Zusammenfassung
Bei den Injektionsanästhetika handelt es sich um eine pharmakologisch heterogene Gruppe von Medikamenten, deren gemeinsames Merkmal die hypnotische Wirkung ist. Der Einsatz erfolgt typischerweise zur kurzzeitigen oder auch längerfristigen Sedierung sowie zur Einleitung und Aufrechterhaltung einer Allgemeinanästhesie. Die meisten Wirkstoffe, die den Injektionsanästhetika zugerechnet werden, haben i.d.R. diverse mögliche Applikationsformen und sind in ihrer Anwendung nicht auf den anästhesiologischen Bereich beschränkt.
Propofol ist das bekannteste Injektionsanästhetikum und das Standardmedikament zur Narkoseeinleitung im klinischen Alltag. Etomidat wird aufgrund seiner geringen Beeinflussung der Hämodynamik v.a. bei Personen mit erhöhtem kardiovaskulären Risiko eingesetzt. Thiopental gehört zur Gruppe der Barbiturate und ist für alle Altersgruppen zugelassen. Ketamin bzw. Esketamin besitzt eine analgetische und sympathomimetische Wirkkomponente, weshalb es häufig in der Notfallmedizin verwendet wird.
Weitere Wirkstoffe, die bisweilen den Injektionsanästhetika zugerechnet werden, sind bspw. Midazolam, Dexmedetomidin sowie die primär in der Anästhesie verwendeten Opioide Fentanyl, Sufentanil, Alfentanil und Remifentanil.
Übersicht
Einteilung [1][2]
Einteilung der Injektionsanästhetika | |
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Wirkstoffgruppe | Wirkstoffe |
Diisopropylphenole | |
Phenylethylimidazole | |
Barbiturate | |
Allosterische NMDAR-Modulatoren | |
Selektive α2-Adrenozeptor-Agonisten | |
μ-Opioid-Rezeptor-Agonisten |
Charakteristika [2]
Charakteristika der Injektionsanästhetika | ||||||
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Wirkstoff | Kreislauf (HZV) | Atmung (AMV) | Wirkbeginn | Wirkdauer | Besonderheiten | |
Propofol |
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Etomidat |
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Thiopental |
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Ketamin bzw. Esketamin |
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Midazolam |
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Dexmedetomidin [12] |
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Wirkung
Allgemeine Wirkungen [2]
Allgemeine Wirkungen der Injektionsanästhetika | ||||||
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Propofol | Etomidat [16][17] | Thiopental | Ketamin bzw. Esketamin | Midazolam | Dexmedetomidin | |
✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | (✓) | |
Muskelrelaxierung | — [18] | — | — | — | (✓) | — |
Bronchodilatation | ✓ | — | — [19] | ✓ [20] | ✓ [21] | (✓) [22][23] |
— | — | — | ✓ | — | (✓) [24][25][26] | |
Amnesie | ✓ [27] | ✓ | ✓ | ✓ [20][28] | ✓ | ✓ |
Alle Injektionsanästhetika wirken (in unterschiedlicher Ausprägung) hypnotisch, substanzspezifisch kommen weitere Wirkungen hinzu!
Ketamin bzw. Esketamin ist das einzige Injektionsanästhetikum mit analgetischer Wirkkomponente!
Wirkmechanismen und Rezeptoren
- Propofol [29]
- Agonismus an GABAA- und GABAB-Rezeptoren → Hemmung der Formatio reticularis
- Antagonismus an NMDA-Rezeptoren
- Modulation von Calcium- und Natriumkanälen [18]
- Etomidat [16]
- Agonismus an GABAA-Rezeptoren → Hemmung der Formatio reticularis
- Agonismus an peripheren α2B-Adrenozeptoren → Hämodynamische Stabilität [30]
- Agonismus an TRPA1-Rezeptoren → Injektionsschmerz, Thrombophlebitis
- Thiopental [19]
- Agonismus an GABAA-Rezeptoren → Hemmung der Formatio reticularis
- Modulation von Calciumkanälen
- Ketamin bzw. Esketamin [2][27]
- Antagonismus an NMDA-Rezeptoren (nicht-kompetitive Hemmung)
- Hemmung der synaptischen Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin
- Antagonismus an neuronalen nikotinischen Acetylcholinrezeptoren
- Agonismus an Opioidrezeptoren, GABAA-Rezeptoren, AMPA-Rezeptor
- Dexmedetomidin
- Selektiver α2-Adrenorezeptor-Agonist (sympathikolytisch): Hemmung der zentralen Noradrenalinfreisetzung im Locus coeruleus [2]
Pharmakokinetik
Allgemeine Pharmakokinetik [1][2][16][19][20][29][31][32][33][34]
Die zeitabhängige Plasmakonzentration der Injektionsanästhetika nach Bolusgabe lässt sich am besten durch das Drei-Kompartiment-Modell beschreiben, das für die meisten lipophilen Wirkstoffe anwendbar ist.
- Kompartimente
- Zentrales Kompartiment: Gehirn, Herz, Nieren, Leber (gut durchblutete Organe)
- Schnell äquilibrierendes Kompartiment: Skelettmuskulatur, Bindegewebe, Haut, Lunge (geringer durchblutete Organe und Gewebe)
- Langsam äquilibrierendes Kompartiment: Fettgewebe, Knochen (schlecht durchblutete Organe und Gewebe)
- Verteilung innerhalb der Kompartimente
- Initiale Phase
- Wirkstoffkonzentration nimmt in gut durchbluteten Organen schnell zu → Wirkeintritt im Gehirn
- Plasmakonzentration nimmt schnell ab
- Konzentrationsverlauf wird v.a. durch Umverteilung bestimmt, Geschwindigkeit der Verteilung v.a. abhängig vom HZV und vom Anteil der Organdurchblutung
- Intermittierende Phase
- Wirkstoffkonzentration nimmt in geringer durchbluteten Organen zu → Wirkung im Gehirn lässt nach
- Plasmakonzentration nimmt langsamer ab
- Konzentrationsverlauf wird v.a. durch Umverteilung und Rückverteilung bestimmt
- Terminale Phase
- Wirkstoffkonzentration nimmt in schlecht durchbluteten Organen zu → Anreicherung im Fettgewebe
- Plasmakonzentration nimmt langsam ab
- Konzentrationsverlauf wird v.a. durch Elimination bestimmt (terminale Metabolisierung)
- Initiale Phase
Aufnahme und Verteilung [2][20]
- Aufnahme: Applikation nahezu ausschließlich i.v. → Hohe Bioverfügbarkeit
- Verteilung: Hohe Lipophilie → Schneller Wirkbeginn und hohes Verteilungsvolumen
- Pharmakokinetische Besonderheiten
- Hohe Plasmaproteinbindung (Ausnahme: Ketamin bzw. Esketamin)
- Wirkeintritt abhängig von Dosis und Injektionsgeschwindigkeit
- Wirkdauer nach Bolusgabe hauptsächlich durch Umverteilung in die Skelettmuskulatur bestimmt
- Bei relativ erhöhter Hirndurchblutung (bspw. durch eine Kreislaufzentralisierung im Schock) unerwünschte Wirkverstärkung möglich
Aufgrund ihrer hohen Lipophilie besitzen Injektionsanästhetika nach Bolusgabe typischerweise einen schnellen Wirkeintritt und eine kurze Wirkdauer!
Die Wirkdauer der Injektionsanästhetika wird nach Bolusgabe hauptsächlich durch Umverteilung in die Skelettmuskulatur bestimmt! [1]
Elimination [20]
- Metabolisierung: Vorwiegend hepatisch durch das Cytochrom-P450-System
- Substanzspezifische Besonderheiten
- Propofol: Ca. 30% renale Metabolisierung
- Etomidat: Metabolisierung durch hepatische und plasmatische Esterasen
- Thiopental und Midazolam: Entstehung aktiver Metabolite
- Substanzspezifische Besonderheiten
- Ausscheidung (Exkretion): Vorwiegend renal
- Substanzspezifische Besonderheiten
- Propofol: Wirkstoff wird zu ca. 1% in unveränderter Form ausgeschieden
- Etomidat: Ca. 13% biliäre Elimination
- Unterschiedlich ausgeprägte Kumulationsneigung bei Nachinjektion bzw. kontinuierlicher Gabe (siehe auch: Kontextsensitive Halbwertszeit )
- Substanzspezifische Besonderheiten
Alle Injektionsanästhetika werden vorwiegend hepatisch metabolisiert und renal ausgeschieden!
Pharmakokinetische Parameter [20]
Pharmakokinetische Parameter der Injektionsanästhetika | ||||
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Plasmaproteinbindung | Halbwertszeiten nach Bolusgabe | |||
Initiale Phase | Intermittierende Phase | Terminale Phase | ||
Propofol |
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Etomidat |
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Thiopental |
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Ketamin bzw. Esketamin |
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Midazolam |
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Dexmedetomidin |
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Nebenwirkung
Nebenwirkungen von Propofol
- Venenreizung [36]
- Blutdruckabfall durch periphere Vasodilatation (peripherer Widerstand↓)
- Myoklonien bei Bolusgabe zur Narkoseeinleitung
- Sexuelle Fantasien [39][40]
- Propofol-Infusions-Syndrom (PRIS) [29][41][42]
- Definition: Lebensbedrohliche Störung des Fettsäurestoffwechsels und der Atmungskette als Komplikation einer hochdosierten und dauerhaften Infusion von Propofol
- Epidemiologie: Sehr selten [43]
- Risikofaktoren [41][44]
- Dosierung >5 mg/kgKG/h
- Infusionsdauer >48 h
- Kritische Krankheit
- Vorbestehende Mitochondriopathien [45]
- Wesentliche Pathomechanismen [44][46]
- Störung der β-Oxidation und Entkopplung der Atmungskette → ATP-Produktion↓, zelluläre Hypoxie
- Blockade kardialer β-Adrenozeptoren und Calciumkanäle → Myokardiale Kontraktilität und Herzfrequenz ↓
- Symptome/Klinik [44]
- Primär: Metabolische Azidose, Herzrhythmusstörungen, Rhabdomyolyse
- Sekundär: Akute Nierenschädigung, Herzversagen, Fieber
- Diagnostik: Blutgasanalyse bzw. Laborwerte , Ausschluss möglicher Differenzialdiagnosen (Ausschlussdiagnose!)
- Therapie: Sofortige Unterbrechung der Zufuhr von Propofol, supportive Maßnahmen
- Prävention: Dosierung und Anwendungsdauer von Propofol begrenzen, routinemäßige CK-Kontrollen
Für Propofol gibt es kein Antidot!
Nebenwirkungen von Etomidat [16]
- Myoklonien bei Bolusgabe zur Narkoseeinleitung
- Übelkeit, Erbrechen (PONV)
- Venenreizung
- Injektionsschmerz, potenziell vermeidbar durch
- Thrombophlebitis
- Nebennierenrindensuppression: Reversible, dosisabhängige Reduktion der Cortisolsynthese
- Ursache: Spezifische, reversible Hemmung der 11-β-Hydroxylierung der Aldosteronsynthese und der Cortisolbiosynthese
- Wirkung: Serumkonzentrationen von Cortisol und Aldosteron für ca. 6–8 h erniedrigt, Ausgangsniveau nach ca. 24 h erreicht
Nebenwirkungen von Thiopental [19]
- Blutdruckabfall durch dosisabhängige Verminderung des HZV, reflektorische Tachykardie
- Injektionsschmerz
-
Husten, Laryngospasmus, Bronchospasmus durch
- Unzureichende laryngeale und pharyngeale Reflexdämpfung
- Allergische und pseudoallergische Reaktionen (Histaminausschüttung)
- Gewebsnekrose bei Paravasation oder akzidenteller intraarterieller Injektion
- Genauer Pathomechanismus unklar
- Ausmaß abhängig von der verwendeten Wirkstoffkonzentration
- Möglicher Warnhinweis: Qualvoller, brennender Injektionsschmerz
- Folgekomplikationen: Exulzerationen, Gangrän, Verlust der betroffenen Extremität
- Sofortmaßnahmen bei akzidenteller intraarterieller Injektion
- Intraarteriellen Zugang belassen und mit mind. 20 mL NaCl 0,9% nachspülen
- Minderung des Gefäßspasmus
- Gabe von 5–10 mL Lidocain 1% intraarteriell
- Ggf. Sympathikolyse durch periphere Nervenblockade
- Ggf. intraarterielle Heparingabe zur Vermeidung einer Thrombose
- Prävention: Injektion nur unter laufender Infusion in sicher venös liegende Infusionszugänge
- Akuter Schub einer Porphyrie durch Enzyminduktion
Nebenwirkungen von Ketamin bzw. Esketamin [20]
-
Blutdruck- und Herzfrequenzanstieg (um ca. 20–30% des Ausgangswerts)
- Myokardialer O2-Verbrauch↑ [47]
- Zerebraler Blutfluss↑
-
Halluzinationen, Delir und Albträume
- Auftreten insb. während der Aufwachphase, bspw. mit psychomotorischer Agitiertheit
- Prophylaxe durch Kombination mit einem Benzodiazepin möglich
- Pharyngeale bzw. laryngeale Reflexe↑, Speichel- und Bronchialsekretion↑
- Erhöhtes Risiko eines Laryngospasmus
- Problematisch insb. bei Kindern und Eingriffen an den oberen Atemwegen
- Muskeltonus und -eigenreflexe↑
Nebenwirkungen von Dexmedetomidin [2][12]
- Zentrale Sympathikolyse
- Beachte: Rote-Hand-Brief zu Dexmedetomidin [48]
- Nach längerer Anwendung: Entzugsreaktion nach plötzlichem Absetzen möglich
- Hyper- oder Hypoglykämie
- Agitiertheit
Es werden die wichtigsten Nebenwirkungen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Meditricks
In Kooperation mit Meditricks bieten wir durchdachte Merkhilfen an, mit denen du dir relevante Fakten optimal einprägen kannst. Dabei handelt es sich um animierte Videos und Erkundungsbilder, die auf AMBOSS abgestimmt oder ergänzend sind. Die Inhalte liegen meist in Lang- und Kurzfassung vor, enthalten Basis- sowie Expertenwissen und teilweise auch ein Quiz sowie eine Kurzwiederholung. Eine Übersicht aller Inhalte findest du im Kapitel „Meditricks“. Meditricks gibt es in unterschiedlichen Paketen – für genauere Informationen empfehlen wir einen Besuch im Shop.
Propofol
Ketamin
Etomidat
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