Abstract
Die präoperative Beurteilung des Patienten durch den Anästhesisten ist entscheidend für die Identifikation von Risikopatienten und die Auswahl des passenden Narkoseverfahrens. Ziel sind die Optimierung der Ausgangssituation, die Dokumentation bestehender Risiken und eine individualisierte Betreuung des Patienten. Insb. bei Risikokonstellationen ist der interdisziplinäre Austausch zur Minimierung des Risikos unerlässlich.
Anamnese und Untersuchung
Gezielte Anamnese
Die Prämedikationsvisite ist entscheidend für die präoperative Identifikation potenzieller Risikopatienten. Meist liefert eine gezielte Anamnese entsprechende Hinweise, die durch weiterführende Diagnostik objektiviert werden können. Ziel ist die frühzeitige Aufdeckung möglicher Risikokonstellationen und die darauf ausgerichtete optimale Vorbereitung und Narkoseführung.
Für weitere Infomationen zum perioperativen Management siehe: Elektive OP-Vorbereitung.
Allgemeinzustand
- Körperliche Belastbarkeit (siehe auch: Einschätzen des perioperativen Risikos)
- Ernährungszustand
- Bewusstsein und Orientierung
Anästhesie-Fragebogen
- Standarddokument u.a. zur Erfassung von Vorerkrankungen
- Ausfüllen
- Durch den Patienten vor dem Prämedikationsgespräch
- Antwortmöglichkeiten „Ja“ und „Nein“ zum Ankreuzen
- Auswertung durch den Anästhesisten
- Nähere Evaluation bei „Ja“-Antworten
- Fokussierung der körperlichen und apparativen Untersuchung entsprechend der Vorerkrankungen
- „Red flags“: Weitere Evaluation und Maßnahmen bspw. notwendig bei
- Akuter Infektion: Evaluation des aktuellen Befundes, ggf. elektive OP verschieben
- Verdacht auf erschwerte Intubationsbedingungen: Siehe: Prädiktoren für eine schwierige direkte Laryngoskopie
- Positiver Blutungsanamnese: Siehe auch: Perioperatives Gerinnungsmanagement
- Erhöhtem Aspirationsrisiko: Siehe auch: Perioperatives Aspirationsrisiko
- Multiplen Allergien
- Ggf. perioperative Prophylaxe mit Antihistaminika anordnen
- Diagnostik und Behandlung siehe auch: Arzneimittelallergie, Anaphylaxie
- Verdacht auf Alkohol- oder Drogenabusus: Konsumgewohnheiten eruieren, ggf. weitergehende Labordiagnostik (siehe auch: Alkohol (Intoxikation und Abhängigkeit), Abhängigkeit und Drogen)
- Anästhesie-Ausweis (oder anamnestisch Narkosekomplikationen in der Vergangenheit)
- Vorfall eruieren
- Vorbefunde anfordern
- Dokumente kopieren und dem Narkoseprotokoll beilegen
- Deutliche Kennzeichnung im Narkoseprotokoll und im elektronischen OP-Plan
- Geplantes Vorgehen entsprechend anpassen, siehe auch: Anästhesie bei MH-Disposition
- Fraglicher Schwangerschaft
- Schwangerschaftstest durchführen
- Elektive Eingriffe ggf. verschieben, siehe auch: Anästhesie bei Schwangeren
Orientierende körperliche Untersuchung
Der Fokus der körperlichen Untersuchung liegt auf dem Erkennen anästhesierelevanter Auffälligkeiten. Die folgende Auflistung gibt die wichtigsten Schritte an, um mögliche Narkoserisiken aufzudecken und entsprechende Vorkehrungen treffen zu können.
- Körperlicher Gesamteindruck
- Ernährungsstatus [2][3][4]
- Mangelernährung, bspw. anhand des Nutritional Risk Screening 2002 prüfen
- Adipositas , siehe auch: Anästhesie bei Adipositas permagna
- Gebrechlichkeit
- Ernährungsstatus [2][3][4]
- Körperliche Belastbarkeit
- Erfassung der Belastbarkeit mittels Selbsteinschätzung (Treppensteigen) oder metabolischer Äquivalente
- Diagnostik: Kardiale Belastungstests bzw. erweiterte kardiovaskuläre Diagnostik
- Indikation bei eingeschränkter oder nicht beurteilbarer Belastbarkeit
- Siehe auch: Diagnostik vor elektiven, nicht herzthoraxchirurgischen Eingriffen
- Beurteilung des Atemwegs (siehe auch: Präoperative Abschätzung der Intubationsbedingungen, Prädiktoren für eine erschwerte Maskenbeatmung)
- Klinische Untersuchung der Lunge: Insb. auf Hinweise auf akute Erkrankung/Verschlechterung
- Klinische Untersuchung des Herzens (siehe auch: Körperliche Untersuchung in der Kardiologie)
- Symptome der Herzinsuffizienz
- NYHA-Klassifikation
- Pathologische Herzgeräusche
- Herzrhythmusstörungen
- Pulsdefizit
- Erhebung des neurologischen Status (siehe auch: Neurologische Untersuchung, Psychopathologischer Befund)
- Dokumentation von Motorik und Sensibilitätsstörungen (pDMS)
- Dokumentation von Orientierungsstörungen
- Sonstige Auffälligkeiten
- Haut
- Lokale Entzündungen oder Infektionen der Haut
- Petechien (siehe auch: Blutungsanamnese)
- Lymphödem
- Bewegungsapparat
- Kontrakturen
- Skoliose
- HWS-Beweglichkeit (siehe auch: Erschwerte Intubationsbedingungen)
- Haut
- Minimaldiagnostik
Geläufige Risikoscores
Die Aufgabe des Anästhesisten ist es, Risikokonstellationen zu erfassen, gezielt nachzufragen und mithilfe spezifischer Fragebögen zu objektivieren. Weitere Informationen siehe auch: Einschätzen des perioperativen Risikos und Präoperative Diagnostik und Laboruntersuchungen
- Kardiales Risiko
- Pulmonales Risiko
- ARISCAT-Score
- Siehe auch: Anästhesie bei pulmonaler Vorerkrankung
- Verdacht auf OSAS
- Identifikation und Einschätzung von OSAS-Patienten gemäß der American Society of Anesthesiologists (ASA)
- STOP BANG oder vergleichbare Fragebogen
- Siehe auch: Anästhesie bei OSAS
Dokumentation im Narkoseprotokoll
Das meist mehrseitige Narkoseprotokoll dient der lückenlosen Dokumentation der prä-, intra- und postoperativen Phase durch den jeweils zuständigen Anästhesisten. Bei wechselnden Zuständigkeiten ist es besonders wichtig, aussagekräftig und vollständig zu dokumentieren, damit keine Informationen verloren gehen und der Patient bestmöglich durch die perioperative Phase begleitet werden kann.
- Patientendaten vollständig eintragen oder Patientenaufkleber nutzen
- Allgemeine Patienteninformationen
- Dringlichkeit des operativen Eingriffs
- Status (ambulante Anästhesie oder stationär)
- Größe, Gewicht
- Geplante Operation: Datum, Eingriffsbezeichnung und Fachabteilung
- Vormedikation
- Präoperativer Zustand
- Stichwortartige Zusammenfassung der Anamnese
- Hervorhebung wichtiger Besonderheiten/Risiken (bspw. Allergien, Schwangerschaft)
- Untersuchungsbefunde
- Mallampati-Klassifikation
- Laborwerte
- Zahnstatus: Insb. beschädigte, nicht festsitzende Zähne
- PONV-Anamnese
- Erfassung der Risikofaktoren mittels Apfel-Score
- Vorschlag für Prophylaxemaßnahmen (siehe auch: PONV-Prophylaxe)
- ASA-Klassifikation
- Geplantes Anästhesieverfahren
- Allgemeinanästhesie oder Regionalanästhesie
- Kombinationsnarkose
- Besonderheiten beim Atemwegsmanagement
- Weiterführende Maßnahmen
- Siehe auch: Auswahl des Narkoseverfahrens
- Geplante postoperative Überwachung festlegen
- Anordnungen für die Station
Entscheidend ist eine gute Übersichtlichkeit mit Hervorhebung der wichtigsten Informationen und Risikokonstellationen!
Auswahl des Narkoseverfahrens
Prinzipien zur Auswahl des Narkoseverfahrens [5]
Die Auswahl des Narkoseverfahrens steht am Ende der vollständigen Anamnese und Untersuchung des Patienten. Sie erfolgt nach sorgfältiger Abwägung aller Einflussfaktoren und unter Berücksichtigung des Patientenwunsches. Die folgende Auflistung zeigt die wesentlichen Faktoren, kann jedoch nicht die individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung ersetzen.
- Art des Eingriffs
- OP-Gebiet
- OP-Verfahren
- Erwartete Volumenverschiebung/Blutverlust
- OP-Dauer
- OP-Lagerung
- Notwendigkeit einer Muskelrelaxierung
- Ambulante Operation (siehe auch: Ambulante Anästhesie)
- Für das Management in spezifischen Fachbereichen siehe auch:
- Patienteneigene Faktoren
- Vorerkrankungen und besondere Patientengruppen
- Prüfung der Relevanz für die Narkoseführung
- Anästhesiologisches Management an Risikokonstellation des Patienten anpassen, siehe auch:
- Alter
- Kinder erhalten i.d.R. eine Allgemein- oder Kombinationsanästhesie
- Siehe auch: Grundlagen der Kinderanästhesie
- Ältere Personen [6]
- Limitierung meist durch Vorerkrankungen
- Regionalanästhesie bevorzugen
- Allgemeinanästhesie: Kein Vorteil bestimmter Anästhetika erwiesen
- Siehe auch: Anästhesie bei geriatrischen Personen
- Kinder erhalten i.d.R. eine Allgemein- oder Kombinationsanästhesie
- Beruf: Verfahren mit passendem Risikoprofil wählen
- Patientenwunsch
- Aufklärung über alle infrage kommenden Narkoseformen
- Gewichtung der Vor- und Nachteile durch den Anästhesisten
- Ablehnung eines Verfahrens gilt als Kontraindikation
- Vorerkrankungen und besondere Patientengruppen
- Klinikinterne Standards
- Kontraindikationen
- Regionalanästhesie
- Bei absoluter Kontraindikation : Allgemeinanästhesie
- Bei relativer Kontraindikation : Bei kardiopulmonalen Risikopatienten sorgfältige Risiko-Nutzen-Abwägung, sonst: Allgemeinanästhesie
-
Allgemeinanästhesie
- Regionalanästhesie bevorzugen
- Kontraindizierte Medikamente meiden
- Bei allgemein erhöhtem Narkoserisiko (siehe auch: Einschätzen des perioperativen Risikos): OP-Freigabe nach Risiko-Nutzen-Abwägung
- Regionalanästhesie
- Ergänzung einer Allgemeinanästhesie durch Regionalanästhesie (Kombinationsanästhesie)
- Voraussetzungen
- OP-Gebiet entspricht der Ausdehnung eines Regionalanästhesieverfahrens
- Punktionsort/Katheter liegt außerhalb des sterilen OP-Gebietes
- Indikationen
- Große Eingriffe zur intra- und postoperativen Schmerztherapie
- Intraoperative Einsparung von Narkosemedikamenten
- Regionalanästhesie mit unzureichender Wirkung
- Voraussetzungen
Vor Festlegung des Narkoseverfahrens sollte eine Risiko-Nutzen-Abwägung aller theoretisch möglichen Narkoseverfahren erfolgen!
Elektive OP-Freigabe [3][7]
In der präoperativen Vorbereitung stellt sich häufig die Frage der „Narkosefähigkeit“, die in dieser Weise nicht pauschal zu beantworten ist. Hier ist stets die Abwägung von Narkoserisiko und operativem Nutzen nötig. Folgende Aspekte müssen bedacht werden, um einen Patienten zu einer elektiven Operation „freizugeben“.
- Nutzen-Risiko-Abwägung
- Zuständiger Chirurg stellt OP-Indikation
- Zuständiger Anästhesist identifiziert Narkoserisiken und informiert Patient und zuständigen Chirurgen, siehe auch: Einschätzen des perioperativen Risikos
- Bei geplantem ambulanten Eingriff: Voraussetzungen für ambulantes Operieren prüfen
- Bei Risikopatienten: Interdisziplinärer Dialog über Risiken und Nutzen unerlässlich
- Im Zweifel weitere Diagnostik anfordern, Bitte um Wiedervorstellung mit Befunden
- Bei Überwiegen des potenziellen Nutzens über die Risiken: Perioperatives Risiko minimieren
- Bei Überwiegen der Risiken über den potenziellen Nutzen: OP nur bei dringlicher Indikation oder auf expliziten Wunsch des Patienten
- Perioperatives Risiko minimieren
- Chirurgische Optionen
- Änderung des OP-Verfahrens
- Änderung des OP-Ausmaßes
- Aufschub des Eingriffs
- Anästhesiologische Optionen
- Präoperative Optimierung der Ausgangsbedingungen
- Änderung des Narkoseverfahrens
- Narkoseführung und Überwachung anpassen
- Chirurgische Optionen
- Elektive OP-Freigabe verweigern: Nur in gut begründeten Fällen, bspw.
- Unzureichende Versorgungsmöglichkeiten der Klinik
- Akuter Infekt des Patienten
- Exazerbierte Grunderkrankung
- Weiterführende Diagnostik vor Eingriff erforderlich
Der Anästhesist sollte mit dem Wissen um die Narkoserisiken immer noch einmal kritisch die OP-Indikation hinterfragen!
Bei dringlicher oder Notfall-Indikation steht das Narkoserisiko hinter der Dringlichkeit der Operation zurück. Ziel ist dann die Minimierung der Risiken durch eine angepasste Narkoseführung!
Anästhesiologische Aufklärung: Spezifische Risiken
Die anästhesiologische Aufklärung sollte allgemeine Narkoserisiken abdecken, aber insb. patientenspezifische Risikokonstellationen verdeutlichen. Weder eine unnötige Beunruhigung des Patienten noch ein „Beschönigen“ vorhandener Risiken ist hier sinnvoll.
- Allgemeine Narkoserisiken siehe auch: Anästhesiologische Aufklärung
- Spezifische Risiken [8], bspw.
- Verschlechterung einer vorbestehenden Erkrankung
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Pulmonale Erkrankung
- Niereninsuffizienz
- Neurologische Erkrankungen
- Suchterkrankungen
- Erhöhtes Aspirationsrisiko aufgrund von Vorerkrankungen
- Erschwerte Intubationsbedingungen
- Zahnschäden bei schlechtem Zahnstatus
- Verlängerter Aufenthalt auf einer Überwachungsstation
- Risiko einer malignen Hyperthermie bei entsprechender Prädisposition
- Erhöhte Gefahr einer Awareness: Insb. Notfalleingriffe, herzchirurgische Eingriffe, Kinder und Patientinnen zur Sectio caesarea
- Rückenmarksnahe Regionalanästhesie
- Periphere Regionalanästhesie
- Berufsspezifische Risiken: Bspw. Risiko der Stimmbandverletzung bei Sängern im Falle einer Intubation
- Verschlechterung einer vorbestehenden Erkrankung
Die Aufklärung über die individuellen Narkoserisiken sind auf dem Aufklärungsbogen handschriftlich zu dokumentieren!
Bei allen Regionalverfahren sollte für den Fall einer unzureichenden Wirkung auch über einen Verfahrenswechsel (Analgosedierung oder Allgemeinanästhesie) und dessen Risiken aufgeklärt werden!