Zusammenfassung
Das Thrombose-mit-Thrombopenie-Syndrom (TTS), auch vakzininduzierte immunogene thrombotische Thrombozytopenie (VITT) oder vakzininduzierte prothrombotische Immunthrombozytopenie (VIPIT) genannt, ist eine seltene Impfkomplikation nach Verabreichung von Vektorimpfstoffen gegen COVID-19. Betroffen sind insb. Frauen ≤60 Jahre. Die Erkrankung entsteht ähnlich einer HIT II durch Antikörperbildung gegen das Thrombozytenantigen Plättchenfaktor 4 (PF4).
Das TTS kann sich ca. 4–30 Tage nach Impfung je nach Lokalisation durch entsprechende Symptome venöser und arterieller Thrombosen äußern. Diagnostisch wegweisend ist neben der Thrombozytopenie eine Erhöhung der D-Dimere sowie der Nachweis von Antikörpern gegen PF4. Bei klinischem V.a. eine Thrombose ist zudem eine Bildgebung indiziert. Die Therapie erfolgt mit einer Antikoagulation sowie der Verabreichung von Immunglobulinen. Die Letalität liegt bei 20–50%.
Definition
- Thrombose-mit-Thrombopenie-Syndrom (TTS) : Seltene Impfkomplikation nach Impfung mit Vektorimpfstoffen gegen COVID-19 mit Thrombozytopenie und/oder thromboembolischen Komplikationen
- Synonyme
- Vakzininduzierte immunogene thrombotische Thrombozytopenie (VITT)
- Vakzininduzierte prothrombotische Immunthrombozytopenie (VIPIT)
- Synonyme
Epidemiologie
Die Erkrankung wurde erstmals im Rahmen der COVID-19-Pandemie beschrieben und tritt in seltenen Fällen als Impfkomplikation auf. [1][3][4][5]
- Inzidenz: 0,5–10:1.000.000 Impfungen
- Altersverteilung: Insb. <60-Jährige
- Geschlechterverhältnis: ♀ > ♂
- Risikofaktoren: Kein Zusammenhang zu klassischen Risikofaktoren für Thromboembolien
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Pathophysiologie
- Antikörperbildung gegen Thrombozytenantigen Plättchenfaktor 4 (PF4) → Fc-Rezeptor-vermittelte Thrombozytenaktivierung → Thrombozytenaggregation → Thrombozytopenie durch Verbrauch
- Ursache der Antikörperbildung unklar
Das Thrombose-mit-Thrombopenie-Syndrom entsteht durch Antikörperbildung gegen Plättchenfaktor 4 und ähnelt der HIT II (sog. HIT Mimicry)!
Symptomatik
Allgemeines [2][3][4][7]
- Beginn: I.d.R. ab 5 Tagen nach Impfung (früher möglich), nicht jedoch ≥30 Tage nach Impfung
- Grundsätzlich unspezifisch
- Abhängig von der Lokalisation der Thrombose(n)
- Kopfschmerzen
- Fokal-neurologisches Defizit, bspw. verschwommene Sicht, Doppelbilder
- Schwindel
- Abdominelle Schmerzen
- Rückenschmerzen
- Brustschmerzen
- Kurzatmigkeit
- Extremitätenschmerz, ggf. mit Schwellung und Rötung oder Blässe und Kälte
- Blutungszeichen: Petechien oder Hämatome
Während eine Impfreaktion mit Abgeschlagenheit, Fieber und Kopfschmerzen in den ersten 1–3 Tagen nach Impfung auftritt, beginnt die Symptomatik des TTS (meist) mit einer zeitlichen Verzögerung von ≥3 Tagen!
Lokalisation der Thrombosen [3][4]
- Venöse Thrombosen
- Sinusvenenthrombose (ca. 50%), ggf. mit sekundärer Einblutung [8]
- Beinvenenthrombose (ca. 30%)
- Lungenarterienembolie (ca. 30%)
- Splanchnische Venenthrombose (z.B. Pfortaderthrombose)
- Arterielle Thrombosen
Beim Thrombose-mit-Thrombopenie-Syndrom treten häufig auch mehrere Thrombosen auf!
Diagnostik
Vorgehen
- Bei unspezifischen Symptomen ambulanter Patient:innen nach Impfung → Labordiagnostik
- Bei kritischer Erkrankung oder hochgradigem Verdacht → Sofortige Einweisung in ein Zentrum mit hämostaseologischer/neurologischer Expertise
Treten 3–30 Tage nach einer COVID-19-Impfung mit einem Vektorimpfstoff Symptome auf, sollte eine weiterführende Diagnostik durchgeführt werden!
Da auch COVID-19 zu thromboembolischen Ereignissen führen kann, sollte eine akute Infektion ausgeschlossen werden!
Allgemeine Labordiagnostik
Die Labordiagnostik ist abhängig von dem klinischen Bild sowie der Akuität des Krankheitsverlaufs.
- Bei untypischem klinischen Bild → Kleines Blutbild zum Ausschluss einer Thrombozytopenie, ggf. inkl. D-Dimere
- Bei dringendem Verdacht und/oder kritischer Erkrankung
- Großes Blutbild
- Blutausstrich , siehe auch: Diagnostik der Thrombozytopenie
- Gerinnung inkl. D-Dimere
- Klinische Chemie inkl. LDH, Haptoglobin
- Bei (V.a.) splanchnogener Thrombose zusätzlich Bilirubin, ASAT, ALAT, AP
- Bei Auffälligkeiten ohne vorherige Heparinexposition → Spezielle Labordiagnostik, ansonsten siehe: HIT
Bei Personen mit unspezifischen Symptomen nach Impfung (Vektorimpfstoff) sollte ein Blutbild ± D-Dimere zum Ausschluss durchgeführt werden!
Spezielle Labordiagnostik
- Nachweis der Antikörper gegen PF4
- HIT-Screening auf Antikörper gegen PF4
- HIT-Bestätigung mit Heparin-induziertem Plättchenaggregationsassay (HIPA) oder Serotoninfreisetzungtest (SRA, Serotonin-release Assay) und ggf. modifiziertem HIPA
- Positiv → Bestätigung der Diagnose (siehe unten: Falldefinition)
- Negativ → Ggf. modifizierter HIPA
Bildgebung
- Je nach Symptomatik: CT ± Gefäßdarstellung (z.B. Splanchnikusgebiet) oder Duplex-Sonografie (z.B. Beinvenenthrombose)
- Bei V.a. Sinusvenenthrombose: Bildgebung des Kopfes (CT nativ , ggf. inkl. CT-Angio oder cMRT ± Venografie)
Falldefinition mit Kriterien [2][3]
Falldefinition des Thrombose-mit-Thrombozytopenie-Syndroms (TTS) | |
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Wahrscheinlichkeit der Diagnose | Diagnostik |
Gesichert |
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Wahrscheinlich | |
Möglich |
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Unwahrscheinlich |
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Differenzialdiagnosen
- Disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) bei z.B. Sepsis oder Neoplasie
- Immunthrombozytopenie (ITP) (auch impfassoziiert) oder impfbedingte medikamenteninduzierte Thrombozytopenie
- Thrombotische Mikroangiopathie (hämolytisch-urämisches Syndrom oder thrombotisch-thrombozytopenische Purpura)
- Hämatologische Neoplasie
- Antiphospholipidsyndrom
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Therapieprinzipien
- Schnelle Therapieeinleitung entscheidend
- Abhängig von der Wahrscheinlichkeit der Diagnose, siehe auch: Diagnostik des Thrombose-mit-Thrombopenie-Syndroms
- Bei Sinusvenenthrombose zusätzlich: Behandlung auf einer Stroke Unit
Antikoagulation
- Indikation: Gesicherte/wahrscheinliche Diagnose, siehe auch: Diagnostik des Thrombose-mit-Thrombopenie-Syndroms
- Dosierung: Wie bei venösen Thrombosen
- Antikoagulanzien
- Direkte Thrombin-Inhibitoren (p.o. oder i.v.) (z.B. Dabigatran)
- Heparinoide (z.B. Fondaparinux)
- Orale Faktor-Xa-Inhibitoren (z.B. Apixaban)
- Argatroban
- Dauer: Mind. bis Thrombozyten und D-Dimere normwertig
- Kontrolle der D-Dimere nach Absetzen
- Siehe auch: Antikoagulation bei HIT II, DOAK - Therapeutische Antikoagulation
Heparine sollten initial nur verwendet werden, wenn keine anderen Antikoagulanzien verfügbar sind – eine schnelle Therapieeinleitung ist entscheidend!
Thrombozytopenien sind in diesem Fall keine Kontraindikation für die therapeutische Antikoagulation!
Immunglobuline [2]
- Indikation: Gesicherte/wahrscheinliche Diagnose, siehe auch: Diagnostik des Thrombose-mit-Thrombopenie-Syndroms
- Dosierung: IVIG
- Bei Sinusvenenthrombose oder splanchnischer Venenthrombose zusätzlich an Tag 2 IVIG
- Bei Verschlechterung oder fehlender Verbesserung 2. Gabe IVIG an Tag 3 oder 4 möglich
Weitere Möglichkeiten
- Ggf. Steroide
- Plasmaaustausch erwägen
- Thrombozytenkonzentrate: Nur bei (lebensbedrohlichen) Blutungskomplikationen
Prävention
- Risikoadaptierte Impfstoffauswahl: Vektorimpfstoffe Ad26.COV2.S (Janssen) und AZD1222 (AstraZeneca) nur noch für ≥60-Jährige verwenden [2][9]
- Aufklärung vor Verabreichung von Vektorimpfstoffen obligat [10]
- In den ersten 3 Wochen nach Impfung auf Symptome achten
- Patient:innen anweisen, bei typischen Symptomen ärztliches Personal aufzusuchen
- Rote-Hand-Briefe zu AZD1222 [11][12][13][14] und Rote-Hand-Briefe zu Ad26.COV2.S beachten [15][16]
- Nach TTS weitere Impfung gegen COVID-19 mit mRNA-Impfstoff [17]
- Keine routinemäßige prophylaktische Antikoagulation vor Verabreichung von Vektorimpfstoffen
Auch bei stattgehabtem Thrombose-mit-Thrombozytopenie-Syndrom sollte die Grundimmunisierung gegen COVID-19 vervollständigt werden!
Trotz seltener Impfkomplikationen besteht ein grundsätzlich positives Nutzen-Risiko-Verhältnis der Vektorimpfstoffe! [18]
Studientelegramme zum Thema
- Studientelegramm 181-2021-1/3: Fokus SARS-CoV-2-Impfung: Thrombose-Thrombozytopenie-Syndrom nach AZD1222-Zweitimpfung
- Studientelegramm 165-2021-2/3: Fokus SARS-CoV-2-Impfung: Neuigkeiten zu VIPIT bzw. VITT
- Studientelegramm 164-2021-1/3: Vakzininduzierte prothrombotische Immunthrombozytopenie (VIPIT) – aktualisierte Empfehlungen der GTH
- Studientelegramm 163-2021-2/3: Fokus SARS-CoV-2-Impfung: Erste Hinweise auf Mechanismus bei Thrombosen
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