzialdiagnosen
- Neugeborene [2]
- Intestinale Atresie (bspw. Analatresie)
- Mekoniumileus, z.B. bei zystischer Fibrose
- Kongenitale Hypothyreose
- Malrotation
- Volvulus
- Small left colon syndrom
- Neuronale intestinale Dysplasie (NID): Quantitative und qualitative Störung des Plexus submucosus und/oder Plexus myentericus [3]
- Typ A (5%)
- Definition: Seltene kongenitale Aplasie bzw. Hypoplasie sympathischer Nervenfasern
- Symptome: Obstipation, Diarrhöen, blutige Stühle
- Typ B (95%)
- Definition: Fehlbildung der parasympathischen Nervenfasern mit Hypertrophie der Ganglienzellen und erhöhter Acetylcholinesterase-Aktivität
- Symptome: Chronische Obstipation, abdominelle Distension, ggf. Enterokolitis
- Typ A (5%)
- Jenseits der Neugeborenenperiode, siehe: Obstipation bei Kindern und Jugendlichen - Differenzialdiagnosen
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Sofortmaßnahmen [2]
- „Bowel Management“: Entlastung mittels Darmrohr, ggf. rektale Spülungen
- Bei Enterokolitis: Antibiotika- und Infusionstherapie
- Ggf. bei Ileus/Darmperforation: Anlage eines Anus praeter
Chirurgische Therapie [2]
- Indikation: Bioptisch gesicherter Morbus Hirschsprung
- Ziel: Vollständige Resektion des aganglionären Segments
- Durchführung
- Transanaler Durchzug des betroffenen Darmabschnitts
- Intraoperative Schnellschnittdiagnostik zur Bestimmung der Resektionshöhe
- Resektion des aganglionären Segments und End-zu-End-Anastomose
- Frühkomplikationen [1]
- Wundinfektionen (10–15%)
- Anorektale Stenose (≤20%)
- Anastomoseninsuffizienz (≤2%)
- Ileus
- Spätkomplikationen, siehe: Morbus Hirschsprung - Prognose
Komplikationen
- Hirschsprung-assoziierte Enterokolitis (HAEC) [4]
- Definition: Toxisches Megakolon mit septischem Krankheitsbild
- Ätiologie: Unklar (am ehesten bakterielle Überbesiedelung und sekundäre Infektion bei funktioneller Stenose)
- Symptome: Fieber, massiv geblähtes Abdomen, blutige Diarrhöen, Erbrechen
- Therapie
- „Bowel Management“: Entlastung mittels Darmrohr
- Infusionstherapie
- Antibiotika i.v.
- Ggf. bei Ileus/Darmperforation: Anlage eines Anus praeter
- Komplikation: Durchwanderungsperitonitis mit Perforation
- Spätkomplikationen, siehe: Morbus Hirschsprung - Prognose
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Prognose
- Prognose: I.d.R. gut bei frühzeitiger Therapie [1]
- Spätkomplikationen nach operativer Versorgung
- Stuhlinkontinenz (12%)
- Obstipation (10%)
- Rezidivierende Enterokolitis (≤16%)
- Harninkontinenz (ca. 6%)
- Sexuelle Dysfunktion (10%)
Meditricks
In Kooperation mit Meditricks bieten wir durchdachte Merkhilfen an, mit denen du dir relevante Fakten optimal einprägen kannst. Dabei handelt es sich um animierte Videos und Erkundungsbilder, die auf AMBOSS abgestimmt oder ergänzend sind. Die Inhalte liegen meist in Lang- und Kurzfassung vor, enthalten Basis- sowie Expertenwissen und teilweise auch ein Quiz sowie eine Kurzwiederholung. Eine Übersicht aller Inhalte findest du im Kapitel „Meditricks“. Meditricks gibt es in unterschiedlichen Paketen – für genauere Informationen empfehlen wir einen Besuch im Shop.
Morbus Hirschsprung
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- Q43.-: Sonstige angeborene Fehlbildungen des Darmes
- Q43.1: Hirschsprung-Krankheit
- Aganglionose
- Megacolon congenitum (aganglionär)
- Q43.1: Hirschsprung-Krankheit
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.