Zusammenfassung
Das Retinoblastom ist eine seltene Tumorerkrankung des Kindesalters. Man unterscheidet zwischen dem sporadischen Retinoblastom und dem hereditären Retinoblastom mit Keimbahnmutation. In beiden Fällen liegen der Erkrankung zwei Mutationsereignisse mit dem Funktionsverlust eines Tumorsuppressors zugrunde, wodurch im Auge Retinoblasten zum Tumor proliferieren. Symptomatisch wird das Retinoblastom meist vor dem 3. Lebensjahr durch eine Leukokorie, die häufig den Eltern auffällt. Andere Symptome sind neu aufgetretenes Schielen, Visusverlust, Augenrötung und ein Exophthalmus. Zur Diagnosestellung werden neben der Ophthalmoskopie auch die Orbitasonografie, eine MRT des Kopfes sowie die genetische Diagnostik herangezogen. Die Therapie umfasst je nach Ausdehnung des Malignoms eine lokale Tumorabtragung, systemische Chemotherapie und/oder Enukleation des betroffenen Auges. Bei adäquater Therapie ist die Letalität der Erkrankung gering. Aufgrund des erhöhten Risikos für Zweitmalignome ist allerdings eine lebenslange Nachsorge notwendig.
Epidemiologie
- Inzidenz: Häufigster primärer intraokulärer maligner Tumor im Kindesalter, insgesamt aber selten, etwa ein Fall auf 15.000–20.000 Lebendgeburten, durchschnittlich 40 Fälle pro Jahr in Deutschland
- Alter: Manifestation meist (90 %) vor dem 3. Lebensjahr
- Geschlecht: ♂ = ♀ [1]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Genetik
- Funktionsverlust beider Allele des RB1-Gens (Locus Chromosom 13q14, kodiert für den Tumorsuppressor Retinoblastom-Protein Rb) führt zur Entartung von Retinoblasten
- Mögliche Mutationen umfassen u.a. Deletionen, Insertionen, Translokationen, Punktmutationen
- Grundlage: Zwei-Treffer-Hypothese nach Knudson
- Formen
- Hereditäres Retinoblastom (40%)
- Keimbahnmutation („first hit“, de novo oder – seltener – von Elternteil vererbt) → ein konstitutionelles mutiertes Allel in allen somatischen Zellen (inklusive retinaler Zellen)
- Mutationsereignis („second hit“) in retinaler Zelle → zwei mutierte Allele → Zelle mit Funktionsverlust von RB1 → Proliferation zum Retinoblastom
- Vererbung der Keimbahnmutation: Autosomal-dominanter Erbgang, teilweise mit unvollständiger Penetranz und variabler Expressivität
- Häufig bilaterale und/oder multiple Retinoblastome [2]
- Erhöhtes Risiko für Zweitmalignome (etwa Osteosarkome) im weiteren Verlauf
- Sporadisches Retinoblastom (60%)
- 1. Mutationsereignis („first hit“) → ein mutiertes Allel in retinaler Zelle
- 2. Mutationsereignis („second hit“) → zwei mutierte Allele in retinaler Zelle → Zelle mit Funktionsverlust von RB1 → Proliferation zum Retinoblastom
- Meist unilaterale und solitäre Retinoblastome
- Keine Vererbung defekter Allele
- Mosaik (selten) [3]
- 1. Mutationsereignis während der frühen Embryonalzeit (postzygotisch, „first hit“) → Teil der Zellen mit einem mutierten Allel
- 2. Mutationsereignis in betroffener Zelle („second hit“) → zwei mutierte Allele
- Sind Keimzellen betroffen, kann die Mutation vererbt werden
- Hereditäres Retinoblastom (40%)
Pathophysiologie
- Mutationsereignisse (s.o.) → Funktionsverlust des Tumorsuppressors Retinoblastom-Protein Rb → Störung der Zellzyklusregulation (Übergang von der G1- in die S-Phase) → Bildung eines Retinoms (benigne) → Bildung eines Retinoblastoms (maligne) durch unbekannte Einflussfaktoren am hinteren Augenpol
- Tumorausbreitung
- Glaskörperaussaat von Tumorzellen → ggf. intraokulare Absiedlungen
- Wachstum Richtung Aderhaut → häufig Netzhautablösung (Ablatio retinae)
- Wachstum durch Lederhaut → Ausbreitung in Orbita
- Infiltration der Papille → Tumorwachstum entlang des N. opticus/Ausbreitung im Subarachnoidalraum → Gehirnmetastasen und/oder Meningeosis
- Infiltration Aderhaut, Lederhaut → Einbruch in Gefäße → hämatogene Fernmetastasen (Knochen, Lymphknoten)
Symptomatik
Tumorausbreitung
- Unilaterales Retinoblastom: 60% der Fälle
- Bilaterales Retinoblastom: 40% der Fälle
- Selten: Trilaterales Retinoblastom
Symptome
- Häufig lange symptomlos
- Fehlender Rotreflex, sog. Leukokorie („Katzenauge“), häufigstes Erstsymptom (bis zu 80%)
- Strabismus
- Visusverschlechterung
- Glaukom
- Schmerzhaftes, gerötetes Auge
- Exophthalmus
- Gelegentlich kognitive und motorische Entwicklungsstörungen [2]
In etwa 40% der Fälle treten Retinoblastome in beiden Augen auf!
Stadien
Einteilung
- Intraokuläres Retinoblastom: Tumor auf Auge beschränkt; Klassifikation: International Classification System for Intraocular Retinoblastoma
- Extraokuläres Retinoblastom: Tumor nicht auf Auge beschränkt; Klassifikation: International Retinoblastoma Staging System
International Classification System for Intraocular Retinoblastoma (ICRB)
Definition | |
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Gruppe A | |
Gruppe B |
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Gruppe C |
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Gruppe D |
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Gruppe E |
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International Retinoblastoma Staging System (IRSS)
Stadium | Definition |
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0 |
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I |
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II |
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III |
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IV |
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TNM-Klassifikation des Retinoblastoms [4]
pTNM | Ausdehnung |
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T1 | Tumoren kleiner als ⅔ des Augenvolumens, keine Glaskörperaussaat oder subretinale Absiedlungen
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T2 | Tumoren kleiner als ⅔ des Augenvolumens, Netzhautablösung möglich
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T3 | Schwere intraokuläre Manifestation
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T4 | Extraokuläre Manifestation mit:
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N1 | Regionale Lymphknotenbeteiligung (präaurikulär, zervikal, submandibulär) |
N2 | Entfernte Lymphknotenbeteiligung |
M1 | Fernmetastasen: einzelne bzw. mehrere Metastase(n) außerhalb des ZNS (M1a bzw. M1b), prächiasmatische bzw. postchiasmatische ZNS-Metastase(n) (M1c bzw. M1d), Meningeosis (M1e) |
Diagnostik
- Augenärztliche Diagnostik (Ophthalmoskopie in medikamentöser Mydriasis) sowie Bildgebung (Sonografie der Orbita, MRT des Kopfes)
- Humangenetische Diagnostik und Beratung
- Ggf. Metastasensuche
Ophthalmoskopie
- Mit medikamentöser Mydriasis und bei Kleinkindern in Narkose
- Grau-weißer, vaskularisierter Netzhauttumor
- Endophytisches (in den Glaskörper) oder exophytisches (subretinal) Wachstum
- Netzhautablösung möglich
Bildgebende Verfahren
- Orbitasonografie
- Bewertung der Tumordicke
- Häufig Verkalkungen
- MRT (Kopf/Orbita) mit Kontrastmittel
- Bewertung
- Tumordicke
- Extraokuläre Tumorausbreitung
- Zerebrale Mitbeteiligung (Infiltration des N. opticus, Metastasen oder selten trilaterales Retinoblastom)
- Befunde
- Raumforderung im Bulbus oculi, meist dorsal des Äquators
- T1-Wichtung: hyperintens; T2-Wichtung: meist hypointens
- KM-Anreicherung
- Bewertung
- CT: Raumforderung im Bulbus oculi, sehr häufig mit Verkalkungen
Genetische Diagnostik und Diagnostik bei Verwandten
- Humangenetische Beratung
- Genetische Untersuchung
- Ausschluss eines hereditären Retinoblastoms ist klinisch nicht möglich, erfordert i.d.R. Bestimmung der ursächlichen Mutation
- Mutationsanalyse
- Bei isoliert unilateralem Retinoblastom
- 1. Schritt: Mutationsanalyse der Tumor-DNA
- 2. Schritt: Ausschluss der im Tumor identifizierten Mutationen in der DNA von Blutzellen und damit Ausschluss eines hereditären Retinoblastoms
- Bei familiärem Retinoblastom oder isoliert bilateralem Retinoblastom
- Mutationsanalyse in Blutprobe des Indexpatienten und dessen Eltern
- Ggf. Mutationsanalyse in Tumor-DNA notwendig (bei isoliert bilateralem Retinoblastom)
- Bei Mutationsmosaiken i.d.R. weitere Untersuchungen (next generation sequencing)
- Bei isoliert unilateralem Retinoblastom
- Ophthalmoskopie und genetische Diagnostik bei Eltern und Geschwistern
- Bei bekannter familiärer Belastung: Vorsorgeuntersuchungen ab den ersten Lebenswochen
Weitere Diagnostik
- Weitere Bildgebung zur Metastasensuche
- Liquordiagnostik
- Knochenmarkspunktion
- Kontraindiziert: Biopsie oder Vorderkammerpunktion (Gefahr der Verschleppung von Tumorzellen) [5]
Differenzialdiagnosen
- Bei Leukokorie: Katarakt, Amotio retinae, persistierender hyperplastischer primärer Glaskörper, Morbus Coats, retinales Astrozytom, Toxocariasis, Retinopathia praematurorum
- Bei Strabismus: Primärer Strabismus
- Bei Rötung des Auges: Infektion
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Therapieziele
- Überleben
- Erhalt der Sehkraft
- Reduktion des Risikos von Zweitmalignomen
Therapeutisches Vorgehen
- Die Therapie des Retinoblastoms ist spezialisierten Zentren vorbehalten
- Multimodaler Therapieansatz
Intraokuläres Retinoblastom (IRSS 0)
- Fokale Therapien (Tumoren bis 4 mm Dicke ohne Glaskörperaussaat)
- Lasertherapie (bis <2 mm Dicke, posteriore Befunde)
- Kryotherapie (bis <2 mm Dicke, periphere Befunde)
- Thermochemotherapie (bis <4 mm Dicke)
- Lokale Erwärmung nach vorheriger systemischer Applikation von Carboplatin
-
Brachytherapie (bis <4 mm Dicke, nicht in Papillennähe)
- Anwendung von Ruthenium-106- oder Iod-125-Seeds, die episkleral aufgebracht werden
- Chemoreduktion mit fokaler Therapie
- Systemische Anwendung von Zytostatika zur Verringerung des Tumorvolumens
- Während und/oder nach der Chemoreduktion fokale Therapien (s.o)
- Teilweise auch lokale Chemotherapie
- Intraarterielle Melphalan-Therapie
- Perkutane Bestrahlung
- Indikation: Rezidive, ggf. auch bei Glaskörperaussaat
- Risiko für Zweitmalignome erhöht
Fortgeschrittenes Retinoblastom (IRSS I–IV)
- Enukleation
- Entfernung von Augapfel und Teilen des N. opticus
- Beim sporadischen einseitigen Retinoblastomen dauerhafte Heilung möglich
- Im Verlauf Augenprothese
- Adjuvante Chemotherapie
- Zytostatika (je drei Wirkstoffe in alternierenden Zyklen)
- Adjuvante perkutane Bestrahlung (Stadium II–IV)
In Ländern mit weniger entwickelten Gesundheitssystemen stehen fokale Therapien oft nicht zur Verfügung, weshalb dort die Enukleation häufig bereits bei umschriebenen intraokularen Befunden erfolgt.
Nachsorge
- Risiko für Retinoblastom-Rezidive (bei hereditärem Retinoblastom)
- Regelmäßige Ophthalmoskopie nach augenerhaltender Therapie bzw. beim bisher gesunden Auge
- Bei hereditärem Retinoblastom hohes Risiko für Zweitmalignome (kumulative Inzidenz über 40 Jahre: 32%) [6] und assoziierter Mortalität
- Häufige Zweitmalignome
- Sarkome (u.a. Osteosarkome , Leiomyosarkome)
- Melanome
- Bronchialkarzinom
- Hirntumoren
- Leukämien
- Risiko steigt auch durch Retinoblastom-Therapie
- Strahlentherapie: insb. Malignome der Periorbitalregion
- Chemotherapie: insb. Malignome außerhalb der Periorbitalregion
- Mögliche Langzeitfolgen müssen bei Therapieauswahl berücksichtigt werden
- Teilnahme an allgemeinen Krebsfrüherkennungsprogrammen
- Häufige Zweitmalignome
Prognose
- Bei früher Diagnose und Therapie gute Prognose, Letalität <5% [1]
- Metastasierte Retinoblastome mit schlechter Prognose
- Unbehandelt Letalität >99%
- Hohes Risiko für Zweitmalignome bei hereditärem Retinoblastom
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- C69.-: Bösartige Neubildung des Auges und der Augenanhangsgebilde
- Exklusive: Augenlid (-Haut) (C43.1, C44.1), Bindegewebe des Augenlides (C49.0), N. opticus (C72.3)
- C69.2: Retina
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.