Grundlagen
Ziele der AMBOSS-SOP „Akute qualitative Bewusstseinsstörung“
Die folgenden Inhalte bilden das zeitökonomische und systematische Notfallmanagement ab, inkl.
- Breiter, aber ausreichend fokussierter Ursachensuche
- Unmittelbar notwendiger Therapiemaßnahmen
- Bei gefundener Ursache: Verweise zur Weiterbehandlung
Die Therapie besteht in der Behandlung des Auslösers!
Eine multifaktorielle Genese ist im Blick zu behalten! Eine Reevaluation ist notwendig, wenn die Symptomatik nach Beheben einer Ursache nicht rückläufig ist!
Definitionen
0 - Notfälle übergeordneter Dringlichkeit
Die folgenden Notfälle stellen höherrangige medizinische Probleme dar. Sollten sie zu irgendeinem Zeitpunkt zusätzlich zur qualitativen Bewusstseinsstörung auftreten, müssen sie unmittelbar behoben bzw. abgeklärt werden. Erst im Anschluss daran ist die weitere Abklärung der akuten qualitativen Bewusstseinsstörung möglich.
Akute qualitative Bewusstseinsstörung – Notfälle übergeordneter Dringlichkeit | |
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Problem | Vorgehen |
Notfall höherer Dringlichkeitsstufe (cABC) | |
Quantitative Bewusstseinsstörung | |
Fremdgefährdung |
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Eigengefährdung |
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Das Geschehen kann dynamisch sein. Die genannten Notfälle können jederzeit auftreten!
1 - Basismaßnahmen und grundlegende Diagnostik
Eine akute qualitative Bewusstseinsstörung kann durch einen schwerwiegenden Notfall bedingt sein! Sie erfordert eine dringende Abklärung, idealerweise durch ein interdisziplinäres Team !
Basismaßnahmen
- Sicherung der Vitalfunktionen nach dem cABCDE-Schema
- Monitoring der Vitalparameter: Herzfrequenz, EKG, Atmung, spO2, Blutdruck, Körpertemperatur
- Intravenöser Zugang: Mind. ein stabiler Zugang (besser wären 2)
- Venöse BGA (inkl. Blutzuckermessung und Lactat)
-
Venöse Blutentnahme: Kleines Blutbild, CRP, Elektrolyte (Na+, K+, Ca2+), Kreatinin, Harnstoff, GFR, ALT, AST, γGT, CK, TSH, INR, Ethanol, Troponin
- Rückstellproben für Toxikologie/Drug Monitoring asservieren
- Bei Fieber: Mind. 2 Blutkultursets aus verschiedenen Punktionsstellen beimpfen
- Gabe von Vollelektrolytlösung
- Urindiagnostik
- Urin-Stix
- Urinkultur
- Rückstellprobe für Toxikologie/Drug Monitoring asservieren
- 12-Kanal-EKG
Anamnese und Vorbefunde
Anamnese (bestenfalls als Kombination aus Eigen- und Fremdanamnese) und Sichtung der Vorbefunde sind essenziell, weil sich hieraus fast immer Hinweise auf Ursachen der qualitativen Bewusstseinsstörung ergeben!
Akute qualitative Bewusstseinsstörung – (Fremd‑)Anamnese | ||
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Ziele | Beispielfragen | |
Symptome und Handlungsdruck erfassen | Symptome
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Dynamik |
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Vorbestehende Defizite |
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Hinweise für mögliche Auslöser erfassen | Ereignisse im Vorfeld | |
Evtl. vorherige Episoden |
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Vorerkrankungen (Auswahl)
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Einnahme von Substanzen |
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Klinische Untersuchung
Beurteilung des qualitativen Bewusstseins
- Orientierungsprüfung: Zeitlich , örtlich , zur eigenen Person , zur Situation
- Prüfung der Gedächtnisfunktion sowie Prüfung von Aufmerksamkeit und Konzentration
- Patient:in bitten, sich 3 Begriffe zu merken und nach 3–5 min erneut nach ihnen fragen
- Auf repetitive Nachfragen der zu untersuchenden Person achten
- Spontane Interaktion der zu untersuchenden Person im Gespräch und mit der Umgebung beobachten
- Beurteilung der Sprache
- Redefluss: Im Spontangespräch bewerten
- Benennstörung: 3 Begriffe benennen lassen
- Sprachverständnis: Aufforderung befolgen lassen
- Nachsprechen: Einen Satz nachsprechen lassen
- Störungen des Antriebs und der Psychomotorik: Besteht eine Agitiertheit, Hypo- oder Hyperaktivität?
- Wahrnehmungsstörungen und Denkstörungen
- Insb. optische, akustische oder taktile Halluzinationen, z.B.
- Patient:in scheint imaginäre Dinge zu sehen, greift nach ihnen oder folgt ihnen mit dem Blick
- Patient:in verbalisiert die Fehlwahrnehmung
- Inhaltliche Denkstörungen: Patient:in verbalisiert Wahnideen (bspw. Verfolgungswahn)
- Formale Denkstörungen: Denkzerfahrenheit, Ideenflucht
- Insb. optische, akustische oder taktile Halluzinationen, z.B.
Neurologische Untersuchung
Die neurologische Untersuchung sollte als orientierende neurologische Notfalluntersuchung erfolgen.
- Fokus
- Hinweise für ein neues fokal-neurologisches Defizit?
- Hinweise für ein meningitisches Syndrom?
- Hinweise für einen stattgehabten epileptischen Anfall?
- Hinweise für ein Kopftrauma
Internistische Untersuchung
- Fokus: Ergeben sich Hinweise auf eine akute internistische Erkrankung, die die Verwirrtheit erklären könnte? Bspw.
- Infektionen?
- Metabolische Entgleisung?
- Exsikkose?
- Akutes Abdomen?
Symptomatische Behandlung
- Für alle Patient:innen mit akuter qualitativer Bewusstseinsstörung hilfreich: Nicht-medikamentöse Therapieoptionen des Delirs
- Falls diese Maßnahmen nicht ausreichen: Medikamentöse Therapieoptionen des Delirs erwägen
- Bei Eigengefährdung und/oder sehr ausgeprägter Agitiertheit siehe: Akute qualitative Bewusstseinsstörung - Notfälle übergeordneter Dringlichkeit
2 - Probleme mit unmittelbarem Handlungsbedarf
Wenn bis hierhin ein Problem entdeckt wurde, bei dem ein unmittelbarer Behandlungsbeginn geboten ist , sollte bei den unter Abschnitt A aufgeführten Problemen eine sofortige Therapie begonnen und diese SOP parallel fortgeführt werden. Bei den unter Abschnitt B gelisteten Problemen sollte gemäß der jeweils aufgeführten SOP bzw. Kapitel verfahren werden.
A) Unmittelbarer Therapiebeginn parallel zur Weiterführung dieser SOP
Akute qualitative Bewusstseinsstörung – Gründe für einen sofortigen Therapiebeginn | ||
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Grund | Therapieempfehlung | |
V.a. Sepsis | ||
Schwerwiegende Abweichungen in der BGA | ||
Blutzucker | ||
Elektrolyte | ||
V.a. Malnutrition, z.B. bei Alkoholabhängigkeit |
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Hypertensiver Notfall |
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B) Weiteres diagnostisches und therapeutisches Vorgehen gemäß spezifischer SOP
Akute qualitative Bewusstseinsstörung – Weiteres Vorgehen gemäß spezifischer SOP | |
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Notfall | Weiteres Vorgehen gemäß |
Meningitisches Syndrom | |
Akutes fokal-neurologisches Defizit | |
Akutes Abdomen | |
Akutes Koronarsyndrom | |
Akute Psychose |
3 - Bildgebung
Bis auf wenige Ausnahmen benötigen alle Patient:innen mit akuter Verwirrtheit eine Notfallbildgebung! Für fast alle Fälle ist eine native cCT sinnvoll.
- Durchführung: Native Computertomografie des Neurocraniums (cCT)
- Klinische Angaben und Fragestellung an die Radiologie: Klinisch akute qualitative Bewusstseinsstörung. Blutungen? Demarkierung einer Ischämie? Ödeme? Frakturzeichen? Ältere epileptogene Läsionen? Raumforderungen oder radiologische Zeichen einer intrakraniellen Drucksteigerung?
- Sonderfälle
- Ausnahmen, die keine Bildgebung erfordern
- Klinisch eindeutige Exsikkose und(!) vollständiges Abklingen der akuten qualitativen Bewusstseinsstörung nach Flüssigkeitsgabe
- Wiederholtes Auftreten der immer gleichartigen akuten qualitativen Bewusstseinsstörung unter den immer gleichen Umständen und(!) Vorliegen dieser Umstände
- Klinisch zweifelsfreie Diagnose einer Transienten Globalen Amnesie
- Erweiterung der Bildgebung um eine Kontrastmittelgabe (KM)
- Demarkierte Ischämie: cCT-Angiografie
- Raumforderung/fokales Ödem: Post-KM-Phase
- V.a. zerebrale Sinus- und Venenthrombose
- cCT nativ ungeeignet!
- Geeignet: cMRT mit MR-Angiografie oder – falls nicht schnell verfügbar – cCT mit CT-Angiografie (in der venösen Phase)
- Ausnahmen, die keine Bildgebung erfordern
4 - Bewertung der bisher erhobenen Befunde
Anhand der Basismaßnahmen, der grundlegenden Diagnostik und/oder der Bildgebung kann der Großteil der infrage kommenden Diagnosen erkannt werden. Eine Auswahl der relevantesten Diagnosen sowie Links oder Hinweise zum weiteren Vorgehen sind hier aufgelistet.
Primäre ZNS-Ursachen
Akute qualitative Bewusstseinsstörung – Primäre ZNS-Ursachen (Auswahl) | |
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Diagnose/Erkrankung | Weiteres Vorgehen |
ZNS-Infektion |
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Postiktaler Zustand | |
Intrakranielle Druckerhöhung | |
Intrakranielle Blutung | |
Frische zerebrale Ischämie |
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Zerebrale Sinus- oder Venenthrombose | |
Schädelhirntrauma | |
Intrakranieller Tumor |
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Systemische Ursachen
Akute qualitative Bewusstseinsstörung – Systemische Ursachen (Auswahl) | ||
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Diagnose/Erkrankung | Weiteres Vorgehen | |
Volumenmangel | ||
Infektion |
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Hypo-/Hyperglykämie | ||
Elektrolytstörungen | Natrium | |
Kalium | ||
Calcium | ||
Leberinsuffizienz | ||
Niereninsuffizienz | ||
Schilddrüsendysfunktion | ||
Intoxikation |
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Entzug |
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UAW |
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5 - Erweiterte Diagnostik
Alle Patient:innen mit akuter qualitativer Bewusstseinsstörung, deren Ursache nach Bearbeitung dieser SOP noch nicht geklärt ist, benötigen eine weitergehende Abklärung!
- Schnellstmögliche Diagnostik
- Liquordiagnostik: Zum Ausschluss einer akuten entzündlichen Ursache
- cMRT: Zum Ausschluss einer strukturellen Ursache im ZNS, die in cCT nicht entdeckt wurde
- EEG: Zum Ausschluss eines non-konvulsiven Status epilepticus
- Je nach Arbeitsdiagnose ggf. im Verlauf
- Laboranalyse erweitern
- Kognitive Tests
- Psychiatrische Expertise hinzuziehen