Zusammenfassung
Beim Nephroblastom (Wilms-Tumor) handelt es sich um die häufigste maligne Neoplasie der Niere im Kindesalter. Ätiologisch spielt der Verlust verschiedener Tumorsuppressoronkogene eine Rolle, insb. durch Mutationen im Wilms-Tumor-Suppressor-Gen 1 (WT1). Zudem bestehen zahlreiche Assoziationen zu Krebsprädispositionssyndromen wie dem WAGR-Syndrom oder dem Beckwith-Wiedemann-Syndrom. Klinisch kommt es i.d.R. zu einer schmerzlosen Tumorschwellung, die häufig als Zufallsbefund entdeckt wird. Weitere mögliche Symptome sind Bauchschmerzen oder Hämaturie. Diagnostisch erfolgt eine umfassende Bildgebung. Eine primäre Tumorbiopsie ist aufgrund des Risikos einer Tumorstreuung nach der Probenentnahme nur in Ausnahmefällen indiziert. Therapeutisch kommen je nach Tumorstadium die radikale Nephrektomie und/oder radiochemotherapeutische Verfahren zum Einsatz. Eine Kombination dieser Verfahren verspricht eine sehr gute Prognose, was sich in einer Heilungsrate von über 90% widerspiegelt.
Epidemiologie
- Inzidenz: 1/100.000 Kinder und Jugendliche pro Jahr [1][2]
- Ca. 5% aller Neoplasien im Kindes- und Jugendalter
- Häufigster Nierentumor im Kindesalter
- Altersgipfel: 1–3 Jahre [2][3]
- Geschlecht: ♀ > ♂ [1]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Embryonaler Tumor: Meist sporadisch (genaue Ätiologie unklar) [2]
- Genetische Einflussfaktoren: Funktionsverlust verschiedener Tumorsuppressorgene
- Wilms-Tumor-Suppressor-Gen 1 (WT1)
- Mutationen in den Genen CTNNB1, TP53 und WTX
- Verlust der Heterozygotie an den Chromosomen 1p, 11p15 und 16q
- Assoziiertes Auftreten mit
-
Krebsprädispositionssyndromen (10–15%), u.a. [1][2]
- WAGR-Syndrom = Wilms-Tumor, Aniridie, (uro‑)genitale Fehlbildung (Gonadoblastom), geistige Retardierung
- Beckwith-Wiedemann-Syndrom
- Denys-Drash-Syndrom
- Fehlbildungen [1]
- Hemihypertrophie
- Aniridie
- Urogenital (bspw. Hufeisenniere), Nephroblastomatose
-
Krebsprädispositionssyndromen (10–15%), u.a. [1][2]
Klassifikation
- Einteilung kindlicher Nierentumoren: Anhand histologischer Differenzierung in 3 Risikogruppen
Klassifikation und Risikostratifizierung von kindlichen Nierentumoren nach präoperativer Chemotherapie [1][4]
- Low-Risk-Gruppe (niedrige Malignität)
- Mesoblastisches Nephrom
- Zystisches, partiell differenziertes Nephroblastom
- Komplett nekrotisches Nephroblastom
- Intermediate-Risk-Gruppe (Standardrisikotyp)
- Nephroblastom – epithelialer Typ
- Nephroblastom – stromareicher Typ
- Nephroblastom – Mischtyp
- Nephroblastom – regressiver Typ
- Nephroblastom mit fokaler Anaplasie
- High-Risk-Gruppe (hohe Malignität)
Klassifikation und Risikostratifizierung primär resezierter kindlicher Nierentumoren [1][4]
- Low-Risk-Gruppe (niedrige Malignität)
- Mesoblastisches Nephrom
- Zystisches, partiell differenziertes Nephroblastom
- Intermediate-Risk-Gruppe (Standardrisikotyp)
- Nicht-anaplastisches Nephrom und seine Varianten
- Nephroblastom mit fokaler Anaplasie
- High-Risk-Gruppe (hohe Malignität)
Symptomatik
- Leitsymptom: Schmerzlose Tumorschwellung, ggf. mit Zunahme des Bauchumfangs (Völlegefühl) [1][3]
- Weitere mögliche Symptome
- Bauchschmerzen
- Schmerzlose Hämaturie
- Arterieller Hypertonus
- Allgemeinsymptome: Gewichtsverlust, Abgeschlagenheit, ggf. Fieber
- Asymptomatischer Verlauf (ca. 10%)
Die Diagnosestellung erfolgt bei asymptomatischem Verlauf oder schmerzloser Tumorschwellung oft als Zufallsbefund, bspw. bei der Vorsorgeuntersuchung!
Stadien
Stadieneinteilung des Nephroblastoms nach der Société Internationale d'Oncologie Pédiatrique (SIOP) [1][4] | ||
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Stadium | Tumorausbreitung | Chirurgische Resektion |
I |
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II |
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III |
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IV |
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V |
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Diagnostik
Initialdiagnostik [1]
- Körperliche Untersuchung: Abdominelle Raumforderung tastbar?
- Laboruntersuchung: Keine spezifischen Marker bekannt
- Bildgebung: Immer indiziert
- Abdomensonografie
-
Sonografie und Doppler-Sonografie der V. renalis und V. cava inferior bis zum rechten Atrium
- Bei Nachweis eines Tumorthrombus: Echokardiografie
-
MRT-Abdomen mit Kontrastmittel, bei Kontraindikation: CT-Abdomen mit Kontrastmittel
- Bestimmung von Tumorvolumen und Ausdehnung, insb. Durchbrechung der Nierenkapsel, Nierenhilus-, Zwerchfell- und Pleurabeteiligung, Organinfiltrationen
- Nachweis bzw. Ausschluss abdomineller Organmetastasen bzw. eines Gefäßthrombus in V. renalis oder V. cava inferior
- CT-Thorax nativ: Nachweis bzw. Ausschluss von Lungenmetastasen
- Röntgen-Thorax a.p. oder p.a.
- Spezielle Diagnostik: Individuelle Indikation
- cMRT
- Echokardiografie und Audiogramm
- MAG3-Szintigrafie
- Ggf. FDG-PET-CT oder FDG-MRT
- Tumorbiopsie mit Histopathologie und Molekulargenetik: Nur in Ausnahmefällen aufgrund des Risikos einer peritonealen Tumorzellaussaat!
- Bei eindeutiger bildgebender Diagnose im Alter >6 Monate und <16 Jahren nie indiziert
- In Ausnahmefällen bei unklarem bildgebenden Befund vor neoadjuvanter Chemotherapie: CT- oder Sonografie-kontrollierte Feinnadelbiopsie oder perkutane Stanzbiopsie
Da die neoadjuvante Chemotherapie ohne histologischen Befund durchgeführt wird, sollte eine referenzradiologische Beurteilung der Bildgebung erfolgen, um die Diagnosegenauigkeit zu verbessern!
Präoperatives Follow-up [1]
- Abdomensonografie inkl. Doppler-Sonografie der V. renalis und V. cava inferior
- MRT-Abdomen mit Kontrastmittel
- Röntgen-Thorax a.p. oder p.a.
- Ggf. CT-Thorax
Zusätzliche Bildgebung nach histologischer Sicherung [1]
- Rhabdoidtumor: Ganzkörper-MRT mit Kontrastmittelgabe , cMRT des Schädels
- Klarzellensarkom: Ganzkörper-MRT oder Skelettszintigrafie, cMRT
Differenzialdiagnosen
- Neuroblastom
- Wichtige Differenzierungsmerkmale
- 123I-MIBG-Szintigrafie: Positiv
- Katecholaminmetabolite im Urin: Positiv
- Wichtige Differenzierungsmerkmale
- Renales Lymphom
- Wichtige Differenzierungsmerkmale
- Flankenschmerzen
- Manifestationsalter: Eher im höheren Lebensalter
- Wichtige Differenzierungsmerkmale
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Übersicht der Standardtherapie [1][2]
- Präoperativ: Chemotherapie
- Ziel: Reduktion des Tumorvolumens
- Effektivste Substanzen: Actinomycin-D, Vincristin
- Dauer: 4–6 Wochen (bei Kindern zwischen 6 Monaten und 16 Jahren)
- Operativ
- Stadium I–IV: Radikale Nephrektomie (En-Bloc ohne Tumorruptur)
- Stadium V (beide Nieren betroffen): Nierenerhaltende OP und individuelles Vorgehen
- Postoperativ: Unterschiedliche Radio- und Chemotherapieregime
Eine Kombination aus radikaler Nephrektomie sowie unterschiedlichen Radio- und Chemotherapieverfahren verspricht die höchste Heilungsrate bei Wilms-Tumoren!
Prognose
- Sehr gute Prognose nach Behandlung: Ca. 90% der Patient:innen können geheilt werden [1]
- Unbehandelt immer letal
Prävention
- Regelmäßige Abdomensonografie bei Vorliegen von Erkrankungen mit erhöhtem Nephroblastomrisiko, bspw. Beckwith-Wiedemann-Syndrom, WAGR-Syndrom, Neurofibromatose Typ 1, Nephroblastomatose, Fehlbildungen [1]
- Tumornachsorge (Tertiärprävention) [1]
- Engmaschige bildgebende Untersuchungen
- Röntgen-Thorax
- Abdominelle Sonografie oder MRT
- Nephrologische Nachsorge im Langzeit-Follow-up
- Urinanalyse und Serumkreatinin
- Frühzeitige Erkennung von Hypertonie, Abnahme der GFR und geringgradiger Proteinurie
- Engmaschige bildgebende Untersuchungen
Die meisten Rezidive und Metastasen treten innerhalb der ersten beiden Jahre nach Therapieende auf!
Assoziiert auftretende Syndrome
Nephroblastome treten in etwa 10–15% der Fälle zusammen mit einem Krebsprädispositionssyndrom auf. Hierzu gehören u.a. [2]
- Beckwith-Wiedemann-Syndrom
- Sotos-Syndrom
- WAGR-Syndrom = Wilms-Tumor, Aniridie, (uro‑)genitale Fehlbildung, geistige Retardierung [3][5]
- Prävalenz: <1/500.000–1/1.000.000 Geburten
- Ätiologie
- Deletionen mehrerer Gene auf Chromosom 11
- I.d.R. De-novo-Mutation, sehr selten autosomal-dominant vererbt
- Klinik: Symptomkomplex
- Wilms-Tumor (ca. 45–60%)
- Aniridie, ggf. Glaukom, Katarakt, Mikrophthalmie, Auffälligkeiten an Cornea oder Retina
- Urogenitale Fehlbildung und/oder Varianten : Bspw. Gonadendysgenesie, intersexuelles Genitale, Hodenektopie
- Variable Intelligenzminderung
- Diagnostisches Vorgehen
- Lebenslang engmaschige Kontrolle der Nierenfunktion
- Regelmäßige Untersuchungen (insb. Abdomensonografie alle 3 Monate) zur Früherkennung eines Nephroblastoms
- Chromosomenanalyse und humangenetische Beratung empfohlen
- Therapie
- Bei Aniridie: Symptomatisch (Sehhilfen)
- Bei Tumorentwicklung oder Fehlbildungen: Individuelle (operative) Therapie
- Denys-Drash-Syndrom (DDS) [3][6]
- Prävalenz: Unbekannt, <300 beschriebene Fälle weltweit
- Ätiologie: Meist De-novo-Mutation im Wilms-Tumor-Suppressor-Gen 1 (WT1)
- Klinik: Symptomkomplex
- Nephroblastom (uni- oder bilateral)
- Urogenitale Fehlbildung und/oder Varianten, insb. Gonadendysgenesie und 46,XY-DSD mit Störungen der Gonadenentwicklung
- Nephrotisches Syndrom und progrediente diffuse Mesangiosklerose
- Diagnostisches Vorgehen
- Lebenslang engmaschige Kontrolle der Nierenfunktion
- Regelmäßige Untersuchungen (insb. Abdomensonografie alle 3 Monate) zur Früherkennung eines Nephroblastoms
- Karyotypisierung und humangenetische Beratung empfohlen
- Therapie: Frühzeitige bilaterale Nephrektomie mit anschließender Nierentransplantation
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- C64: Bösartige Neubildung der Niere, ausgenommen Nierenbecken
- Nephroblastom (Wilms-Tumor)
- Exklusive: Nierenbecken (C65), Nierenbeckenkelche (C65)
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.