Zusammenfassung
Zu den nephrologischen Erkrankungen zählen solche, die primär oder sekundär die Glomeruli und/oder die tubulo-interstitiellen Nierenstrukturen betreffen. Sie lassen sich auf eine vielfältige Art klassifizieren (u.a. nach betroffener Struktur, klinischen Syndromen/Symptomen), wobei es dabei stets starke Überlappungen gibt. Oftmals lassen sich keine klaren Krankheitsentitäten abgrenzen – ein und dieselbe Nierenerkrankung kann sich klinisch verschieden äußern, ein und derselbe Krankheitsauslöser zu verschiedenen Manifestationen führen.
Ätiologisch kommen viele verschiedene Faktoren in Betracht (u.a. metabolisch, entzündlich, toxisch), die das Glomerulum oder das Interstitium (samt Tubuli) auf vielfältige Weise schädigen und so zu typischen Befunden im Urinsediment führen können.
Dieses Kapitel soll dabei helfen, eine grobe Herangehensweise an die nephrologischen Krankheitsbilder und ein pathophysiologisches Grundverständnis zu entwickeln. Es erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Du möchtest diesen Artikel lieber hören als lesen? Wir haben ihn für dich im Rahmen unserer studentischen AMBOSS-Audio-Reihe im Podcastformat vertont. Den Link findest du am Kapitelende in der Sektion “Tipps & Links".
Definition
- Glomeruläre Nierenerkrankungen
- Tubulo-interstitielle Nierenerkrankungen
- Definition: Erkrankungen, die primär das Interstitium und die Tubuli der Niere betreffen
Die meisten nephrologischen Erkrankungen sind (auch) glomerulär! Primäre bzw. ausschließlich tubulo-interstitielle Erkrankungen sind sehr selten.
Klassifikation
Die Klassifikation nephrologischer Erkrankungen ist schwierig und oftmals nicht eindeutig möglich, da sich keine klaren Krankheitsentitäten abgrenzen lassen . Die im Folgenden genannten Klassifikationsmöglichkeiten sollen dabei helfen, sich dennoch systematisch anzunähern, erheben dabei jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Die Nomenklatur leitet sich historisch hauptsächlich aus pathohistologischen Befunden ab!
Primäre Nierenerkrankung vs. Systemerkrankung mit renaler Beteiligung
- Primäre Nierenerkrankungen: Erkrankungen, die primär Nierenstrukturen befallen, bspw.
- IgA-Nephropathie
- Minimal-Change-Glomerulopathie
- Primär fokal-segmentale Glomerulosklerose
- Medikamenten-assoziierte akute interstitielle Nephritis
- Nierenerkrankungen im Rahmen systemischer Erkrankungen, bspw.
- Diabetische Nephropathie bei Diabetes mellitus
- Hypertensive Nephropathie
- Lupusnephritis bei SLE
- Nierenbeteiligung bei Vaskulitiden
Nach betroffener Struktur: Primär glomerulär vs. tubulo-interstitiell
Glomeruläre Schädigung
Innerhalb des Glomerulums können verschiedene Strukturen vorrangig betroffen sein
- Kapillarendothel: Führt eher zu Hämaturie und ggf. leichter Proteinurie sowie zum nephritischen Syndrom
- Bspw. Glomerulonephritis bei GPA
- Glomeruläre Basalmembran/Podozyten: Führt zur Störung des glomerulären Filters mit starker Proteinurie, ggf. bis zum nephrotischen Syndrom
- Mesangium: I.d.R. nicht alleinig betroffen
- Ausgeprägte Beteiligung typisch z.B. bei IgA-Nephritis
Glomeruläre Schädigungen sind am häufigsten!
Tubulo-interstitielle Schädigung
Tubulo-interstitielle Schädigungen treten häufig begleitend, selten isoliert auf. Betroffene Strukturen können sein
- Tubuli: Führt zur Störung tubulärer Transportmechanismen, bspw. zu Glucosurie auch bei Normoglykämie
- Interstitium: Ödem führt zu Kompression der Tubuli und ggf. Nekrosen
- Häufig beide Strukturen gleichzeitig betroffen
Mischformen
- Ein Pathomechanismus führt zur Schädigung beider Bereiche (z.B. Toxine, Immunkomplexe bei SLE)
- Schwere Glomerulopathie führt im Verlauf auch zu tubulärem Schaden und umgekehrt
Nach Ätiologie/Pathogenese
Entzündlich (autoimmun und infektiös)
- Nierenschädigung im Rahmen systemischer Autoimmunerkrankungen, bspw.
- Infektassoziierte Nierenerkrankungen, bspw.
- AA-Amyloidose
Vaskulär
- Hypertensive Nephropathie
- Nierenarterienstenose (atherosklerotisch oder fibromuskulär)
- Embolien/Thrombosen, inkl.
- Cholesterinembolien
- Niereninfarkt, bspw. bei VHF
- Nierenvenenthrombose
- Thrombotischer Mikroangiopathie
- Vaskulitiden
Im Rahmen maligner Grunderkrankungen
- Vermehrte Produktion von Leichtketten, bspw. bei Multiplem Myelom
- CAST-Nephropathie
- AL-Amyloidose
- Paraneoplastische Syndrome
- Bspw. bei Lungenkarzinomen
Substanzinduziert
- Direkte Nephrotoxizität: Zahlreiche Medikamente (insb. Zytostatika, NSAR, verschiedene Antibiotika, Lithium, PPI), Metalle (u.a. Gold, Blei), bakterielle Toxine (bspw. Shiga-Toxin)
- Induktion einer allergischen Reaktion: Medikamenteninduzierte akute interstitielle Nephritis
Metabolisch
Genetisch bedingt
Idiopathisch
Häufig bleibt die genaue Ursache auch nach umfangreicher Diagnostik ungeklärt.
Nach klinischem Bild
In der klinischen Praxis bestimmt i.d.R. das klinische Bild das weitere Vorgehen bei nephrologischen Erkrankungen!
Syndrome
- Isolierte milde Proteinurie oder Hämaturie (ohne weitere Befunde oder Symptome)
- Nephrotisches Syndrom
- Akutes nephritisches Syndrom
- RPGN
- Akute Nierenschädigung
- Chronische Nierenerkrankung
Die nephrologischen Syndrome sind nicht strikt voneinander zu trennen! Es gibt häufig Überlappungen oder einen fließenden Übergang zwischen zwei verschiedenen Syndromen!
Leitsymptome bzw. -befunde
Nicht immer lassen sich die Symptome oder Befunde einem klaren Syndrom zuordnen. In diesem Fall empfiehlt sich ein symptom-/befundorientiertes Vorgehen. Siehe dazu auch
Pathophysiologie
Glomeruläre Schädigungen
Grundmechanismen
Sehr vereinfacht betrachtet – aber hilfreich zum Verständnis – können zwei verschiedene Pathomechanismen auftreten
- Schädigung der glomerulären Kapillarwand → „Einblutung“ in die Bowman-Kapsel, also in den Primärharn → Eingeschränkte oder erloschene Funktion des Nierenkörperchens
- Folge: Nachweis aller Blutbestandteile im Urin
- Unselektiv alle vorkommenden Serumproteine
- Nachweis von Erythrozyten, die gekennzeichnet sind durch ihren Weg vom Nierenkörperchen bis in den ausgeschiedenen Harn = Dysmorphe Erythrozyten (Akanthozyten) und Erythrozytenzylinder
- Typischerweise geringe Protein- und Erythrozytenmengen im Harn (durch niedrige oder erloschene Perfusion und somit Aktivität des Nierenkörperchens); bei vielen betroffenen Nierenkörperchen: Glomeruläre Filtrationsrate↓, Retentionswerte↑ → Meist geringe Proteinurie, Mikrohämaturie, GFR↓, Kreatinin↑
- Beschriebener Urinbefund wird als „nephritisches Sediment“ bezeichnet
- Folge: Nachweis aller Blutbestandteile im Urin
- Gestörte glomeruläre Filtrationsbarriere → Selektionsverlust des Filters bei erhaltener Perfusion der Glomeruli und fortgesetzter Erzeugung von Ultrafiltrat
- Folge: Nachweis unangemessener Proteintypen im Urin
- Selektiv großmolekulare Proteine wie Albumin und Transferrin, die normalerweise nicht in den Primärharn gelangen und für die keine suffizienten Mechanismen der Rückresorption im Tubulussystem bestehen (selektiv-glomeruläre Proteinurie)
- Typischerweise große Proteinmengen im Harn (durch erhaltene glomeruläre Filtrationsrate und Filterung großmolekularer Proteine in den Primärharn durch geschädigte Nierenkörperchen) → Meist starke Proteinurie, keine Hämaturie, initial GFR und Kreatinin normal
- Beschriebener Urinbefund wird als „nephrotisches Sediment“ bezeichnet
- Folge: Nachweis unangemessener Proteintypen im Urin
Überblick: „Nephrotisch“ vs. „nephritisch“
Zur Vereinfachung werden viele nephrologische Befundkonstellationen in die Kategorien „nephrotisch“ und „nephritisch“ eingeteilt.
Die Begriffe „nephritisch“ und „nephrotisch“ werden uneinheitlich verwendet. Häufig wird damit nicht nur das Vollbild des jeweiligen Syndroms bezeichnet, sondern eine Symptom-/Befundkonstellation, die entweder durch eine starke Proteinurie („nephrotisch“) oder eine ausgeprägte glomeruläre Hämaturie („nephritisch“) geprägt ist!
Syndrome mit dominierender Proteinurie („nephrotisch“)
- Isolierte Proteinurie (siehe: Proteinurie)
- Nephrotisches Syndrom (Vollbild) (siehe: Nephrotisches Syndrom)
Syndrome mit dominierender Hämaturie („nephritisch“)
- Isolierte glomeruläre Hämaturie
- Akutes nephritisches Syndrom (Vollbild)
- Rapid-progressive Glomerulonephritis
Überblick: Nephrotisches vs. nephritisches Syndrom | ||
---|---|---|
Nephrotisches Syndrom | Nephritisches Syndrom | |
Hämaturie | +/– | +++ |
Proteinurie | ++++ | ++ |
Weitere Urinbefunde | Keine | Dysmorphe Erythrozyten, Akanthozyten, Erythrozytenzylinder |
Serum-Albumin | ↓↓ bis ↓↓↓↓ | ↔︎, ggf. ↓ |
Ödeme | ++++ (durch Eiweißmangel) | ++ (durch Retention) |
Blutdruck | – bis ↓ | ↑ |
Verlauf | Eher schleichend | Akut |
Das nephritische und das nephrotische Syndrom sind nicht immer klar voneinander zu trennen – Mischbilder sind häufig!
Tubulo-interstitielle Schädigungen
- Tubulo-interstitielle Entzündung/Fibrose → Obstruktion der Tubuli → Behinderter Urinfluss im Tubulussystem → Afunktionelles, vorgeschaltetes Glomerulum
- Tubuläre Schädigung → Störung des Transports von Wasser und Stoffen vom Tubulus in die ableitenden Gefäße → Isosthenurie und Polyurie, gestörtes tubulo-glomeruläres Feedback → Verminderte Freisetzung von Renin und Angiotensin II → Reduktion der glomerulären Filtration
- Schädigung der peritubulären Kapillaren → Tubulusischämien, intravasale Hypertonie im Glomerulum → Gestörte Filtration
Wechselwirkungen zwischen glomerulärer und tubulo-interstitieller Schädigung
- Glomeruläre Schädigung → Proteinurie, darin u.a. aktivierte Zytokine enthalten → Im Verlauf Induktion einer Entzündungskaskade im Tubulussystem → Bei anhaltender Proteinurie: Begleitende interstitielle Nephritis, Tubulusatrophie und im Verlauf Fibrose
- Tubulo-interstitielle Erkrankungen führen über verschiedene Mechanismen (s.o.) zur Störung und Reduktion der glomerulären Durchblutung → Im Verlauf glomeruläre Schädigung
Studientelegramme zum Thema
- Studientelegramm 276-2024-2/3: Neue KDIGO-Leitlinie zur Lupusnephritis
- Studientelegramm 253-2023-1/3: Mycophenolat-Mofetil bei IgA-Nephropathie
- Studientelegramm 217-2022-1/3: Neues zur Minimal-Change-Glomerulonephritis
- Studientelegramm 188-2021-3/3: Neue KDIGO-Leitlinie zur Glomerulonephritis
- Studientelegramm 125-2020-1/3: Neue Leitlinien zur Glomerulonephritis
- Studientelegramm 85-2019-1/3: Rituximab in der Therapie der membranösen Glomerulonephritis?
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AMBOSS-Podcast zum Thema
Nierenerkrankungen: Vom U-Stix zur Diagnose (Juni 2024)
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Meditricks
In Kooperation mit Meditricks bieten wir durchdachte Merkhilfen an, mit denen du dir relevante Fakten optimal einprägen kannst. Dabei handelt es sich um animierte Videos und Erkundungsbilder, die auf AMBOSS abgestimmt oder ergänzend sind. Die Inhalte liegen meist in Lang- und Kurzfassung vor, enthalten Basis- sowie Expertenwissen und teilweise auch ein Quiz sowie eine Kurzwiederholung. Eine Übersicht aller Inhalte findest du im Kapitel „Meditricks“. Meditricks gibt es in unterschiedlichen Paketen – für genauere Informationen empfehlen wir einen Besuch im Shop.
Nephritisches Syndrom
Nephrotisches Syndrom
Inhaltliches Feedback zu den Meditricks-Videos bitte über den zugehörigen Feedback-Button einreichen (dieser erscheint beim Öffnen der Meditricks).
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- N00.-: Akutes nephritisches Syndrom
- Inklusive: Akut:
- glomeruläre Krankheit
- Glomerulonephritis
- Nephritis
- Nierenkrankheit o.n.A.
- Exklusive: Akute tubulointerstitielle Nephritis (N10); Nephritisches Syndrom o.n.A. (N05.‑)
- Inklusive: Akut:
- N01.-: Rapid-progressives nephritisches Syndrom
- Inklusive: Rapid-progressiv:
- glomeruläre Krankheit
- Glomerulonephritis
- Nephritis
- Exklusive: Nephritisches Syndrom o.n.A. (N05.‑)
- Inklusive: Rapid-progressiv:
- N03.-: Chronisches nephritisches Syndrom
- Inklusive: Chronisch:
- glomeruläre Krankheit
- Glomerulonephritis
- Nephritis
- Exklusive: Chronische tubulointerstitielle Nephritis (N11.‑); Diffuse sklerosierende Glomerulonephritis (N18.‑); Nephritisches Syndrom o.n.A. (N05.‑)
- Inklusive: Chronisch:
- N05.-: Nicht näher bezeichnetes nephritisches Syndrom
- Inklusive:
- Glomeruläre Krankheit o.n.A.
- Glomerulonephritis o.n.A.
- Nephritis o.n.A.
- Nephropathie o.n.A. und Nierenkrankheit o.n.A. mit morphologischen Veränderungen
- Exklusive: Nephropathie o.n.A. und ohne Angabe der morphologischen Veränderungen (N28.9); Nierenkrankheit o.n.A. und ohne Angabe der morphologischen Veränderungen (N28.9); Tubulointerstitielle Nephritis o.n.A. (N12)
- Inklusive:
Morphologische Veränderungen bei glomerulären Krankheiten
- 0: Minimale glomeruläre Läsion
- Minimal changes glomerulonephritis
- 1: Fokale und segmentale glomeruläre Läsionen
- Fokal und segmental:
- Hyalinose
- Sklerose
- Fokale Glomerulonephritis
- Fokal und segmental:
- 2: Diffuse membranöse Glomerulonephritis
- 3: Diffuse mesangioproliferative Glomerulonephritis
- 4: Diffuse endokapillär-proliferative Glomerulonephritis
- 5: Diffuse mesangiokapilläre Glomerulonephritis
- Membranoproliferative Glomerulonephritis, Typ I und III, oder o.n.A.
- 6: Dense-deposit-Krankheit
- 7: Glomerulonephritis mit diffuser Halbmondbildung
- Extrakapilläre Glomerulonephritis
- 8: Sonstige morphologische Veränderungen
- Proliferative Glomerulonephritis o.n.A.
- 9: Art der morphologischen Veränderung nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.