Zusammenfassung
Die Wernicke-Enzephalopathie ist ein neurologischer Notfall, bei dem es aufgrund eines Vitamin-B1-Mangels (Thiamin-Mangel) zu einer Beeinträchtigung des zerebralen Energiestoffwechsels mit neurologischen Funktionsstörungen kommt. Zu den Symptomen gehören u.a. die Störung der Okulomotorik, Ataxie, Desorientiertheit und Vigilanzminderung. Ursächlich ist zumeist eine Mangelernährung bei Alkoholabhängigkeit. Die Diagnose wird klinisch gestellt. Die MRT-Darstellung von symmetrischen Läsionen in den Corpora mamillaria, im Thalamus und im Mittelhirn stützt die Diagnose. Wird unverzüglich eine intravenöse Therapie mit hochdosiertem Thiamin eingeleitet, können sich die Symptome teilweise oder vollständig zurückbilden. Das Krankheitsbild wird häufig erst verzögert oder gar nicht diagnostiziert. Daraus resultiert eine hohe Letalität und der häufige Übergang in ein Korsakow-Syndrom. Bei letzterem handelt es sich um ein Defektsyndrom bei chronischem Vitamin-B1-Mangel. Das klinische Bild wird von einer ausgeprägten antero- und retrograden Amnesie sowie von Konfabulationen geprägt.
Epidemiologie
Ätiologie
Ursache der Wernicke-Enzephalopathie ist ein Vitamin-B1-Mangel (Thiamin-Mangel), der bereits nach ca. 2–3 Wochen andauernder Mangelsituation zu erwarten ist, je nach vorbestehendem Thiaminspiegel auch schon früher. Bei folgenden Faktoren besteht ein Risiko für einen Thiaminmangel (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
- Mangelernährung oder unausgewogene Ernährung [1]
- Alkoholabhängigkeit (häufig!) und andere Suchterkrankungen
- Essstörungen
- Reduzierte oder fehlende Nahrungsaufnahme
- Im Rahmen demenzieller Erkrankungen
- Im Alter
-
Malabsorption, bspw. bei
- Z.n. bariatrischen Operationen
- Chronischer Diarrhö
- Schwere systemische Erkrankungen oder Malignome („konsumierende Erkrankungen“)
- Medikamentös bedingt
- Parenterale Langzeiternährung
- Wernicke-Korsakow-Syndrom
- Z.n. Wernicke-Enzephalopathie
- Schwerer Magnesiummangel
Pathophysiologie
Thiamin ist in der aktiven Form Thiaminpyrophosphat ein Coenzym des Kohlenhydratstoffwechsels . Infolge einer Mangelernährung kann die Zufuhr von Thiamin unzureichend sein. Dies ist gehäuft bei Alkoholabhängigen der Fall. Auch die Resorption aus dem Duodenum ist bei Alkoholmissbrauch beeinträchtigt. Die Aktivierung durch die Thiamin-Pyrophosphokinase kann ebenso wie die Speicherung von Thiamin durch Ethanol bzw. begleitende Lebererkrankungen beeinträchtigt sein.
Der beeinträchtigte Kohlenhydrat-Abbau führt zu einem gestörten zerebralen Energiestoffwechsel. Aus diesem resultieren eine beeinträchtigte mitochondriale Funktion, erhöhter oxidativer Stress, entzündliche Veränderungen und neuronale Funktionsstörungen. Über eine Mitbeteiligung von Astrozyten kommt es zur Lactatazidose und Downregulation von Glutamattransportern. Diese Vorgänge führen zu einer gesteigerten Exzitotoxizität und zu einer Störung der Blut-Hirn-Schranke. In der Summe kommt es durch die zahlreichen Funktionsstörungen zur Neurodegeneration.
Symptomatik
Die Wernicke-Enzephalopathie tritt akut oder subakut auf und geht mit folgenden möglichen Symptomen einher:
- Desorientiertheit und kognitive Defizite, Beeinträchtigung der Vigilanz (etwa 80%)
- Okulomotorikstörung (etwa 30%)
- Blickrichtungs- oder Spontannystagmus
- Augenmuskelparesen (insb. Abduzensparese )
- Internukleäre Ophthalmoplegie
- Pupillenstörungen
- Ataxie (etwa 20%)
- Rumpf-, Gang- und Standataxie
- Ggf. dysmetrische Zeigeversuche
- Autonome Dysregulation
- Weitere mögliche Symptome (seltener)
- Halluzinationen
- Sehstörungen
- Hörverlust
- Begleitend: Symptome weiterer Alkoholfolgekrankheiten (u.a. Polyneuropathie) möglich
Die häufig beschriebene Symptomtrias aus gestörter Okulomotorik, Bewusstseinsstörung und Ataxie tritt nur bei etwa 15% der Patienten auf – ihre Abwesenheit schließt die Diagnose Wernicke-Enzephalopathie also nicht aus!
Diagnostik
Klinische Diagnosestellung
- Diagnose nach Klinik und Anamnese
- Mind. 2 von 4 Kriterien zutreffend (sowohl bei Patienten mit als auch ohne Alkoholabhängigkeit) [2]
- Mangelernährung
- Störung der Okulomotorik
- Zerebelläre Dysfunktion
- Milde kognitive Defizite oder Bewusstseinsstörung
Zusatzdiagnostik
- Die Verdachtsdiagnose einer Wernicke-Enzephalopathie kann durch Zusatzdiagnostik gestützt werden, unauffällige Zusatzdiagnostik schließt die Diagnose jedoch nicht aus
- Zur Differenzialdiagnose: Bildgebung des Kopfes (vorzugsweise MRT), ggf. auch Liquor- und EEG-Diagnostik sinnvoll
- Wernicke-Enzephalopathie ohne bekannte Ursachen eines Vitamin-B1-Mangels: Interdisziplinäre Ursachenforschung (etwa Tumorsuche, HIV-Test)
Bildgebung des Kopfes
- MRT [2]
- Typischerweise symmetrische Läsionen in Corpora mamillaria, Thalamus, Mittelhirn und periaquäduktalem Grau (T2- und FLAIR-Wichtung: hyperintens)
- KM-Aufnahme in Corpora mamillaria und mediale Thalami (T1-Wichtung mit KM)
- Im Verlauf auch Atrophie der Corpora mamillaria möglich
- CT
- Geringer diagnostischer Stellenwert
- Häufig keine spezifischen Befunde
- Ggf. hypodense Läsionen in o.g. Strukturen
Eine unauffällige Bildgebung schließt eine Wernicke-Enzephalopathie nicht aus!
Labordiagnostik [2]
- Nachweis des Vitamin-B1-Mangels
- Thiamin im EDTA-Blut: Vermindert
- Transketolase-Aktivität in Erythrozyten: vermindert
- Pyruvat/Lactat ggf. erhöht (unspezifisch)
- Leberparameter (Transaminasen, γGT u.a.) als Ausdruck eines begleitenden Leberparenchymschadens häufig erhöht (siehe Leberzirrhose)
- Liquordiagnostik
- Indiziert bei differenzialdiagnostischem Verdacht auf Meningitis/Enzephalitis
- Bei Wernicke-Enzephalopathie keine spezifischen Veränderungen
EEG
- Bei unklaren Bewusstseinsstörungen differenzialdiagnostisch (Nicht-konvulsiver Status epilepticus?) sinnvoll
- Keine spezifischen Veränderungen bei Wernicke-Enzephalopathie, ggf. Verlangsamung mit bilateralen generalisierten Deltawellen
Pathologie
- Petechiale Läsionen/Einblutungen im Mesencephalon und Atrophie der Corpora mamillaria
- Mikroskopische Spongiose, Kapillarproliferation und Siderose (rezidivierende Blutungen)
Differenzialdiagnosen
Bei der Verdachtsdiagnose einer Wernicke-Enzephalopathie sollte zügig eine Substitutionstherapie begonnen werden. Nichtsdestotrotz müssen andere Erkrankungen, die zu Symptomen wie (sub)akuten Okulomotorikstörungen, Desorientiertheit und/oder Vigilanzminderung führen, differenzialdiagnostisch bedacht werden:
- Intrazerebrale Blutung und ischämischer Schlaganfall (insb. Hirnstamm, Diencephalon)
- Virale Enzephalitiden
- Osmotische Myelinolyse
- Miller-Fisher-Syndrom
- Bickerstaff-Enzephalitis
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Die Datenlage zur Thiamingabe ist unzureichend und die Empfehlungen weichen in verschiedenen Quellen sehr stark voneinander ab. [1][2][3]
- Bereits bei V.a. Wernicke-Enzephalopathie : Hochdosierte Thiaminsubstitution [1][4]
- Evtl. bestehenden Magnesiummangel ausgleichen!
- Bei Ansprechen auf die Therapie [1]
- Dosisreduktion nach 3–5 Tagen und Fortführung, bis keine weitere Symptombesserung zu verzeichnen ist
- Anschließend Fortführung der Thiaminsubstitution in prophylaktischer Dosis (siehe: Prävention der Wernicke-Enzephalopathie)
- Bei fehlendem Ansprechen auf die Therapie nach 3–5 Tagen
- Hochdosierte Thiaminsubstitution beenden
- Ggf. dauerhafte Thiamingabe in prophylaktischer Dosis (siehe: Prävention der Wernicke-Enzephalopathie)
- Nebenwirkungen [5]
- Anaphylaktische Reaktionen bei parenteraler Gabe (sehr selten)
- Störung der neuronalen Erregungsübertragung erst ab sehr hohen i.v. Dosen (>10 g)
Aufgrund der schlechten Prognose einer nicht-therapierten Wernicke-Enzephalopathie sollte bereits beim geringsten Verdacht niederschwellig eine Therapie mit Thiamin i.v. erfolgen.
Prognose
- Nach Thiaminsubstitution [1][6]
- Störungen der Okulomotorik: Besserung meist innerhalb mehrerer Stunden
- Ataxie: Besserung meist innerhalb von Tagen bis Wochen
- Kognitive Defizite: Besserung meist innerhalb von Wochen bis Monaten
- Residuelle Defizite: Häufig
- Unbehandelt
- Letalität bis zu 20%
- Bei Überlebenden sehr häufig Entwicklung eines Korsakow-Syndroms (s.u.)
Korsakow-Syndrom
- Definition: Defektsyndrom bei chronischem Vitamin-B1-Mangel, meist nach Wernicke-Enzephalopathie (dann als Wernicke-Korsakow-Syndrom bezeichnet)
- Symptome
- Ausgeprägte Orientierungsstörungen
-
Amnestisches Syndrom
- Häufig schwere antero- und retrograde Amnesie (z.B. Merkfähigkeitsstörung)
- Neigung zu Konfabulationen
- Zeitgitterstörung
- Störung der Frontalhirnfunktion mit Antriebsminderung und Affektverflachung
- Diagnose
- Klinisch
- Neuropsychologische Testung
- MRT: Atrophie der Corpora mamillaria
- Therapie: Keine spezifische Therapie für manifestes Korsakow-Syndrom
- Behandlung einer vorausgehenden Wernicke-Enzephalopathie mit Thiamin i.v.
- Orale Vitaminsubstitution
- Spezialisierte Rehabilitation kann sinnvoll sein
- Prognose
- Bei suffizienter Therapie der Wernicke-Enzephalopathie: (un‑)vollständige Besserung bei der Hälfte der Betroffenen
- Bei fehlender/unzureichender Behandlung: dauerhafte Defizite
- Häufig Unterbringung in Wohneinrichtungen nötig
Prävention
Die Datenlage zur Thiamingabe ist unzureichend und die Empfehlungen weichen in verschiedenen Quellen sehr stark voneinander ab. [1][4][7]
- Ausgewogene Ernährung
- Substitution über gezielte Anreicherung in Lebensmitteln
- Medikamentöse Prophylaxe: Bei allen Patienten mit Risiko für einen Thiaminmangel (ohne (V.a.) Wernicke-Enzephalopathie), solange die Risikokonstellation besteht [6]
- Substitution vor Glucosegabe: Bei allen Patienten mit Risiko für einen Thiaminmangel vor Infusion konzentrierter Glucoselösungen
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- E51.-: Thiaminmangel [Vitamin-B1-Mangel]
- Exkl.: Folgen des Thiaminmangels (E64.8)
- E51.1: Beriberi
- Trockene Form
- Feuchte Form† (I98.8*)
- E51.2: Wernicke-Enzephalopathie
- E51.8: Sonstige Manifestationen des Thiaminmangels
- E51.9: Thiaminmangel, nicht näher bezeichnet
- F10.6: Psychische Störungen und Verhaltensstörungen durch Alkohol: Amnestisches Syndrom
- Alkohol- oder substanzbedingte amnestische Störung
- Durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingte Korsakow-Psychose
- Nicht näher bezeichnetes Korsakow-Syndrom
- Soll ein assoziiertes Wernicke-Syndrom angegeben werden, sind zusätzliche Schlüsselnummern (E51.2†, G32.8*) zu benutzen.
- Exklusive: Nichtalkoholbedingte(s) Korsakow-Psychose oder Korsakow-Syndrom (F04)
- F04: Organisches amnestisches Syndrom, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt
- Inklusive: Korsakow-Psychose oder -Syndrom, nicht alkoholbedingt
- Exklusive:
- Amnesie: anterograd (R41.1), dissoziativ (F44.0), retrograd (R41.2), o.n.A. (R41.3)
- Korsakow-Syndrom: alkoholbedingt oder nicht näher bezeichnet (F10.6), durch andere psychotrope Substanzen bedingt (F11–F19, vierte Stelle .6)
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.