Zusammenfassung
Enzephalopathien bezeichnen nicht-fokale Funktionsstörungen des Gehirns infolge unterschiedlichster extrazerebraler Ursachen, z.B. bei Elektrolytverschiebungen, Volumenmangel oder Sepsis. Die akute Enzephalopathie zeigt sich als mit rascher Dynamik einsetzende diffuse Störung verschiedener zerebraler Funktionen, insb. mit qualitativen und quantitativen Bewusstseinsstörungen. Häufig kommt es begleitend zu motorischen/koordinativen Störungen oder auch epileptischen Anfällen. Die unspezifische Symptomatik lässt dabei i.d.R. keinen direkten Rückschluss auf die individuelle Ursache zu. Pathophysiologisch liegt zunächst eine sekundär ausgelöste Störung des Funktionsstoffwechsels der Neurone zugrunde, die bei zu später Therapie des Auslösers in einen Ausfall des Strukturstoffwechsels übergehen kann. Neben der symptomatischen Therapie (ggf. inkl. intensivmedizinischer Behandlung) besteht die Therapie im Wesentlichen aus der Ursachenbehebung. Entsprechend der Pathophysiologie sind bei zeitnahem Therapiebeginn Vollremissionen möglich. Bei irreversiblem Untergang von Nervengewebe kann es aber auch zu schwersten Residuen kommen.
Definition
- Allgemein: Nicht-fokale Funktionsstörung des Gehirns [1][2][3]
- Im engeren Sinne (Gegenstand dieses Kapitels) [1]
- Sekundäre, nicht-fokale Störung des Gehirns infolge unterschiedlichster extrazerebraler Ursachen
- Für Informationen zu enzephalopathischen Hirnfunktionsstörungen durch primäre ZNS-Erkrankungen siehe z.B.: Enzephalitis oder ADEM
- Verlauf: Akuter Prozess mit Entwicklung innerhalb von max. 4 Wochen
- Für Informationen zu langsam-progredienten enzephalopathischen Prozessen siehe z.B.
- Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie durch systemische Atherosklerose
- Progrediente Wernicke-Enzephalopathie durch anhaltenden Vitamin-B1-Mangel
- Für Informationen zu langsam-progredienten enzephalopathischen Prozessen siehe z.B.
- Ohne einheitliches klinisches Erscheinungsbild
- Sekundäre, nicht-fokale Störung des Gehirns infolge unterschiedlichster extrazerebraler Ursachen
Ätiologie
- Hypovolämische Enzephalopathie
- Metabolisch-toxische Enzephalopathien
- Enzephalopathien durch Elektrolytstörungen, z.B.
- Enzephalopathien durch Störungen des Glucosestoffwechsels, z.B.
- Hypoglykämische Enzephalopathie
- Ketoazidotische Enzephalopathie
- Enzephalopathien durch Vitaminmangelzustände
- Insb. (rasch-progrediente) Wernicke-Enzephalopathie durch Vitamin-B1-Mangel
- Endogen toxisch-metabolische Enzephalopathien, z.B. [3]
- Hepatische Enzephalopathie im Rahmen einer Leberzirrhose
- Urämische Enzephalopathie im Rahmen einer dialysepflichtigen Nierenerkrankung
- Endokrin bedingte Enzephalopathien bei
- Exogen toxische Enzephalopathien durch Drogen, Giftstoffe oder Medikamente
- Zirkulatorisch bedingte Enzephalopathien, z.B. [3]
- Chronisch-traumatische Enzephalopathie in Folge wiederholter (oft subklinischer) Schädel-Hirn-Traumen [4][5]
- Septische Enzephalopathie bei Sepsis/SIRS
Oft liegen mehrere ätiologische Faktoren gleichzeitig vor !
Akute Enzephalopathien werden durch unterschiedlichste und i.d.R. fortgeschrittene extrakranielle Krankheitszustände verursacht! Um schwere Folgen wie Multiorganversagen abzuwenden, ist eine frühzeitige und umfassende diagnostische Abklärung gemäß des Notfall-Leitsymptoms notwendig! Siehe entsprechend: Vigilanzminderung - AMBOSS-SOP und akute qualitative Bewusstseinsstörung - AMBOSS-SOP
Pathophysiologie
- Prädisponierende Faktoren: Insb. ein erhöhtes Alter und ein vorgeschädigtes ZNS
- Auslösende Faktoren [2][3]
- Veränderung der zerebralen Homöostase
- Störung von Neurotransmittern
- Vermutliche Aktivierung von Mikroglia und Störung der Blut-Hirn-Schranke über Zytokinausschüttung mit neurotoxischem Effekt
- Gemeinsame Endstrecke
- Diffuser Ausfall des Funktionsstoffwechsels der Neurone → Vielgestaltige nicht-fokale Symptomatik (im Sinne eines zerebralen Allgemeinsyndroms); Störung aber noch prinzipiell reversibel
- Bei weiter persistierender Störung: Übergang zu Ausfall des Strukturstoffwechsels der Neurone → Entstehung irreversibler Schäden
Ein vorgeschädigtes Gehirn erhöht das Risiko für die Entwicklung einer Enzephalopathie sowie auch für schwerere und länger anhaltende Verläufe. Risikogruppen sind daher geriatrische, multimorbide und postoperative Patient:innen. [3]
Symptomatik
Zerebrales Allgemeinsyndrom
Im Vordergrund stehen sich mit rascher Dynamik entwickelnde diffuse Funktionsstörungen. Hierbei können durchaus auch fokale Symptome auftreten (z.B. ein fokaler epileptischer Anfall). Die Defizite lassen sich aber (im Gegensatz zu einem fokal-neurologischen Defizit) nicht der Störung einer(!) umschriebenen Hirnregion zuordnen, sondern sind nur durch die gleichzeitige Störung mehrerer Hirnregionen zu erklären.
- Bewusstseinsstörungen
- Quantitativ: Somnolenz bis tiefes Koma (als Vigilanzminderungen unklarer Ursache)
- Qualitativ: Hypo- oder hyperaktives Delir (auch als subsyndromales Delir mit der Störung einzelner Qualitäten)
- Mögliche motorische/koordinative Störungen, insb.
- Ataxien
- Hyperkinesien (z.B. Tremor, Asterixis oder Myoklonien )
- Beuge- und Strecksynergismen
- Weitere mögliche Symptome
- Epileptische Anfälle
- Vegetative Symptome
- Meningismus
Die akute Enzephalopathie zeigt sich durch qualitative und quantitative Bewusstseinsstörungen, die vom subsyndromalen Delir über das Vollbild eines Delirs und von leichter Somnolenz bis zum Koma reichen können! [1]
Diagnostik
Die Diagnostik der Enzephalopathien muss die Vielzahl der möglichen zugrunde liegenden Diagnosen berücksichtigen und richtet sich nach dem vorherrschenden klinischen Erscheinungsbild.
Enzephalopathien – Diagnostisches Vorgehen nach klinischem Leitsyndrom | |
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Klinisches Leitsyndrom | Vorgehen gemäß |
Quantitative Bewusstseinsstörung | |
Qualitative Bewusstseinsstörung |
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Differenzialdiagnosen
Siehe hierzu entsprechend dem klinischen Leitsyndrom:
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
- Supportive Therapie
- Sicherung der Vitalfunktionen entsprechend ABCDE-Schema
- Wiederherstellung der Homöostase (z.B. Sicherung eines ausgeglichenen Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts), siehe auch
- Bei Suchtanamnese / Hinweisen auf eine Malnutrition: Thiamin hochdosiert i.v. (niedrigschwellig bei klinischem Verdacht); siehe: Thiaminsubstitution (therapeutisch) [6][7]
- Bei akutem Erregungs-/Agitationszustand siehe auch
- Kausale Therapie: Beseitigung der Ursache entsprechend der diagnostischen Befunde
Aufgrund der schlechten Prognose einer nicht therapierten Wernicke-Enzephalopathie sollte bereits beim Verdacht eine Therapie mit Thiamin i.v. erfolgen.
Im Gegensatz zu der z.T. schnellen Entwicklung der Symptomatik kommt es nach Beseitigung des Auslösers zu einem langsameren Rückgang der Symptome. [2]
Kommt es trotz Einleitung der Therapie zu einer Symptomverschlechterung, sollte der angenommene Auslöser hinterfragt bzw. das Vorhandensein zusätzlicher Auslöser in Betracht gezogen werden!
Komplikationen
- Fremd- und eigengefährdendes Verhalten im Rahmen eines Delirs mit Verletzungsgefahr
- Irreversibler Untergang von Nervengewebe und Ausprägung eines zytotoxischen Hirnödems
- Inflammatorische neurotoxische Reaktionen
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Prognose
Entsprechend der Pathophysiologie ist für die Prognose entscheidend, ob es bereits zum Ausfall des Strukturstoffwechsels gekommen ist. [2]
- Bei Ausfall des Funktionsstoffwechsels: Vollremission möglich
- Bei hinzukommendem Ausfall des Strukturstoffwechsels: Bleibende Schäden bis hin zu schwersten Residuen möglich
Entsprechend der Pathophysiologie der Enzephalopathie ist ein früher Therapiebeginn wesentlich für die Prognose!
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- G92: Toxische Enzephalopathie
- G93.4: Enzephalopathie, nicht näher bezeichnet
- Exkl.: Enzephalopathie
- alkoholbedingt (G31.2)
- toxisch (G92)
- Exkl.: Enzephalopathie
- G93.88: Sonstige näher bezeichnete Krankheiten des Gehirns
- Enzephalopathie nach Strahlenexposition
- G94.3-: Enzephalopathie bei sonstigen anderenorts klassifizierten Krankheiten
- Exkl.:Hepatische Enzephalopathie (K72.7-!)
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.