Zusammenfassung
Die Epiphyseolysis capitis femoris (ECF) ist eine Erkrankung, die hauptsächlich Jugendliche während des pubertären Wachstumsschubs betrifft. Dabei kommt es akut oder chronisch zu einer Lockerung in der Epiphysenfuge und im Verlauf zu einer Dislokation der Metaphyse. Die klinische Symptomatik ist abhängig vom Verlauf. Besonders bei einem langsamen Abrutschen können die Beschwerden eher unspezifisch sein und im Bereich der Leiste, des Oberschenkels oder des Knies lokalisiert werden. Ein akutes Abrutschen ist dagegen stark schmerzhaft und eine Belastung des Beins nicht mehr möglich. Die radiologische Diagnostik beinhaltet immer eine Beckenübersicht und eine axiale Aufnahme beider Hüften, da die Erkrankung häufig beidseitig auftritt. Die ECF wird standardmäßig operativ versorgt. Je nach Akuität und Ausmaß der Dislokation stehen verschiedene operative Verfahren zur Verfügung.
Epidemiologie
- Inzidenz: 2–10/100.000 [1][2]
- Insg. steigende Inzidenz
- Geografische Unterschiede
- Geschlechterverhältnis: ♂ > ♀
- Altersgipfel: 9–16 Jahre (während des pubertären Wachstumsschubs)
- Bilaterales Auftreten: 14–63% [3]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Multifaktorielle Genese mit prädisponierenden Faktoren [4][5]
- Biomechanische Faktoren [6]
- Mehrgewicht
- Fehlstellung der unteren Extremität, insb. Coxa retrotorta , Coxa vara oder Coxa profunda
- Steile Ausrichtung der Wachstumsfuge
- Endokrinologische Faktoren [7][8]
- Hypothyreose
- Chronische Niereninsuffizienz
- Mangel oder Überschuss an Wachstumshormonen
- Hypogonadismus
- Mangel an Vitamin D und/oder Vitamin C
- Primärer Hyperparathyreoidismus
- Panhypopituitarismus
- Hyperleptinämie [9]
- Genetische Faktoren
- Sozioökonomische Faktoren [10][11]
- Biomechanische Faktoren [6]
Eine ECF entsteht multifaktoriell auf dem Boden biomechanischer Mehrbelastung und endokrinologischer Schwächung der Epiphysenfuge! [4][5]
Klassifikation
Einteilung nach zeitlich-klinischem Verlauf [13][14][15]
- Akut: Epiphyseolysis capitis femoris acuta (ca. 15%)
- Symptomdauer: ≤3 Wochen
- Starke, akute Schmerzen
- Chronisch: Epiphyseolysis capitis femoris lenta (ca. 85%)
- Symptomdauer: >3 Wochen
- Phasenhafte, eher unspezifische Schmerzen
- Acute-on-chronic
- Schmerzen >3 Wochen bei erhaltener Gehfähigkeit
- Plötzliche Schmerzzunahme mit Gehunfähigkeit
Einteilung nach Stabilität [13][15][16]
- Stabil
- Geh- und Stehfähigkeit (mit oder ohne Gehstützen)
- Sonografie: Kein Erguss, Anzeichen für Remodeling
- Niedrigeres Risiko für eine avaskuläre Hüftkopfnekrose im Kindesalter
- Instabil
- Keine Geh- und Stehfähigkeit
- Sonografie: Erguss, kein Anzeichen für Remodeling
- Höheres Risiko für eine avaskuläre Hüftkopfnekrose im Kindesalter
Radiologische Einteilung [14][15]
Radiologische Einteilung der ECF am konventionellen Röntgenbild | ||
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Ausprägung | Dislokation | Southwick-Winkel |
Mildes Abrutschen |
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Moderates Abrutschen |
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Schweres Abrutschen |
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Pathophysiologie
- Grundlagen
- Zonale Gliederung der Epiphysenfuge
- Knorpelgewebe wenig widerstandsfähig gegenüber Scherkraft
- Risikofaktoren: Multiple Faktoren, siehe auch: Epiphyseolysis capitis femoris - Ätiologie
- Zeitpunkt: Pubertärer Wachstumsschub [3]
- Folgen des pubertären Wachstumsschubs
- Anatomische Veränderungen der Epiphysenfuge
- Anstieg an (Geschlechts‑)Hormonen [19]
- Östrogen: Längenwachstum sowie Zellreifung und Mineralisation (vermehrte Stabilität)
- Testosteron und STH: Wachstum↑ bei reduzierter Stabilität
- Leptin: Knorpelproliferation↑
- IGF1: Längenwachstum und Ossifikation↑
- Biomechanik: Widerstandsfähigkeit der Epiphysenfuge↓ und einwirkende Scherkräfte↑ → Abrutschen der Metaphyse
- Formen
- Akut: „Ungebremstes“ Abrutschen ohne Reparationsvorgänge
- Chronisch: Langsames Gleiten mit Reparationsvorgängen
- Ergebnis
- Epiphyse bleibt zentriert im Azetabulum
- Metaphyse disloziert nach kranial, lateral und ventral
Die genaue Pathogenese ist noch unklar. Ein Abrutschen ist jedoch entweder Folge einer deutlichen Zunahme der Scherkräfte und/oder einer weniger stabilen Epiphysenfuge! [3]
Bei der ECF bleibt die Epiphyse im Azetabulum zentriert, während die Metaphyse nach kranial, lateral und ventral disloziert!
Symptomatik
- Schmerzen [3]
- Lokalisation: Leiste, Oberschenkel oder Knie [21]
- Belastungsabhängig: Häufig zu Beginn
- Akute Zunahme möglich
- Bewegungseinschränkung der Hüfte: Insb. Innenrotation und Flexion
- Verändertes Gangbild
- Hinken
- Ggf. Gang- und Standunfähigkeit
- Ggf. positives Trendelenburg-Zeichen
Bei unspezifischen Knie-, Leisten- oder Oberschenkelschmerzen bei pubertierenden Jugendlichen sollte immer an eine Epiphyseolysis capitis femoris gedacht werden!
Die Diagnose wird aufgrund der unspezifischen Beschwerden oft erst nach Wochen gestellt!
Diagnostik
Anamnese
- Beschwerden
- Beginn und Verlauf
- Lokalisation
- Qualität der Schmerzen
- Alter, Größe und Gewicht
- Grunderkrankungen
- Familienanamnese
- Sportliche Betätigung [22]
- Trauma
Körperliche Untersuchung [23]
- Inspektion
- Hinkendes Gangbild
- Beinlängendifferenz
- Spontane Außenrotation des Beins in Rückenlage
- Überprüfen des Bewegungsumfangs: Typischerweise eingeschränkte Innenrotation
- Funktionstests
- Drehmann-Zeichen: Automatische Außenrotation und Abduktion bei passiver Hüftbeugung
- Thomas-Handgriff: Extensionsdefizit im Hüftgelenk bei Beugekontraktur
- Trendelenburg-Zeichen: Absinken des Beckens bei Insuffizienz der Hüftabduktoren
- Siehe auch: Orthopädische Untersuchung der Hüfte
- Untersuchung auf FAIS, insb. bei älteren Jugendlichen: Hüft-Impingement-Tests
Die unspezifischen Beschwerden führen oft zu einer späten Diagnosestellung! Jedoch ist eine zeitnahe Diagnose relevant, um ein weiteres Abrutschen und Folgeschäden zu verhindern!
Bildgebung
Goldstandard in der Diagnostik ist die konventionelle Röntgenaufnahme in 2 Ebenen. MRT und CT sind v.a. für Nachuntersuchungen geeignet und sollten die Einleitung der Therapie nicht verzögern! [3]
Auswahl bildgebender Verfahren zur ECF-Diagnostik [24][25][26][27] | ||||
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Verfahren | Typische Indikation | Aufnahmetechnik | Mögliche Befunde | Bemerkungen |
Konventionelle Röntgenaufnahme [28] |
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Computertomografie |
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Sonografie [29][30] |
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Differenzialdiagnosen
- Intraartikuläre Lokalisation
- Extraartikuläre Lokalisation
- Hernien, insb. Leisten-, Obturatorius- oder Schenkelhernie
- Muskuläre Erkrankungen bzw. Verletzungen
- Irritation oder Entzündung von Weichgewebe
- Erkrankungen der Wirbelsäule, des Iliosakralgelenks oder des Kniegelenks
Häufige Differenzialdiagnosen bei Hüftbeschwerden im Kindes- und Jugendalter [21][23] | ||||
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Erkrankung | Epidemiologie | Beschreibung | Typische Symptome | Wichtige Diagnostik [24] |
Epiphyseolysis capitis femoris |
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Coxitis fugax |
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Bakterielle Coxitis |
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Morbus Perthes |
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Juvenile idiopathische Arthritis |
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Hüftgelenkdysplasie |
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Coxa saltans externa |
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AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Allgemeines [14][31]
- Goldstandard: Operatives Vorgehen
- Ziel: Fixieren der Epiphyse und Verhindern von
- (Weiterem) Abrutschen
- Durchblutungsstörung
- Sekundären Veränderungen, bspw. FAIS oder Koxarthrose
- Zeitpunkt: Dringliche Operation
- Vorgehen: Meist Osteosynthese (In-situ-Fixation) mit Schraube oder K-Draht, ggf. Korrekturosteotomie
- Perioperatives Management
- Postoperative Analgesie
- Ibuprofen im Kindes- und Jugendalter
- Paracetamol im Kindes- und Jugendalter
- Postoperative Thromboseprophylaxe [32][33]
- Individuelle Entscheidung mit Risikostratifizierung
- Niedermolekulare Heparine (NMH) oder ggf. unfraktioniertes Heparin (UFH) empfohlen
- Siehe auch: Kindliche Femurfraktur - Perioperatives Management
- Postoperative Analgesie
- Nachsorge
- Meist eingeschränkte Belastung für 6 Wochen postoperativ
- Regelmäßige Röntgenkontrollen
- Implantatentfernung nach Verschluss der Wachstumsfuge möglich
- Prognose: Remodeling-Potenzial↓ bei
- Abrutschwinkel↑
- Alter↑
- Gewicht↑
- Prophylaxe der Gegenseite: In-situ-Fixation
- Indikation: Auftreten einer kontralateralen ECF in ca. 40% innerhalb von 18 Monaten [31][34][35]
- Prädiktoren für ein Abrutschen, bspw. [34]
- Endokrine Faktoren, siehe auch: Ätiologie der Epiphyseolysis capitis femoris
- Alter↓
- Morphologie des proximalen Femur
Die akute und insb. die instabile ECF gelten als Notfall und sollte innerhalb von 24 h operativ versorgt werden! [14]
Operative Therapie [3][31][36]
Typisches Vorgehen bei akutem bzw. instabilem Verlauf
- Akuter Verlauf
- Reposition der Dislokation
- Entlastung des intraartikulären Hämatoms
- Epiphyseodese mit Schraube oder ggf. K-Draht
- Acute-on-chronic-Verlauf
- Entlastung des intraartikulären Hämatoms
- In-situ-Fixation mit Schraubenosteosynthese
- Umstellungsosteotomie
Typisches Vorgehen bei chronischem bzw. stabilem Verlauf [37][38]
- Leichte bis moderate Dislokation
- In-situ-Fixation: Meistens perkutane Schraubenosteosynthese
- Dynamische Verschraubung: „Gleitschrauben“ bei >1 Jahr erwartetem weiteren Wachstum
- Moderate bis schwere Dislokation [39]
- Meist Umstellungsosteotomie
- Modifizierte Dunn-Osteotomie [40][41]
- Imhäuser-Osteotomie [42]
- Ggf. In-situ-Fixation
- Meist Umstellungsosteotomie
Komplikationen
- Operationsbedingte Komplikationen
- Avaskuläre Hüftkopfnekrose im Kindesalter
- Chondrolyse
- Implantatversagen oder -dislokation
- Periimplantäre Fraktur
- Weichgewebeirritation über dem Implantat
- Wundheilungsstörung, Infektion
- Siehe auch: Komplikationen nach Osteosynthese
- Persistierende Fehlstellung
- FAIS
- Koxarthrose
- Achsfehler und Beinlängendifferenz
- Instabilität des Hüftgelenks
- Bleibende Bewegungs- und Funktionseinschränkung
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- M93.-: Sonstige Osteochondropathien
- Exklusive: Osteochondrose der Wirbelsäule (M42.‑)
- M93.0: Epiphyseolysis capitis femoris (nichttraumatisch)
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.