Zusammenfassung
Die hier aufgelisteten Syndrome beschreiben meist vererbbare Symptomkomplexe, die selten auftreten und häufig nur symptomatisch therapiert werden können. Beispiele sind das Cri-du-chat-Syndrom (mit charakteristischem Schreiverhalten beim Säugling) oder das X-chromosomal-rezessiv vererbte Martin-Bell-Syndrom, das nach der Trisomie 21 die häufigste Ursache für Intelligenzminderung darstellt.
Martin-Bell-Syndrom (Fragiles-X-Syndrom, Marker-X-Syndrom)
- Definition: Trinukleotid-Repeat-Erkrankung → Veränderung des FMR1-Gens (FMR1 = „fragile X mental retardation 1“)
- Durch Verlängerung der CGG-Tripletts kann das Genprodukt nicht mehr abgelesen werden
- X-chromosomal vererbte Erkrankung
-
Penetranz: Abhängig von der Anzahl der Trinukleotid-Wiederholungen differiert die klinische Ausprägung des Syndroms stark
- <200 Triplett-Wiederholungen
- I.d.R. asymptomatische Prämutation
- Ggf. Fragiles-X-assoziiertes Tremor/Ataxie-Syndrom oder vorzeitige Ovarialinsuffizienz
- Eine Verlängerung des Repeats erfolgt in der Oogenese → Übergang von Prämutation zur manifesten Mutation (>200 Triplett-Wiederholungen) bei maternaler Übertragung möglich
- <200 Triplett-Wiederholungen
- Epidemiologie
- Zweithäufigste genetische Ursache der Intelligenzminderung (nach Trisomie 21) [1]
- Geschlecht: ♂ >> ♀
- Klinik
- Unterschiedlich ausgeprägte Intelligenzminderung
- Verzögerung der Sprachentwicklung, autistisches Verhalten
- Hyperaktivität
- Körpergröße und Kopfumfang liegen im oberen Normbereich
- Phänotypische Besonderheiten, z.B. langes, schmales Gesicht, große Ohren, überstreckbare Gelenke
- Diagnose
- Molekulargenetisch (PCR, Southern Blot)
- Zytogenetischer Nachweis
- Therapie: Symptomatische Förderung
- Prognose: In der Regel normale Lebenserwartung
Fragile X → X-tra large → Große Ohren, Testes, Gesicht
Prader-Willi-Syndrom und Angelman-Syndrom
- Definition und Ätiologie
- Mikrodeletionssyndrome (15q11–13) in Kombination mit Genomic Imprinting
- Je nach betroffener Genkopie kommt es zu verschiedenen Erkrankungen
- Deletion der väterlichen Genkopie → Prader-Willi-Syndrom
- Deletion der mütterlichen Genkopie → Angelman-Syndrom
- Seltener beim Prader-Willi-Syndrom auch maternale uniparentale Disomie, Imprinting-Fehler etc.
- Seltener beim Angelman-Syndrom auch paternale uniparentale Disomie, Imprinting-Fehler etc.
- Diagnostik
- Genetische Tests
- Methylierungsanalyse
- Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH)
- Genetische Tests
Prader-Willi-Syndrom [2][3][4][5]
- Klinik
-
Muskuläre Hypotonie
- Intrauterin reduzierte fetale Aktivität
- Schwere Hypotonie des Neugeborenen
- Motorische Entwicklungsverzögerung
-
Hypothalamische Dysfunktion
- Ab dem 3. Lebensjahr: Unkontrollierbarer Appetit ohne Sättigungsgefühl mit Hyperphagie und daraus resultierender Adipositas
- Wachstumshormonmangel: Kleinwuchs mit kleinen Händen und Füßen
- Hypogonadismus mit konsekutiver Hypoplasie des Genitals
- Pubertätsstörungen, Infertilität
- Schlafstörungen
- Störung der Thermoregulation
- Intelligenzminderung, Sprachentwicklungsverzögerung
- Verhaltensauffälligkeiten, bspw. Impulskontrollstörungen, spontane Stimmungsschwankungen, reduzierte Schmerzempfindlichkeit
- Gesichtsdysmorphie
- Ophthalmologische Auffälligkeiten, bspw. Myopie, Hyperopie oder Strabismus
-
Muskuläre Hypotonie
- Multidisziplinäre Betreuung
- Ernährungsberatung
- Endokrinologie
- Physiotherapie und Bewegungsförderung
- Psychologie/Psychiatrie, ggf. Logopädie
- Orthopädie
- Ophthalmologie
- Prognose
- Kann eine extreme Adipositas vermieden werden, besteht eine nahezu normale Lebenserwartung
Angelman-Syndrom
- Klinik
- Verzögerte motorische und geistige Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter
- Intelligenzminderung
- Fehlende Sprachentwicklung
- Mikrozephalie, Brachyzephalie
- Ataktische Gangstörung
- In mehr als 80% der Fälle ausgeprägte Epilepsien
- Hyperreflexie
- Charakteristische Fröhlichkeit mit häufigem Lachen
- Gesichtsdysmorphie mit Makrostomie, Progenie
- Hypopigmentierung
- Thorax-Skoliose
- Therapie
- Keine spezifische Therapie
- Logopädie und Physiotherapie
- Bei Bedarf anfallssuppressive Therapie
- Prognose
- In der Regel normale Lebenserwartung
Auffallende Fröhlichkeit → Angel = Engel!
Zellweger-Syndrom (zerebrohepatorenales Syndrom)
- Definition: Autosomal-rezessive Störung der Peroxisomenbildung
- Klinik
- Fehlbildung des Gesichts und Kopfes
- Hypotonie der Muskeln
- Hepatomegalie, Zystennieren
- Epileptische Anfälle
- Diagnose
- Labor: Erhöhte Konzentration überlangkettiger Fettsäuren im Blut
- Prognose: Tod bereits im Säuglingsalter, keine Therapie möglich
Di-George-Syndrom
- Definition: Mikrodeletionssyndrom, das auf eine Entwicklungsstörung der Kiemenbögen zurückzuführen ist und mit einer Thymusaplasie einhergeht
- Epidemiologie:
- Ätiologie
- Mikrodeletion auf Chromosom 22 (22q11.2)
- Klinik
- Variabler Phänotyp
- Die typischen Symptome lassen sich unter dem Akronym CATCH-22 zusammenfassen
- Cardiac Anomalies = Herzfehler
- Anomalous Face = Gesichtsdysmorphie
- Thymusaplasie/Hypoplasie
- Cleft Palate = Gaumenspalte
- Hypocalcaemia = Hypokalzämie aufgrund eines Hypoparathyreoidismus
- Weitere Symptome
- Betroffenes Chromosom : 22
- Diagnostik
- Nachweis durch Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH)
- Sequenzierung des TBX1-Gens
- Therapie
- Behandlung der Immundefizienz: Antibiotika, Virostatika und Antimykotika
- Thymustransplantation
- Prognose: Abhängig vom Schweregrad und von der Ausprägung der Symptome zeigt sich für die Prognose eine hohe Variabilität, das Maß der kardialen Beeinträchtigung ist der wichtigste, prognostische Faktor
Pierre-Robin-Sequenz (Pierre-Robin-Syndrom)
- Definition: Fetale Fehlbildung des Mund-Kiefer-Gesichtsbereichs unterschiedlicher Genese
- Klinik
- Mikroretrognathie
- Glossoptose mit Gefahr einer akuten Atemnot und Aspiration
- Gaumenspalte
- Weitere mögliche Assoziationen:
- Evtl. Intelligenzminderung
- Therapie
- Bei schwach ausgeprägter Dyspnoe
- Symptomatische Therapie
- Aufsicht und Unterstützung bei Nahrungsaufnahme
- Nicht-invasive Beatmung
- Symptomatische Therapie
- Bei nicht beherrschbarer Dyspnoe
- Operative Korrektur
- Bei akut lebensbedrohlicher Atemnot → Tracheotomie
- Spezialeingriffe zur langfristigen Korrektur
- Operative Korrektur
- Bei schwach ausgeprägter Dyspnoe
- Prognose: Meist normale Lebenserwartung
Cri-du-chat-Syndrom (Katzenschreisyndrom)
- Definition: Seltene, durch Aberration des Chromosoms 5 verursachte Erkrankung, die als klinisches Hauptmerkmal das katzenähnliche Schreien des Säuglings aufweist
- Epidemiologie: ♀ > ♂ (5:1)
- Ätiologie: Strukturelle Aberration des kurzen Arms von Chromosom 5
- Karyotyp: ♀: 46 XX -5p, ♂: 46 XY -5p [6][7]
- Klinik
- Katzenähnliches Schreien im Säuglingsalter
- Intelligenzminderung
- Vierfingerfurche
- Herzfehler (z.B. VSD)
- Gesichtsanomalien
- Epikanthus
- Breite Nasenwurzel
- Mikrogenie
- Skelettanomalien
- Skoliose
- Engstehende, rechteckige Darmbeine
- Kurze Mittelhand- und Fußknochen
- Kleinwuchs
- Therapie
- Symptomatisch
- Frühe psychische und physische Förderung
- Prognose: Je nach Begleitsymptomen und therapeutischer Förderung kann die Lebenserwartung normal sein
Williams-Beuren-Syndrom
- Epidemiologie: Häufigkeit zw. 1:20.000 und 1:50.000
- Ätiologie: Mikrodeletion auf Chromosom 7
- Klinik
- Charakteristische kognitive Auffälligkeiten (u.a. Intelligenzminderung, meist sehr kontaktfreudig)
- Besondere Gesichtsform
- Mittelgesichtshypoplasie, kurze Lidspalte, breite Stirn, tiefe Nasenwurzel, nach vorne gerichtete Nasenlöcher, langes Philtrum, großer Mund mit vollen Lippen, Hypodontie
- Kardiovaskuläre Fehlbildungen (v.a. supravalvuläre Aortenstenose)
- Idiopathische Hyperkalzämie
- Generell Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen in vielen Organsystemen möglich
- Diagnostik
- Typische Klinik
- FISH: Nachweis der Mikrodeletion 7q11.23
Rubinstein-Taybi-Syndrom
- Prävalenz: 1:100.000–125.000 Neugeborene
- Ätiologie
- Mikrodeletionen der Chromosomenregion 16p13.3 oder 22q13.2
- Mutationen im Gen für das CREB-bindende Protein (CREBBP, 16p13.3) oder für das E1A-bindende Protein (EP300, 22q13)
- Fast immer sporadisch (meist als De-novo-Mutation)
- Wiederholungsrisiko
- Für Geschwister von Betroffenen niedrig
- Für Kinder von Betroffenen ca. 50%
- Pathogenese
- Genaue Pathogenese unklar
- Keine signifikante Genotyp-Phänotyp-Korrelation, außer bei Personen mit EP300-Mutation
- Klinisches Bild
- Faziale Charakteristika, die mit dem Alter zunehmen
- Nach unten außen gerichtete Lidachsen
- Lange Wimpern
- Stark gebogene Augenbrauen
- Gebogene Nase
- Hoher, schmaler Gaumen
- Mikrogenie
- Fingernagelförmige Vertiefungen an der Rückseite der bleibenden Schneidezähne (sog. „talon cusps“)
- Mikrozephalie
- Verbreiterung von Daumen und Großzehen
- Herzfehler (z.B. VSD, ASD, PDA)
- Augenfehlbildungen (z.B. Verschluss des Ductus nasolacrimalis, angeborenes Glaukom, Refraktionsfehler)
- Überstreckbare Gelenke
- Postnatale Wachstumsretardierung
- Im Säuglings- und Kindesalter häufig Atemwegsinfekte
- Keloidneigung
- Obstipationsneigung
- Erhöhtes Adipositasrisiko
- Intelligenzminderung
- Im Erwachsenenalter häufig Stimmungsschwankungen und obsessiv-kompulsives Verhalten
- Faziale Charakteristika, die mit dem Alter zunehmen
- Diagnostik
- Diagnosestellung primär klinisch
- Humangenetische Untersuchung: Zytogenetische/molekulare Veränderung nur in ca. 65% der Fälle nachweisbar
- Differenzialdiagnosen
- Management
- Bei Kindern
- Regelmäßige systematische Entwicklungsbeurteilung ab 3–4 Jahren
- Frühförderung mit Schwerpunkt psychomotorische Entwicklung und Sprachtherapie
- Alle 3 Jahre Untersuchung des Hör- und Sehvermögens
- Bei Erwachsenen: Alle 5 Jahre Untersuchung des Hör- und Sehvermögens
- Bei chirurgischen Eingriffen in Vollnarkose: Erfahrenes anästhesistisches Personal sinnvoll
- Bei Kindern
- Prognose: I.d.R. normale Lebenserwartung
Smith-Lemli-Opitz-Syndrom
- Definition: Autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung mit Cholesterinmangel aufgrund eines Mangels an 7-Dehydrocholesterol-Reduktase
- Ätiologie: Mutation des DHCR7-(7-Dehydrocholesterol-Reduktase‑)Gens auf Chromosom 11
- Klinik: Variable Symptomatik mit sehr unterschiedlichen Störungen
- Kleinwuchs
- Faziale Dysmorphie (Ptosis, Epikanthus, Mikrozephalie, Mikrognathie)
- Intelligenzminderung
- Fehlbildungen innerer Organe (Genitalien, Nieren, Herz)
- Obligate Zehensyndaktylie
- Vierfingerfurche
- Diagnostik
- Labor: 7-Dehydrocholesterin↑, Cholesterin↓
- Therapie
- Cholesterol-Substitution
- Ggf. in Kombination mit Statinen zur Hemmung der endogenen Cholesterinsynthese
Wiskott-Aldrich-Syndrom
- Definition: Hereditäres Syndrom mit eingeschränkter T-Zell-Funktion und Thrombozytopathie
- Erbgang: X-chromosomal-rezessiv
- Inzidenz: 4/100.000 pro Jahr
- Ätiologie: Defizit des WAS-Proteins
- Klinik
- Klassische Trias
- Ekzem
- Thrombozytopenische Purpura
- Opportunistische Infektionen in den ersten Lebensjahren
- Assoziationen
- Malignome
- Autoimmunerkrankungen
- Klassische Trias
- Diagnostik
- Thrombozytopenie mit Mikrothrombozyten (MPV↓) im Ausstrich
- Anämie, Eosinophilie
- IgM↓, IgE↑
- T-Zell-Lymphopenie in der Durchflusszytometrie
- Therapie
- Supportiv: Antibiotika, Transfusionen, Immunglobulin-Substitution
- Kurativ: Stammzelltransplantation
- Prognose: Reduzierte Lebenserwartung meist aufgrund von Blutungskomplikationen, Infektionen oder Malignomen [9][10]
WIPE → Wiskott-Aldrich, Infektionen, Purpura, Ekzem
Pseudohypoparathyreoidismus (syn. Martin-Albright-Syndrom)
- Definition: Erkrankung, bei der Parathormon (PTH) zwar ausreichend ausgeschüttet wird, aufgrund einer Endorganresistenz aber nicht wirken kann
- Erbgang: Meist autosomal-dominant
- Klinik
- Wie bei anderen Formen des Hypoparathyreoidismus: Hypokalzämie, Tetanien, epileptische Anfälle, intrakranielle Verkalkungen und Zahnanomalien
- Typisch für den Pseudohypoparathyreoidismus zudem: Intelligenzminderung, Kleinwuchs, ein rundes Gesicht sowie Verkürzung von Mittelhand- und Mittelfußknochen
- Diagnostik
- Labor: Parathormon ↔︎/↑, Calcitriol↓, Calcium↓, Phosphat↑
- Differenzialdiagnose: Pseudopseudohypoparathyreoidismus
Silver-Russell-Syndrom
- Definition: Seltenes sporadisch auftretendes Syndrom des intrauterinen Kleinwuchses
- Klinik
- Körperlänge reduziert
- Relative Makrozephalie
- Charakteristische Gesichtsform: Unproportioniert dreieckig wirkendes Gesicht mit hoher Stirn, herabhängenden Mundwinkeln und spitzem Kinn
- Klinodaktylie (Schiefstellung der Finger)
- Normale bis leicht verminderte geistige Leistungsfähigkeit