Zusammenfassung
Unter einem Descensus genitalis versteht man eine Senkung von Uterus und/oder Vagina, Blase, Rektum, Dünndarm oder Dickdarm, die bis zum Vorfall der Organe vor die Vaginalöffnung führen kann. Es handelt sich um ein häufiges Krankheitsbild, das u.a. durch eine Beckenbodenschwäche, Multiparität und erhöhten intraabdominellen Druck begünstigt wird und dessen Häufigkeit mit dem Alter zunimmt. Begleitend treten häufig Miktions- und Defäkationsbeschwerden auf.
Die Therapie kann sowohl konservativ (bspw. mittels Beckenbodentraining oder Pessartherapie) als auch operativ erfolgen. Dabei sollen der Befund und insb. der Patientinnenwunsch berücksichtigt werden. Bei der operativen Therapie gibt es verschiedene Techniken, um die ursprüngliche Lage der Beckenorgane wiederherzustellen (bspw. Sakrokolpopexie).
Definition
Descensus genitalis
Senkung von Vagina und/oder Uterus, Blase, Rektum, Dünndarm oder Dickdarm bis zum Hymenalsaum [1]
- Descensus uteri (mittleres Kompartiment): Senkung des Uterus bis zum Hymenalsaum
- Rektozele/Enterozele (hinteres Kompartiment): Aussackung des Rektums bzw. eines Teils des Darms in Richtung Vagina [2]
- Zystozele/Urethrozele (vorderes Kompartiment): Aussackung der Harnblase (und Harnröhre) in Richtung Vagina
- Pulsationszystozele: Defekt des medianen Bindegewebes, Rugae vaginales nicht erhalten [2][3]
- Traktionszystozele: Defekt des lateralen Bindegewebes, Rugae vaginales erhalten [2][3]
Genitalprolaps [1]
- Totalprolaps: Descensus genitalis, der sich >2 cm über den Hymenalsaum hinaus senkt
Epidemiologie
- Prävalenz: Im Alter zunehmend, insb. ab dem 5. Lebensjahrzehnt [2]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Risikofaktoren [2]
Die Ursache für einen Descensus genitalis ist eine Insuffizienz der Beckenbodenmuskulatur, der Faszien und des ligamentären Halteapparats des Uterus durch:
- Allgemeine Bindegewebsschwäche
- Multiparität
- Besondere Geburtsereignisse
- Vaginal-operative Entbindungen, insb. Forceps
- Höhergradige Dammrisse (III° und IV°)
- Verlängerte Austrittsperioden
- Beckenbodenüberdehnung mit Verletzung des M. levator ani und Schädigung des N. pudendus
- Adipositas
- Nikotinabusus
- Erhöhter intraabdomineller Druck
- Diabetes mellitus
- Intensive körperliche Arbeit
Symptomatik
- Druckgefühl auf den Damm und am Beckenboden
- Vaginales Fremdkörpergefühl/Vorfallgefühl
- Ziehende Unterbauch- und Kreuzschmerzen
- Dyspareunie
- Miktionsbeschwerden (abhängig vom Schweregrad)
- Harninkontinenz (häufiges Begleitsymptom)
- Rezidivierende Harnwegsinfekte [4]
- Pollakisurie
- Quetschhahnphänomen: Verzögerte Miktion mit Restharn
- Harnleiterobstruktion mit Entwicklung einer Hydronephrose [5]
- Stuhlentleerungsstörungen mit Obstipation oder Stuhlinkontinenz bei Analsphinkterschwäche (insb. bei Defekten des hinteren Kompartimentes als bspw. Rektozele)
- Druckulzerationen mit Blutabgang sowie ggf. Infektionen und Wundheilungsstörungen
Stadien
Stadieneinteilung nach ICS/IUGA-Standardisierung [1][2][6] | |
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Grad | Beschreibung |
0 | Kein Deszensus |
I | Tiefster Punkt liegt mind. 1 cm oberhalb des Hymenalsaums |
II | Tiefster Punkt liegt ±1 cm ober- oder unterhalb des Hymenalsaums |
III | Tiefster Punkt liegt >1 cm unterhalb bis max. 2 cm unterhalb des Hymenalsaums [7] |
IV | Totalprolaps |
Diagnostik
Klinische Untersuchung [1][2]
- Gynäkologische Anamnese
- Inspektion und Spekulumeinstellung (in Ruhe und beim Husten/Pressen) [2]
- Zeichen einer Vaginalatrophie
- Festlegung des Stadiums des Descensus genitalis
- Detektion von Urethrozelen/Zystozelen und Rektozelen/Enterozelen
- Detektion einer larvierten Belastungsinkontinenz
- Gynäkologische Tastuntersuchung mit Beurteilung von
- Beckenbodenmuskulatur
- Analsphinktertonus
- Transvaginalsonografie: Beurteilung von Uterus, Adnexen und evtl. freier Flüssigkeit im Douglas-Raum (siehe auch: Sonografische Untersuchung der Harnblase und der Geschlechtsorgane)
- Introitussonografie (inkl. Perineal- und Beckenbodensonografie) , Beurteilung von
- Mobilität und Position des Blasenhalses
- Trichterbildung der proximalen Urethra, Messung der Urethralänge
- Zystozelen (medialer vs. lateraler Defekt) [1]
- Rektozelen/Enterozelen
- Harnröhrendivertikel
- Vaginalzysten
- Abdominale Sonografie
- Restharnbestimmung
- Nierensonografie zum Ausschluss eines Harnstaus (siehe auch: Sonografische Untersuchung der Nieren)
- Urodynamik (Goldstandard bei Patientinnen mit Inkontinenzsymptomatik)
- Ggf. Zystoskopie (zusätzlich; bei unklaren Beschwerden)
Differenzialdiagnosen
- Elongatio colli [8]
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Allgemeines
- Aufklärung
- Erklärung des Krankheitsbildes
- Alle Behandlungsmöglichkeiten (konservativ und operativ) aufzeigen mit Erfolgsraten und Vor- und Nachteilen sowie Komplikationen
- Therapieentscheidung: Partizipativ zu treffen
- Dokumentation: Gesprächsinhalte und Aufklärung sorgfältig dokumentieren
Konservative Therapie [1][2]
- Abwarten und Risikofaktoren reduzieren
- Vaginale Östrogentherapie (insb. bei atrophischer Vaginitis und bei Pessartherapie)
- Gezieltes Beckenbodentraining, ggf. mit Biofeedback: Signifikante Reduktion der Beschwerden und Verhinderung von Progress möglich
- Pessartherapie (Würfel-, Ring-, Schalen- oder Gelhornpessare inkl. lokaler Östrogentherapie )
- Indikationen
- Kinderwunsch
- Hohes perioperatives Risiko
- Wunsch nach konservativer Therapie
- Überbrückung bis zu einer operativen Therapie
- Pessarformen
- Würfelpessar (Pessar der Wahl), Gelhornpessar: Täglicher Einsatz durch Patientin
- Ring- und Schalenpessar: Wechsel durch ärztliches gynäkologisches Personal alle 3 Monate
- Mögliches Versagen bei
- Z.n. Hysterektomie
- Z.n. Prolapsoperation
- Kurzer Vagina
- Klaffendem Introitus vaginae
- Komplikationen
- Blutungen mit Erosionen und Schmerzen
- Infektionen
- Obstipation
- Rektovaginale Fistelung (sehr selten!)
- Indikationen
Operative Therapie [1][2][7]
Bei der Wahl der passenden Operation spielt der Patientinnenwunsch eine wichtige Rolle, dementsprechend sollte eine partizipative Entscheidung getroffen werden. Im Gegensatz zu früher wird eine simultane Hysterektomie heute nicht mehr standardmäßig mitgemacht.
- Indikationen
- Erfolgloser konservativer Therapieversuch
- Leidensdruck (symptomatischer Descensus genitalis)
- Patientinnenwunsch
- Einteilung der Defekte zur operativen Versorgung
Übersicht über die operative Therapie bei Descensus genitalis | |
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Kompartiment | Operative Versorgung |
Vorderes Kompartiment |
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Hinteres Kompartiment |
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Mittleres Kompartiment |
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Operative Versorgung des vorderen Kompartiments
- Kolporrhaphie anterior (vordere Vaginalplastik)
- Definition: Raffung (Verstärkung) der vorderen Vaginalwand mit Anhebung der Blase
- Zugangsweg: Vaginal
- Vorgehen
- Mediane Inzision der vorderen Vaginalwand
- Präparation des Septum vesicovaginale mit Abpräparation der Harnblase
- Vernähung mit „Raffung“ in der Mittellinie
- Verschluss der Kolpotomie (ggf. unter Mitnahme überschüssiger Vaginalhaut)
- Bei Descensus im mittleren Kompartiment: Kombination mit apikaler Fixation möglich
- Spezifische Komplikationen: Harnblasenverletzungen, Blasenentleerungsstörungen, Ureterverletzung (selten), Belastungsinkontinenz
- Netzeinlage (niedrigere Rezidivraten als Kolporrhaphie anterior)
- Definition: Einbringen eines synthetischen Netzes unter die Blase zur Stabilisierung des Septum vesicovaginale
- Zugangsweg: Vaginal
- Vorgehen
- Als Verstärkung oder Ersatz der Kolporrhaphie
- Netzeinlage mit bspw. transobturatorischer Fixation
- Bei zusätzlichem Deszensus im mittleren Kompartiment: Kombination mit apikaler Fixation möglich
- Spezifische Komplikationen: Belastungsinkontinenz, Dyspareunie, Rezidiv, Netzkomplikationen
Operative Versorgung des hinteren Kompartiments
- Kolporrhaphie posterior (hintere Vaginalplastik)
- Netzeinlage (zur Stabilisierung des Septum rectovaginale): Kein routinemäßiger Einsatz
Operative Versorgung des mittleren Kompartiments
Bei den nachfolgenden Operationen kann bei fehlender Pathologie des Uterus und unauffälliger Zytologie (PAP-Abstrich) eine uteruserhaltende Variante gewählt werden.
- Sakrokolpopexie: Goldstandard bei Defekten des mittleren Kompartiments
- Definition: Befestigung des Vaginalstumpfes oder der Zervix über ein Netz am Kreuzbein
- Zugangsweg: Abdominal, laparoskopisch oder Roboter-gestützt
- Vorgehen
- Eröffnung des Peritoneums zwischen Os sacrum und Vaginalstumpf
- Freipräparation des Vaginalstumpfes (ggf. mit Vaginalmanipulator)
- Annähen eines Netzes an der vorderen und hinteren Vaginalwand
- Spannungsfreie Fixation des Netzes am anterioren longitudinalen Ligament am Promontorium in Höhe S1–S3
- Verschluss des Peritoneums
- Spezifische Komplikationen
- Netzerosionen (insb. wenn in gleicher Operation eine Hysterektomie erfolgt)
- Schmerzen im Bereich des Beckenbodens
- Verstärkte Drangsymptomatik
- Besonderheiten
- Durch Netzimplantation gleichzeitige Korrektur von Defekten des vorderen und/oder hinteren Kompartiments möglich
- Gleichzeitige Hysterektomie nicht empfohlen
- Sakrospinale Fixation (nach Amreich-Richter)
- Definition: Befestigung des Vaginalstumpfes oder der Zervix am Lig. sacrospinale
- Zugangsweg: Vaginal, laparoskopisch oder abdominal
- Vorgehen
- Zugang über das Spatium rectovaginale
- Freipräparation des Rektums vom rechten Lig. rectovaginale und Wegschieben nach links
- Durchstechen des Lig. sacrospinale (einseitig rechts, ca. 2 cm medial der Spina ischiadica) mit Fäden
- Fixierung des Vaginalstumpfes oder der Zervix mittels Fäden und Zug nach hinten rechts oben
- Kombination mit vaginaler Hysterektomie möglich
- Spezifische Komplikationen
- Schmerzen
- Dyspareunie
- Netzerosion
- Sakrouterine Fixation
- Definition: Befestigung des Vaginalstumpfes oder der Zervix am Lig. sacrouterinum
- Zugangsweg: Laparoskopisch oder vaginal
- Vorgehen
- Fixierung des Vaginalstumpfes oder der Zervix am Lig. sacrouterinum
- Abschließende Zystoskopie empfehlenswert
- Spezifische Komplikationen
- Ureterverletzung (insb. bei vaginalem Zugang)
- Blutungen (selten transfusionsbedürftig)
- Organverletzungen (Harnblase, Rektum)
- Nervenläsionen (S2–S4)
- Kolpokleisis
- Definition: Verschluss der Vagina
- Zugangsweg: Vaginal
- Indikation: Patientinnenwunsch (insb. ältere, multimorbide Frauen)
- Vorgehen
- Vaginalverschluss mit kompletter oder partieller Kolpektomie
- Häufig in Kombination mit Kolporrhaphie posterior
- Kombination mit Hysterektomie möglich
- Spezifische Komplikationen
- Pyelonephritis
- Blutungen
Descensus genitalis mit Belastungsinkontinenz
- Einzeitige Verfahren (mögliche Kombinationen)
- Zusammen mit Sakrokolpopexie zur Prophylaxe einer postoperativen Belastungsinkontinenz: Burch-Kolposuspension
- Bei larvierter Belastungsinkontinenz: Einlage eines Tension-free vaginal Tape
- Zusammen mit Sakrokolpopexie und symptomatischer Belastungsinkontinenz: Einlage eines Tension-free vaginal Tape
- Zweizeitiges Verfahren (nach Descensus-Operation): Einlage eines Tension-free vaginal Tape (bspw. TVT-O)
Komplikationen
- Komplikationen des Descensus genitalis
- Druckulzerationen
- Aszendierende Infektionen
- Belastungsinkontinenz
- „Larvierte“ Harninkontinenz
- Harnstau
- Obstipation
- Allgemeine Komplikationen nach operativer Therapie
- Netzerosionen
- Netzinfektionen
- Netzschrumpfungen
- Verletzungen umliegender Organe (Harnblase, Urethra, Ureter, Rektum)
- Sexuelle Dysfunktion und Dyspareunie
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- N81.-: Genitalprolaps bei der Frau
- Exklusive: Genitalprolaps als Komplikation bei Schwangerschaft, Wehen oder Entbindung (O34.5); Prolaps des Scheidenstumpfes nach Hysterektomie (N99.3); Prolaps oder Hernie des Ovars und der Tuba uterina (N83.4)
- N81.0: Urethrozele bei der Frau
- N81.1: Zystozele
- Prolaps der (vorderen) Scheidenwand o.n.A.
- Zystozele mit Urethrozele
- Exklusive: Zystozele mit Uterusprolaps (N81.2–N81.4)
- N81.2: Partialprolaps des Uterus und der Vagina
- Prolaps der Cervix uteri o.n.A.
- Uterusprolaps 1. und 2. Grades
- N81.3: Totalprolaps des Uterus und der Vagina
- Procidentia uteri o.n.A.
- Uterusprolaps 3. und 4. Grades
- N81.4: Uterovaginalprolaps, nicht näher bezeichnet
- Uterusprolaps o.n.A.
- N81.5: Vaginale Enterozele
- Exklusive: Enterozele mit Uterusprolaps (N81.2–N81.4)
- N81.6: Rektozele
- Prolaps der hinteren Scheidenwand
- Exklusive: Rektozele mit Uterusprolaps (N81.2–N81.4), Rektumprolaps (K62.3)
- N81.8: Sonstiger Genitalprolaps bei der Frau
- Alte Verletzung der Beckenbodenmuskulatur
- Insuffizienz des Perineums
- N81.9: Genitalprolaps bei der Frau, nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.