Zusammenfassung
Muskelrelaxanzien sind Wirkstoffe, die über die Blockade postsynaptischer nicotinerger Cholinozeptoren zu einer Hemmung der neuromuskulären Übertragung an der motorischen Endplatte und damit zu einer reversiblen Lähmung der Skelettmuskulatur führen. Klinisch werden sie zur Erleichterung der endotrachealen Intubation und maschinellen Beatmung sowie zur Optimierung der Operationsbedingungen eingesetzt.
Nach dem Wirkmechanismus werden depolarisierende Muskelrelaxanzien von nicht-depolarisierenden Muskelrelaxanzien unterschieden. In Bezug auf die Wirkdauer ist eine Einteilung in ultrakurz-, kurz-, mittellang- und langwirksame Muskelrelaxanzien möglich.
Alle Muskelrelaxanzien lähmen die Atem- und Skelettmuskulatur, ohne das Bewusstsein zu beeinträchtigen. Die Kombination mit einem Injektionsanästhetikum oder Inhalationsanästhetikum ist daher obligat, ebenso wie die Sicherung der Atemwege (i.d.R. endotracheale Intubation) mit anschließender kontrollierter Beatmung. Ausprägung und Dauer der Muskelrelaxierung sind von vielen Faktoren abhängig und müssen mittels Relaxometrie überwacht werden.
Das Vorliegen einer neuromuskulären Restblockade zum Zeitpunkt der Narkoseausleitung ist ein häufiges und relevantes Phänomen, das mit schwerwiegenden Folgekomplikationen einhergehen kann. Vor der Extubation sollte daher eine vollständige neuromuskuläre Erholung abgewartet werden. Die Wirkung nicht-depolarisierender Muskelrelaxanzien kann prinzipiell auch medikamentös aufgehoben werden.
Übersicht
Allgemeines
- Voraussetzungen zur Durchführung einer Muskelrelaxierung
- Erfahrung in der Anwendung von Muskelrelaxanzien und des neuromuskulären Monitorings
- Sicherstellung einer adäquaten Narkosetiefe vor der Gabe eines Muskelrelaxans
- Möglichkeit zur Atemwegssicherung und kontrollierten Beatmung
- Kenntnis der typischen Nebenwirkungen und ihrer Behandlung
- Begleitende bzw. weiterführende Informationen: Siehe auch
Die Kombination verschiedener Muskelrelaxanzien kann zu einer schwer kalkulierbaren neuromuskulären Blockade führen und sollte daher möglichst vermieden werden!
Bei Pathologien der neuromuskulären Übertragung sollten Muskelrelaxanzien aufgrund des erhöhten Nebenwirkungsrisikos nur mit Vorsicht eingesetzt werden!
Einteilung
- Nach Wirkmechanismus
- Depolarisierende Muskelrelaxanzien: Succinylcholin
- Nicht-depolarisierende Muskelrelaxanzien
- Benzylisochinoline: Mivacurium, Atracurium, Cisatracurium
- Aminosteroide: Vecuronium, Rocuronium, Pancuronium
- Nach Wirkdauer
- Ultrakurzwirksam: Succinylcholin
- Kurzwirksam: Mivacurium
- Mittellangwirksam: Vecuronium, Rocuronium, Atracurium, Cisatracurium
- Langwirksam: Pancuronium
Indikationen
- Erleichterung der endotrachealen Intubation und maschinellen Beatmung
- Optimierung der Operationsbedingungen
Charakteristika [1][2][3]
Charakteristika der Muskelrelaxanzien | ||||
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Wirkstoff | Anschlagzeit | Klinische Wirkdauer (DUR25) | Gesamtwirkdauer (DUR95) | Besonderheiten |
Succinylcholin (Suxamethonium) |
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Mivacurium |
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Vecuronium |
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Rocuronium |
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Atracurium |
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Cisatracurium |
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Pancuronium |
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Anschlagzeit und Wirkdauer sind dosisabhängig und können daher nur näherungsweise angegeben werden!
Das klinische Ansprechen auf die Gabe eines Muskelrelaxans kann individuell sehr variabel sein und muss daher mittels neuromuskulärem Monitoring kontrolliert werden!
Wirkung
Grundlegende Wirkmechanismen [1][2]
- Wirkort: Motorische Endplatte
- Wirkprinzip: Hemmung der neuromuskulären Übertragung durch Blockade postsynaptischer nicotinerger Cholinozeptoren
- Depolarisierende Muskelrelaxanzien (nAChR-Agonisten)
- Nicht-kompetitiver Agonismus mit Auslösen eines Aktionspotenzials und initialer Kontraktion der gesamten Skelettmuskulatur = Depolarisationsblock
- Wirkung durch Erhöhung der Acetylcholinkonzentration an der motorischen Endplatte nicht antagonisierbar
- Nicht-depolarisierende Muskelrelaxanzien (nAChR-Antagonisten)
- Kompetitiver Antagonismus ohne Auslösen eines Aktionspotenzials = Nichtdepolarisationsblock
- Wirkung durch Erhöhung der Acetylcholinkonzentration an der motorischen Endplatte prinzipiell antagonisierbar
- Depolarisierende Muskelrelaxanzien (nAChR-Agonisten)
- Klinische Wirkung: Muskelrelaxierung (schlaffe Lähmung der Skelettmuskulatur)
- Keine hypnotische oder analgetische Wirkung → Einsatz nur nach Einleitung einer Allgemeinanästhesie
- Lähmung der Atemmuskulatur → Künstliche Beatmung erforderlich
- Reihenfolge des Wirkeintritts: Abhängig insb. von Durchblutung des jeweiligen Muskels [4]
- Maximale Wirkung und Wirkdauer: Abhängig insb. von der Dosis des Muskelrelaxans und der relativen Empfindlichkeit des jeweiligen Muskels [4]
- Relative Empfindlichkeit und neuromuskuläre Sicherheitsreserve
- Empfindlichkeit abhängig insb. von der Faserdicke sowie der Rezeptordichte des jeweiligen Muskels [1][4][5]
- Neuromuskuläre Sicherheitsreserve [1]: Prozentsatz an Rezeptoren, der für eine klinisch relevante Muskelrelaxierung blockiert sein muss
- Wert liegt orientierend für die meisten Muskeln bei ca. 75%
- Niedrigere Werte bei „empfindlicheren“, höhere Werte bei „resistenteren“ Muskeln
- Siehe auch: „Eisbergphänomen“
- Ausprägung und Dauer der Wirkung abhängig von
- Begleitmedikation
- Vorerkrankungen
- Lebensalter
- Gesamthomöostase
- Körpertemperatur
- Beendigung der Wirkung durch
- Umverteilung in das zentrale Kompartiment (Plasma) → Metabolisierung und Elimination
- Gabe eines Antidots (Cholinesterasehemmer bzw. Sugammadex) → Antagonisierung bzw. Reversierung
Muskelrelaxanzien vermitteln eine schlaffe Lähmung der Skelettmuskulatur durch die Blockade postsynaptischer nicotinerger Cholinozeptoren an der motorischen Endplatte!
Ausprägung und Dauer der Wirkung sind von vielen Faktoren abhängig und müssen mittels Relaxometrie überwacht werden!
Formen der neuromuskulären Blockade [1][2][6]
Depolarisierende Muskelrelaxanzien
- Depolarisationsblock (Phase-I-Block)
- Nicht-kompetitiver Agonismus an der α-Untereinheit postsynaptischer nicotinerger Cholinozeptoren
- Keine Antagonisierung durch Erhöhung der Acetylcholinkonzentration an der motorischen Endplatte möglich
- Dualblock (Phase-II-Block): Übergang eines initialen Depolarisationsblocks in einen langanhaltenden Nichtdepolarisationsblock
- Auftreten nur nach absoluter oder relativer Überdosierung
- Genauer molekularer Mechanismus unbekannt
- Antagonisierung durch Erhöhung der Acetylcholinkonzentration an der motorischen Endplatte möglich
Nicht-depolarisierende Muskelrelaxanzien
- Nicht-Depolarisationsblock
- Kompetitiver Antagonismus an der α-Untereinheit postsynaptischer nicotinerger Cholinozeptoren
- Antagonisierung durch Erhöhung der Acetylcholinkonzentration an der motorischen Endplatte möglich
- Siehe auch: Medikamentöse Aufhebung eines Nichtdepolarisationsblocks
Nebenwirkung
Allgemeine Nebenwirkungen [1][7]
- Blockade von Cholinozeptoren im vegetativen Nervensystem
- Mögliche Ursache für bradykarde bzw. tachykarde Rhythmusstörungen
- Genauer Effekt abhängig von substanzspezifischer Rezeptoraffinität und Dosis
- Allergie bzw. Anaphylaxie [8][9]
- Auch ohne vorangegangene Sensibilisierung möglich [10]
- Hohe Rate allergischer Kreuzreaktionen verschiedener Muskelrelaxanzien nach Sensibilisierung
- Wirkverstärkung bzw. -verlängerung bei neuromuskulären Vorerkrankungen [11]
Aufgrund des erhöhten Nebenwirkungsrisikos sollten Muskelrelaxanzien bei neuromuskulären Erkrankungen nur sehr vorsichtig eingesetzt werden!
Nebenwirkungen von Succinylcholin [1][7]
- Folgen der initialen Muskelkontraktion
- Anstieg des intragastralen Drucks (ggf. mit Regurgitation bzw. Aspiration von Mageninhalt)
- Postoperative Myalgien (insb. bei jungen und weiblichen Personen)
- Anstieg des Augeninnendrucks
- Mögliche Folgekomplikationen bei Personen mit perforierender Augenverletzung
- Prolaps von Bulbusinhalt bzw. Verlust von Augenwasser
- Retinaler Gefäßverschluss bzw. retinale Ischämie
- Mögliche Folgekomplikationen bei Personen mit perforierender Augenverletzung
- Intrakranielle Druckerhöhung [12][13][14]
- Masseterspasmus mit erschwerter Atemwegssicherung [15][16]
- Maligne Hyperthermie bei MH-Disposition
- Anstieg des Serumkaliums
- Effekt typischerweise nur gering ausgeprägt (kurzzeitiger Anstieg des Serumkaliums um ca. 0,5–1 mmol/L)
- Erhöhtes Risiko für relevante Hyperkaliämie bzw. hyperkaliämischen Herzstillstand insb. bei
- Pathologien der neuromuskulären Übertragung
- Schwerer abdomineller Infektion (bei Infektionsdauer >1 Woche)
- Chronischer Nierenerkrankung (uneinheitliche Datenlage)
- Herzrhythmusstörungen (insb. Bradykardie bzw. Asystolie)
- Auftreten v.a. bei Kindern und bei Nachinjektion
- Verstärkung durch Hyperkaliämie möglich
- Rhabdomyolyse mit Myoglobinämie bzw. Myoglobinurie
- Auftreten insb. bei MH-Disposition und Duchenne-Muskeldystrophie
- Sekundäre Organschäden möglich (insb. akute Nierenschädigung)
- Wirkverlängerung bei Plasmacholinesterase-Mangel bzw. atypischer Cholinesterase
- Histaminfreisetzung
- Dualblock (Phase-II-Block)
Succinylcholin ist eine Triggersubstanz der malignen Hyperthermie!
Nebenwirkungen nicht-depolarisierender Muskelrelaxanzien [1][2][3]
Nebenwirkungen nicht-depolarisierender Muskelrelaxanzien | |
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Wirkstoff | Nebenwirkungen |
Mivacurium |
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Vecuronium |
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Rocuronium |
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Atracurium |
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Cisatracurium | |
Pancuronium |
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Es werden die wichtigsten Nebenwirkungen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Pharmakokinetik
Allgemeine Pharmakokinetik [6][17][18][19]
Dosierung
- Effektivdosis (ED95)
- Erforderliche Dosis, um die Muskelkraft um 95% zu reduzieren
- Kenngröße für die klinische Wirksamkeit (Dosis-Wirkungs-Beziehung)
- Negative Korrelation mit der Anschlagzeit
- Intubationsdosis
- Im Allgemeinen für die Durchführung einer endotrachealen Intubation empfohlene Dosis
- Entspricht bei den meisten Muskelrelaxanzien der zweifachen ED95
- Repetitionsdosis
- Erforderliche Dosis zur Aufrechterhaltung der neuromuskulären Blockade (ugs. „Nachrelaxierung“)
- Entspricht ca. 10–20% der Intubationsdosis [1]
- Nur für nicht-depolarisierende Muskelrelaxanzien relevant
Eine Erhöhung der Intubationsdosis über die zweifache ED95 kann zu einer Verkürzung der Anschlagzeit sowie zu einer Verbesserung der Intubationsbedingungen führen, geht jedoch i.d.R. mit einer verlängerten Wirkdauer einher!
Wirkbeginn und Wirkdauer [1]
- Anschlagzeit [20]
- Zeit von der Injektion bis zum Erreichen der maximalen Wirkung
- Dosisabhängiger Parameter (negative Korrelation)
- Häufig unscharf als Synonym für den Wirkbeginn benutzt
- Klinische Wirkdauer (DUR25)
- Zeit bis zur Erholung der Muskelkraft auf 25%
- Dosisabhängiger Parameter (positive Korrelation)
- Neuromuskuläre Blockade in dieser Zeit für die meisten chirurgischen Eingriffe ausreichend
- Gesamtwirkdauer (DUR95)
- Zeit bis zur Erholung der Muskelkraft auf 95%
- Dosisabhängiger Parameter (positive Korrelation)
- Neuromuskuläre Blockade klinisch weitestgehend abgeklungen
- Erholungsindex
- Zeit zwischen 25%- und 75%iger Erholung der Muskelkraft
- Weitestgehend dosisunabhängiger Parameter [3]
- Maß für die Abklinggeschwindigkeit der neuromuskulären Blockade
Die genannten pharmakokinetischen Parameter werden in der Literatur typischerweise in Bezug auf die im Allgemeinen empfohlene Intubationsdosis angegeben!
Elimination [3][19][20][21]
Elimination von Muskelrelaxanzien | |
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Wirkstoff | Elimination (orientierende Werte) |
Succinylcholin |
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Mivacurium |
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Vecuronium |
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Rocuronium |
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Atracurium |
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Cisatracurium |
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Pancuronium |
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Spezielle pharmakologische Konzepte bzw. Techniken [1][22]
Spezielle pharmakologische Konzepte bzw. Techniken von Muskelrelaxanzien | |||
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Konzept bzw. Technik | Definition | Ziel | Bewertung |
Präcurarisierung |
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Priming |
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Timing |
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Neuromuskuläres Monitoring (Relaxometrie)
Grundlagen [1][19][23]
- Definition: Verfahren zur Beurteilung einer neuromuskulären Blockade nach der Gabe von Muskelrelaxanzien
- Grundprinzip: Elektrische Stimulation eines peripheren Nerven und Messung der zugehörigen Muskelantwort, bspw.
- N. ulnaris → Adduktion des Daumens durch M. adductor pollicis (klinischer Standard)
- N. tibialis → Plantarflexion der Großzehe im Grundgelenk durch M. flexor hallucis brevis (Alternative bei Eingriffen im Kopfbereich)
- N. facialis → Lidschluss durch M. orbicularis oculi bzw. Stirnrunzeln durch M. corrugator supercilii (Alternative bei Eingriffen an den Extremitäten)
- Auswertung
- Subjektiv durch taktile oder visuelle Begutachtung
- Objektiv durch quantitative Myografie (spezielle Sensoren erforderlich)
- Akzeleromyografie, Kinemyografie
- Elektromyografie, Mechanomyografie
- Mögliche Fehlerquellen
- Direkte Muskelstimulation
- Ermüdung der Reizantwort durch zu häufige Stimulation
- Fehlinterpretation durch „Eisbergphänomen“ oder unterschiedliche Empfindlichkeit verschiedener Muskelgruppen
Die Relaxometrie bewertet immer nur den Grad der neuromuskulären Blockade des untersuchten Muskels und nicht den der gesamten quergestreiften Skelettmuskulatur!
In der täglichen Praxis ist eine Zusammenschau der Relaxometrie mit den klinischen Befunden sowie eine wertfreie interdisziplinäre Kommunikation zwischen Anästhesie und Chirurgie unerlässlich!
Durchführung [1][23][24]
- Aufkleben von 2 Stimulationselektroden im Nervenverlauf
- Typischerweise Verwendung normaler EKG-Elektroden
- Abstand der Elektroden untereinander ca. 2–4 cm
- Nach Möglichkeit saubere, trockene und wenig behaarte Stellen auswählen
- Anschluss des Nervenstimulators (Relaxometers)
- Verbindung der Stimulationskabel mit den Elektroden
- Schwarz markiertes Kabel wird distal befestigt
- Rot markiertes Kabel wird proximal befestigt
- Bei quantitativer Myografie zusätzlich Anschluss des entsprechenden Sensors
- Verbindung der Stimulationskabel mit den Elektroden
- Auswahl des Stimulationsmusters
- Typischerweise Train of Four (TOF)
- Alternativ Einzelreiz (Single Twitch), Double Burst Stimulation (DBS) oder Post Tetanic Count (PTC)
- Einstellen der Stromstärke
- Abhängig vom stimulierten Nerven
- Immer Stimulation mit supramaximaler Stromstärke
Durchführung der Nervenstimulation bei der Relaxometrie | ||
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Stimulierter Nerv | Typische Position der Stimulationselektroden | Empfohlene Stromstärke |
N. ulnaris | Ventralseitig am Unterarm in der Nähe des proximalen Handgelenks | 40–50 mA |
N. tibialis | Innenseitig am Unterschenkel in der Nähe des Innenknöchels | |
N. facialis | Im Schläfenbereich auf Höhe der Augenbraue bzw. des Tragus | 25–30 mA |
Die Durchführung einer Relaxometrie ist schmerzhaft und sollte daher nur in Allgemeinanästhesie erfolgen!
Stimulationsmuster [1][19][23][24]
Einzelreiz (Single Twitch) bzw. Einzelreizserie
- Definition: Einfachste Form des neuromuskulären Monitorings
- Reizdauer: 0,1–0,2 ms
- Reizfrequenz bei Einzelreizserie: 1 Hz
- Anwendung: Erfassung der Anschlagzeit bzw. Abschätzen des optimalen Intubationszeitpunkts
- Auswertung: Zeitpunkt, an dem die Reizantwort erlischt
Train of Four (TOF)
- Definition: „Universalstimulationsmuster“
- Abgabe von 4 Einzelreizen im Abstand von 0,5 s (Reizfrequenz 2 Hz)
- Mindestabstand von 10 s zwischen 2 Messungen
- Anwendung: Klinisches Standardverfahren zur Überwachung einer neuromuskulären Blockade
- Auswertung: Anzahl der Reizantworten T1–T4 sowie ihrer relativen Stärke
- TOF-Zahl: Absolute Anzahl der Reizantworten (0–4) unabhängig von der Stärke
- TOF-Ratio: Stärke der vierten im Vergleich zur ersten Reizantwort (Quotient T4/T1)
- Berechnung erst ab einer TOF-Zahl von 4 möglich und nur bei einem Nichtdepolarisationsblock sinnvoll
- Angabe als dimensionslose Dezimalzahl (0–1) oder in Prozent (0–100%)
- Typische Befunde
- Depolarisationsblock: Stärke der Reizantworten immer gleich groß
- Nichtdepolarisationsblock: Abnehmende Stärke der Reizantworten (sog. „Fading“)
- Nachteile: Aussagekraft begrenzt bei
- Tiefer neuromuskulärer Blockade
- Taktiler bzw. visueller Begutachtung der TOF-Ratio
Train of Four (TOF) – Beurteilung bei Nichtdepolarisationsblock | ||
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Befund | Beurteilung | |
TOF-Zahl 0 |
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TOF-Zahl 1–3 |
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TOF-Zahl 4 | TOF-Ratio ≤0,4 |
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TOF-Ratio 0,6–0,8 |
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TOF-Ratio ≥0,9 |
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Der Train of Four (TOF) ist das klinische Standardverfahren zur Überwachung einer neuromuskulären Blockade!
Vor der Extubation sollte die TOF-Ratio ≥0,9 sein!
Double Burst Stimulation (DBS)
- Definition: Stimulationsmuster zur Beurteilung der neuromuskulären Erholung
- Abgabe von 2 Reizsalven („bursts“) im Abstand von 0,75 s
- Salven bestehen aus 3 Sequenzen mit einer Reizfrequenz von 50 Hz
- Anwendung
- Rein taktile bzw. visuelle Beurteilung der neuromuskulären Erholung
- Detektion eines „Fadings“ als Zeichen einer neuromuskulären Restblockade
- Auswertung: Relative Stärke der beiden Reizantworten
- Typische Befunde
- Neuromuskuläre Restblockade: Abnehmende Stärke der zweiten Reizantwort (Ermüdungsphänomen)
- Neuromuskuläre Erholung: Beide Reizantworten gleich stark
- Nachteil: Keine zuverlässige Detektion einer minimalen neuromuskulären Restblockade
Ein unauffälliger Befund bei der Double Burst Stimulation entspricht in etwa einer myografisch gemessenen TOF-Ratio von 0,7–1,0!
Tetanischer Reiz
- Definition: Stimulationsmuster zur Detektion minimaler neuromuskulärer Restblockaden
- Tetanische Reizung (50–200 Hz) über 5 s
- Mindestabstand von 5 min zwischen 2 Messungen
- Anwendung: Beurteilung der neuromuskulären Erholung
- Auswertung: Stärke der Muskelkontraktion im Verlauf
- Typischer Befund: Gleichbleibend starke Muskelkontraktion bei vollständiger neuromuskulärer Erholung
- Nachteil: Geringe Spezifität
Post Tetanic Count (PTC)
- Definition: Stimulationsmuster zur Beurteilung einer tiefen neuromuskulären Blockade
- Zunächst tetanische Stimulation über 5 s mit einer Reizfrequenz von 50 Hz
- Stimulationspause von 3 s, dann Serie von 10–20 Einzelreizen im Abstand von jeweils 1 s
- Mindestabstand von 3 min zwischen 2 PTC-Messungen
- Anwendung
- Ergänzende Messung bei Nichtdepolarisationsblock und einer TOF-Zahl von 0
- Indiziert bspw. bei Oberbaucheingriffen
- Auswertung: Anzahl der Reizantworten auf die Einzelreizserie
- Typischer Befund: Korrelation der Reizantworten mit der Tiefe der neuromuskulären Blockade
Neuromuskuläre Restblockade
Allgemeine Hinweise [25][26]
- Definition: Unvollständige neuromuskuläre Erholung zum Zeitpunkt der (geplanten) Extubation
- Ätiologie: Relative oder absolute Überdosierung
- Inzidenz: 40–60% aller postoperativen Patient:innen (orientierender Wert)
- Folgekomplikationen (nach vorzeitiger Extubation)
- Kritische Atemwegsereignisse↑
- Postoperative Morbidität und Mortalität↑
- Postoperative Pneumonien↑
Relevante Folgekomplikationen können bereits bei geringgradiger neuromuskulärer Restblockade (TOF-Ratio >0,6) auftreten!
Eine neuromuskuläre Restblockade kann zu einer erhöhten postoperativen Morbidität und Mortalität beitragen!
Symptome/Klinik [1][26]
- Respiratorische Insuffizienz durch beeinträchtigte Funktion des Zwerchfells und der Atemhilfsmuskulatur
- Vollständige Restblockade: Apnoe
- Beginnende neuromuskuläre Erholung
- Atemzugvolumen↓, Atemfrequenz kompensatorisch↑
- Sauerstoffsättigung↓, Zyanose
- Hypoxie, Hyperkapnie
- Schluckstörungen durch beeinträchtigte Funktion der pharyngealen Muskulatur
- Vegetative Reaktion: Tachykardie, Hypertonie, Agitiertheit
Das Vorliegen einer neuromuskulären Restblockade sollte vor der Narkoseausleitung mittels Relaxometrie (bspw. TOF-Messung) ausgeschlossen werden!
Therapie
- Konservativ: Abwarten der spontanen neuromuskulären Erholung
- Im klinischen Alltag meist ausreichend
- Auf adäquate Narkosetiefe achten
- Medikamentös: Aufhebung der Muskelrelaxanswirkung
- Nur bei Nichtdepolarisationsblock möglich
- Individuelle Indikationsstellung , anschließend verlängerte Überwachungszeit obligat
Medikamentöse Aufhebung eines Nichtdepolarisationsblocks
- Cholinesterasehemmer (bspw. Neostigmin)
- Wirkmechanismus: Abbau von Acetylcholin wird gehemmt → Erhöhte Acetylcholinkonzentration an der motorischen Endplatte → Kompetitive Antagonisierung nicht-depolarisierender Muskelrelaxanzien
- Zielsubstanzen: Alle nicht-depolarisierenden Muskelrelaxanzien
- Anwendung: Nur bei geringer neuromuskulärer Restblockade (TOF-Ratio >0,2) [27][28]
- Nebenwirkungen
-
Bradykardie, Bronchospasmus und Hypersalivation
- Ursache: Stimulation muscarinerger Cholinozeptoren parasympathischer Neurone
- Prävention: Gleichzeitige Gabe eines Parasympatholytikums (i.d.R. Atropin)
- Wiederauftreten der neuromuskulären Blockade [7]
-
Bradykardie, Bronchospasmus und Hypersalivation
- Sugammadex
- Wirkmechanismus: Bildung einer wasserlöslichen Einschlussverbindung mit steroidalen Muskelrelaxanzien im Plasma → Konzentrationsabfall des Muskelrelaxans im Plasma → Diffusion des Muskelrelaxans von der motorischen Endplatte ins Plasma → Weitere Bindung des Muskelrelaxans und Aufhebung der Wirkung an der motorischen Endplatte
- Primäre Zielsubstanz: Rocuronium [29]
- Anwendung: Unabhängig vom Ausmaß der neuromuskulären Blockade [27]
- Nebenwirkungen: Selten
- Interaktionen (bspw. mit Flucloxacillin, Fusidinsäure, Toremifen und hormonellen Kontrazeptiva)
- Inkompatibilität mit Verapamil, Ondansetron und Ranitidin [30]
Medikamentöse Aufhebung eines Nichtdepolarisationsblocks | |||||
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Wirkstoffklasse | Wirkstoff | Zielsubstanzen | Anwendung | Dosierung | |
Cholinesterasehemmer |
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Cyclodextrine |
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Ein Depolarisationsblock kann medikamentös nicht aufgehoben werden!
In seltenen Verlauf kann es nach medikamentöser Aufhebung eines Nichtdepolarisationsblocks zu einem Wiederauftreten der neuromuskulären Blockade kommen!
Butyrylcholinesterasemangel
Grundlagen
- Physiologie: Abbau von Succinylcholin und Mivacurium durch Butyrylcholinesterase
- Pathophysiologie: Aktivität der Butyrylcholinesterase herabgesetzt durch
- Vorliegen genetischer Varianten (Qualitativer Enzymmangel)
- Synthesestörung (Quantitativer Enzymmangel)
- Folge eines Enzymmangels: Wirkverlängerung von Succinylcholin und Mivacurium
Isoformen der „Cholinesterase“ [31][32] | ||
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Acetylcholinesterase (AChE) | Butyrylcholinesterase (BChE) | |
Synonyme | ||
Hauptsächliches Vorkommen |
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Substratspektrum |
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Physiologische Funktion |
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Atypische Cholinesterase (Qualitativer Enzymmangel) [34][35]
- Definition: Vorliegen der sog. „atypischen“ Genvariante der Butyrylcholinesterase
- Epidemiologie: 3,4–4% der Menschen europäischer Herkunft [36]
- Symptomatik: Prolongierte neuromuskuläre Blockade nach der Gabe von Succinylcholin oder Mivacurium
- Ausmaß abhängig vom Genotyp
- Keine sonstigen Symptome im Alltag
- Diagnostik: Bestimmung der Dibucainzahl (nur bei konkretem Verdacht indiziert) [1][37]
- Normalbefund: >70%
- Intermediär: 30–70% (≙ Heterozygotie für die „atypische“ Genvariante)
- Pathologisch: <30% (≙ Homozygotie für die „atypische“ Genvariante)
- Therapie: Keine spezifische Therapie vorhanden bzw. erforderlich
- Prävention einer klinischen Manifestation: Verzicht auf Succinylcholin bzw. Mivacurium
- Vorgehen bei unerwarteter klinischer Manifestation: Kontrollierte Nachbeatmung unter adäquater Analgosedierung bis zur Spontanerholung
Ein Routinescreening auf das Vorliegen einer „atypischen“ Genvariante der Butyrylcholinesterase ist nicht sinnvoll!
Personen mit atypischer Cholinesterase sollte ein Anästhesie-Ausweis mit einem entsprechenden Vermerk ausgestellt werden!
Plasmacholinesterase-Mangel (Quantitativer Enzymmangel) [34][35]
- Definition: Verminderte Synthese der intakten Butyrylcholinesterase
- Physiologisch
- Krankheitsassoziiert
- Iatrogen
- Symptomatik: Prolongierte neuromuskuläre Blockade nach der Gabe von Succinylcholin oder Mivacurium
- Ausmaß interindividuell sehr variabel
- Weitere Symptomatik abhängig von der Ursache des Enzymmangels
- Diagnostik: Bestimmung der Butyrylcholinesterase im Plasma bzw. im Serum (nur bei konkretem Verdacht indiziert)
- Therapie: Behandlung der Grunderkrankung
- Prävention einer klinischen Manifestation: Verzicht auf Succinylcholin bzw. Mivacurium
- Vorgehen bei unerwarteter klinischer Manifestation: Kontrollierte Nachbeatmung unter adäquater Analgosedierung bis zur Spontanerholung
Muskelrelaxanzien bei Pathologien der neuromuskulären Übertragung
Hintergrund [11][38]
- Potenziell veränderte Empfindlichkeit gegenüber Muskelrelaxanzien durch
- Störungen der neuromuskulären Übertragung
- Muskelinaktivierung bzw. Muskeldenervierung
- Direkte Muskelläsion (traumatische Schädigung)
Pathophysiologie
- Depolarisierende Muskelrelaxanzien (Succinylcholin)
- Neuromuskuläre Erkrankungen teilweise gekoppelt mit Mutationen des Ryanodinrezeptors (RyR1) → Triggern einer Malignen Hyperthermie
- Ausbildung fetaler Acetylcholinrezeptoren auf den Skelettmuskelzellen → Massive Freisetzung von Kalium [39]
- Nicht-depolarisierende Muskelrelaxanzien: Komplexe Pharmakodynamik (je nach Pathologie) → Klinische Wirkung kaum vorhersagbar
Risiken und klinisches Management
- Mögliche Komplikationen
- Schwere Rhabdomyolyse mit nachfolgender Crush-Niere
- Schwere Hyperkaliämie mit nachfolgender Asystolie
- Verlängerte neuromuskuläre Blockade mit erforderlicher Nachbeatmung
- Prävention: Vermeidung von Muskelrelaxanzien und Alternativen erwägen, bspw.
- Endotracheale Intubation in tiefer Narkose ohne Muskelrelaxans
- Atemwegssicherung mittels supraglottischer Atemwegshilfe
- Fiberoptische Wachintubation
- Bei unklaren Pathologien der neuromuskulären Übertragung
- Nach Möglichkeit auf Succinylcholin verzichten
- Rocuronium bevorzugen und Sugammadex zur Aufhebung der Wirkung nutzen
- Überwachung: Konsequente Nutzung der Relaxometrie
- Stets Ausgangswert bestimmen
- Dosierung nach klinischer Wirkung anpassen
- Vor Extubation TOF-Ratio von 1,0 anstreben
Bei unklaren Pathologien der neuromuskulären Übertragung sollte nach Möglichkeit auf die Verwendung von Succinylcholin verzichtet werden!
Der kombinierte Einsatz von Rocuronium zur Muskelrelaxierung und Sugammadex zur späteren Aufhebung der neuromuskulären Blockade ist bei Pathologien der neuromuskulären Übertragung häufig ein empfehlenswertes und sicheres Behandlungskonzept!
Klinische Übersicht [11][38]
Muskelrelaxanzien bei Pathologien der neuromuskulären Übertragung | |||
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Pathologie | Krankheitsbild | Succinylcholin | Nicht-depolarisierende Muskelrelaxanzien |
Präjunktionale Störungen |
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Junktionale Störungen |
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Postjunktionale Störungen |
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Sonstige Störungen |
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Meditricks
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Depolarisierende Muskelrelaxanzien: Succinylcholin
Nicht-depolarisierende Muskelrelaxanzien
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