Zusammenfassung
Patienten mit einer hochgradigen Adipositas stellen eine medizinische und logistische Herausforderung im perioperativen Management dar. Neben dem Screening und der Abschätzung des perioperativen Risikos (bspw. mittels Edmonton Obesity Staging System) sind Besonderheiten bei der Durchführung anästhesiologischer Techniken und eine gewichtsadaptierte Pharmakotherapie entscheidend. Für allgemeine Informationen zur Prämedikationsvisite siehe auch: Präoperative Evaluation und Aufklärung in der Anästhesiologie.
Screening und Risikoeinschätzung
Beurteilung des perioperativen Risikos [1]
- Allgemeine Risikoevaluation durchführen
- Einschätzen des perioperativen Risikos
- Präoperative Diagnostik und Laboruntersuchungen
- Kapilläre BGA : Zur Beurteilung der pulmonalen Funktion
- Ermittlung des exakten Gewichts
- Risikoerhöhung bei Adipositas: Abhängig vom Risikoprofil bestehender Komorbiditäten
Edmonton Obesity Staging System (EOSS) [2]
- Definition: Klassifikation der Adipositas anhand der Komorbiditäten und funktionellen Einschränkung
- Ziel
- Einschätzung des Gesamtzustands bei Adipositas
- Anhaltspunkt für klinische Entscheidungen (unabhängig vom BMI)
- Kein Ersatz für die Einschätzung des perioperativen Risikos
Edmonton Obesity Staging System | |
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Stufe | Pathologie |
0 |
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1 |
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2 |
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3 |
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4 |
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Das Risiko für perioperative Komplikationen bei Adipositas hängt im Wesentlichen von den vorliegenden Begleiterkrankungen ab! [3]
Das EOSS hat bezüglich der Gesamtmortalität eine höhere Aussagekraft als BMI oder Hüftumfang allein! [4]
Logistische Voraussetzungen für eine operative Therapie [1]
Ab einem gewissen Körpergewicht reichen die üblichen logistischen Voraussetzungen zur adäquaten Versorgung nicht aus. Klinikintern sollte das zulässige Höchstgewicht für die vorhandenen Strukturen bekannt sein und Patienten mit höherem Körpergewicht für elektive Eingriffe in ein entsprechendes Zentrum verlegt werden.
Physische Veränderungen und Dosierung anästhesiologischer Medikamente
Anästhesierelevante Veränderungen bei Adipositas [3][5][6]
- Respiratorisches System
- Compliance↓
- Atemarbeit↑
- Funktionelle Residualkapazität↓
- Totale Lungenkapazität (TLC)↓
- Atelektasen↑
- Apnoe-Toleranz↓
- Kollapsneigung der oberen Luftwege
- Intubationsbedingungen
- Erschwerte Intubationsbedingungen häufiger
- Verbesserung der Bedingungen durch sog. „Ramped Position“
- Aspirationsrisiko
- Abhängig vom Ausmaß eines GERD
- Keine verzögerte Magenentleerung
- Intraabdomineller Druck↑
- Siehe auch: Perioperatives Aspirationsrisiko
Weitere anästhesierelevante Veränderungen können sich aus den häufig vorhandenen Komorbiditäten, bspw. OSAS, arterieller Hypertonus, KHK und Diabetes mellitus ergeben!
Anästhesie bei Adipositas: Dosisanpassung [3][7][8]
Je nach Grad der Adipositas ergeben sich teilweise beträchtliche Unterschiede bei der Berechnung von Medikamentendosierungen nach idealem oder tatsächlichem Körpergewicht. Aufgrund ihrer pharmakologischen Eigenschaften müssen nicht alle Medikamente zwangsläufig höher dosiert werden. Neben der grundsätzlichen Dosierung nach Wirkung kann die folgende Übersicht eine Orientierung bieten.
Dosisanpassung von anästhesierelevanten Medikamenten | ||
---|---|---|
Medikament | Dosierung nach | |
Idealgewicht | Tatsächlichem Gewicht | |
Thiopental | ✓ | |
Etomidat | ✓ | |
Propofol | (✓) [3][9][10][11] | |
Midazolam | ✓ | |
Fentanyl | ✓ | |
Sufentanil | ✓ | |
Remifentanil | ✓ | |
Piritramid | (✓) | |
Succinylcholin | ✓ | |
Mivacurium | ✓ | |
Rocuronium | ✓ | |
Cisatracurium | ✓ | |
Sugammadex | ✓ | |
Neostigmin | (✓) |
Präoperatives Management
Präoperative Optimierung [1][3][5]
- Therapie der Begleiterkrankungen
- Vormedikation beachten
- Ggf. Neuverordnung von Medikamenten
- Medikamentöse Prämedikation: Abhängig von Komorbidität
- Medikamentöse Aspirationsprophylaxe bei hohem perioperativem Aspirationsrisiko
Auswahl des Narkoseverfahrens
- Regionalanästhesie
- Vorteile
- Vermeidung einer Intubation
- Reduktion des Aspirationsrisikos und des Risikos kardiopulmonaler Komplikationen
- Besonderheiten und Nachteile
- Erschwerte Punktionsbedingungen
- Bei insuffizienter Regionalanästhesie: Ungeplante Allgemeinanästhesie mit erhöhtem Risiko notwendig
- Besondere Materialvorbereitung notwendig: Lange Punktionskanülen, Ultraschallgerät
- Bei extremer Adipositas Reduktion des Injektionsvolumens notwendig: Adipositasbedingte Einengung des Periduralraums [5]
- Vorteile
- Allgemeinanästhesie
- Vorteile
- Elektive Vorbereitung einer Narkose möglich
- Vorbereitung auf schwierige Maskenbeatmung und erschwerte Intubationsbedingungen
- Optimale Lagerung und Präoxygenierung
- Nachteile
- Erhöhtes perioperatives Aspirationsrisiko
- Risiko erschwerter Intubationsbedingungen
- Aufklärung über
- Nachteile und Komplikationen einer Allgemeinanästhesie (siehe auch: Anästhesiologische Aufklärung: Spezifische Risiken)
- Mögliche fiberoptische Wachintubation bei bekannten Intubationsproblemen
- Mögliche Verwendung einer invasiven Blutdruckmessung
- Vorteile
Intraoperatives Management
Narkoseeinleitung
- Periphere Gefäßzugänge ggf. sonografisch legen
- Bereithalten von Equipment für erschwerte Intubationsbedingungen
- Bei bekannter schwieriger Intubation: Fiberoptische Wachintubation durchführen
- Ausgiebige Präoxygenierung (3–5 Minuten), ggf. mit CPAP (10 cm H2O)
- Oberkörperhochlagerung (25–30°)
- RSI oder modifizierte RSI erwägen
- Supraglottische Atemwegshilfen erwägen (z.B. Larynxmaske) [3]
- Magensonde großzügig legen
- Strenge Indikationsstellung für ZVK-Anlage
Narkoseführung
- Kurzwirksame Medikamente bevorzugen .
- Relaxometrie obligat
-
Beatmung [12][13]
- Adäquater PEEP [14]
- Intraoperative Recruitmentmanöver erwägen
- Spitzendruck begrenzen: Pmax ≤30 mbar (cm H2O)
- Tidalvolumen nach idealem KG: 6–8 mL/kgStandardKG
Narkoseausleitung
- Muskelrelaxanzien-Überhang ausschließen
- Großzügige Indikation zur Antagonisierung der Muskelrelaxantien
- Recruitmentmanöver vor Extubation erwägen
Postoperatives Management
- Analgesie
- Liegende Schmerzkatheter nutzen
- Opioide zurückhaltend einsetzen
- Siehe auch: Beispielalgorithmus für die Schmerztherapie auf Station
- Postoperative Überwachung angepasst an
- Begleiterkrankungen
- OP-Ausmaß