Zusammenfassung
Bei der idiopathischen intrakraniellen Hypertension (IIH) liegt eine Erhöhung des Liquordrucks vor. Ein Hydrozephalus tritt dabei nicht auf. Die Ursachen sind teilweise noch unverstanden. Typischerweise sind von der Erkrankung übergewichtige Frauen im gebärfähigen Alter betroffen. Leitsymptome sind Kopfschmerzen und Sehstörungen. In der Spiegelung des Augenhintergrunds (Ophthalmoskopie) sieht der Untersucher eine meist beidseitige Schwellung der Austrittsstelle des Sehnerven aus dem Augapfel (Stauungspapille). Nach Ausschluss einer intrakraniellen Raumforderung mittels MRT erfolgt eine Lumbalpunktion in Seitlage, bei der ein erhöhter Liquordruck gemessen wird.
Ziel aller therapeutischen Verfahren ist die Senkung des Liquordrucks. Die konservative Therapie umfasst Maßnahmen zur Gewichtsreduktion sowie die Gabe von Acetazolamid. Regelmäßige Entlastungspunktionen können zur Drucksenkung nötig sein. Bei Therapieresistenz kommen interventionelle Verfahren wie die Anlage eines Liquorshunts zur dauerhaften Liquorableitung zur Anwendung.
Synonyme
- Pseudotumor cerebri
- Benigne intrakranielle Hypertension
Epidemiologie
- Inzidenz: Seltene Erkrankung (1/100.000 Einwohner pro Jahr)
- Geschlecht: Größtenteils Frauen
- Alter: Insbesondere zwischen 15. und 45. Lebensjahr
Die klassische Patientin mit idiopathischer intrakranieller Hypertension ist eine deutlich übergewichtige Frau im gebärfähigen Alter!
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Idiopathisch
- Abzugrenzen ist die sekundäre intrakranielle Hypertension (infolge bekannter oder vermuteter kausaler Ursache)
- Liquorabflussbehinderungen im Bereich der Granulationes arachnoidales (etwa nach Meningitiden) oder der venösen Gefäße (etwa nach Sinusvenenthrombose oder bei arteriovenösen Malformationen)
- Endokrinopathien
- Medikamente, z.B.:
- Keine erhöhte Inzidenz bei Schwangerschaft oder Einnahme oraler Kontrazeptiva
Pathophysiologie
- Theorie: Dysfunktion des Liquorresorptionsmechanismus mit erhöhtem Liquordruck, möglicherweise mit sekundärer Kompression der Sinus und venöse Abflussstörung
- Einordnung von metabolischen Einflussfaktoren (Krankheitsmanifestation nach schneller Gewichtszunahme) noch unklar
Symptomatik
- Leitsymptome
- Kopfschmerzen
- Sehstörungen infolge Stauungspapille (meist beidseitig)
- Visusminderung
- Kurzzeitige Verdunkelungen („Obskurationen“), bi- oder monookulär
- Gesichtsfeldausfälle
- Gelegentlich Übelkeit, selten Erbrechen
- Häufig pulsatiler Tinnitus
- Ggf. Hirnnervenausfälle, insb. Abduzensparesen → horizontale Doppelbilder
- Keine Bewusstseinsstörung
Differenzialdiagnosen
Von differenzialdiagnostischer Wichtigkeit sind insbesondere Erkrankungen, die auch mit einer Steigerung des Liquordrucks und Kopfschmerzen einhergehen können.
- Zerebrale Sinus- und Venenthrombose
- Intrakranielle Raumforderung
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Diagnostik
Klinisch-neurologische Diagnostik
- Häufig unauffälliger Neurostatus
- Fakultative Befunde
- Visustestung: Visusminderung
- Fingerperimetrie: Gesichtsfeldausfälle
- Hirnnervenausfälle: insb. Abduzensparesen mit horizontalen Doppelbildern
- Ophthalmoskopie: Stauungspapille, i.d.R. beidseits mit Vergrößerung des blinden Flecks in der Perimetrie
Zusatzdiagnostik
MRT des Kopfes
- Ziel
- Ausschluss einer intrakraniellen Raumforderung
- Ausschluss einer Sinusvenenthrombose (venöse MRA)
- Häufige Befunde (jeweils 50% der Fälle)
- Erweiterte Optikusscheiden
- Empty Sella
- Ggf. verengte Seitenventrikel
- Bei Kontraindikationen für MRT: Kontrastmittelgestütztes CT
Lumbalpunktion mit Liquordruckmessung
Lumbalpunktionen sind bei erhöhtem Hirndruck eigentlich kontraindiziert. Bei der idiopathischen intrakraniellen Hypertension werden sie allerdings sowohl diagnostisch (zur Druckmessung) als auch teilweise therapeutisch (zur Liquordrucksenkung) angewendet
- Voraussetzung: Idiopathische intrakranielle Hypertension mit Ausschluss einer intrakraniellen Raumforderung in der Bildgebung!
- Setting: Nur stationär
- Befund
- Erhöhter Liquordruck (in Seitlage): >250 mmH2O (entspricht 25 cmH2O bzw. etwa 18 mmHg)
- Symptomatik hinweisend auf Idiopathische intrakranielle Hypertension, aber Liquordruck bei Messung normal: Wiederholung der Messung an Folgetagen
- Liquorbefund sonst unauffällig
- Erhöhter Liquordruck (in Seitlage): >250 mmH2O (entspricht 25 cmH2O bzw. etwa 18 mmHg)
- Teilweise vorübergehende Symptombesserung durch diagnostische LP
Neuroophthalmologische Diagnostik
- Ophthalmoskopie: Häufig Stauungspapille beidseits
- Perimetrie: Ggf. Gesichtsfeldausfälle
- Ergänzend ggf. optische Kohärenztomografie (OCT)
Orbitasonografie
- Fakultative Untersuchung
- Messung des Optikusscheidendurchmessers
- B-Bild-Sonografie
- Durchmesser >5,8 mm zeigt akute oder chronische Hirndruckerhöhung >20 mmHg
- Messung 3 mm hinter Bulbus
- Niedrige Sendeenergie (mechanischer Index max. 0,3)
Diagnosekriterien
Zur Anwendung kommen vor allem die modifizierten Dandy-Kriterien bzw. die hinsichtlich der bildgebenden Diagnostik konkretisierten Kriterien von Friedmann & Jacobson.
Modifizierte Dandy-Kriterien
- Alle Kriterien müssen erfüllt sein
Kriterien | Beschreibung |
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1 |
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2 |
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3 |
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4 |
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5 |
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Diagnosekriterien nach Friedmann & Jacobson (2002)
- Alle Kriterien müssen erfüllt sein
Kriterien | Beschreibung |
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1 |
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2 |
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3 |
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4 |
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5 |
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6 |
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Diagnosekriterien des Kopfschmerzes bei idiopathischer intrakranieller Hypertension gemäß International Classification of Headache Disorders (ICHD-3)
Kriterien | Beschreibung |
---|---|
A | Alle Kopfschmerzen, die das Kriterium C erfüllen |
B | Eine idiopathische intrakranielle Hypertension wurde diagnostiziert, mit erhöhtem Liquordruck von >250 mmH2O (bestimmt durch Lumbalpunktion im Liegen ohne sedierende Medikamente oder durch epidurales oder intraventrikuläres Monitoring) |
C | Hinweise für Kausalität durch mind. zwei der folgenden Faktoren:
|
D | Nicht besser durch eine andere Diagnose aus der Klassifikation begründbar |
Therapie
- Therapieziel: Senkung des Liquordrucks zur Symptombesserung und Verhinderung irreversibler Schäden des N. opticus
Therapeutische Optionen
- Behandlung etwaiger Grunderkrankungen
- Absetzen eventuell auslösender Medikamente (siehe: Ätiologie)
- Gewichtsreduktion bei übergewichtigen Patienten (BMI >25 kg/m2)
- Bei Erfolglosigkeit der Diät, Adipositas permagna: Bariatrische Chirurgie im Einzelfall sinnvoll
- Pharmakotherapie
- Sämtliche Wirkstoffe sind Off-Label-Therapien
- Für Therapie in Schwangerschaft und Stillzeit siehe Abschnitt „Besondere Patientengruppen“
- Acetazolamid
- Regelmäßige Kontrolle von Serumelektrolyten, Leber- und Nierenwerten
- Cave: Risiko der metabolischen Azidose und (selten) einer aplastischen Anämie
- Im Verlauf Wirkungsabschwächung möglich
- Furosemid
- Zusätzlich zu Acetazolamid möglich bei unzureichender Liquordrucksenkung
- Regelmäßige Elektrolytkontrollen aufgrund häufiger Hypokaliämien
- Cave: Abfall des systolischen Blutdrucks mit Verstärkung des Papillenödems möglich
- Topiramat
- Bei Kontraindikationen/Unverträglichkeit von Acetazolamid
- Unter Therapie häufig Gewichtsabnahme
- Steroide (etwa Dexamethason)
- Im Einzelfall bei drohendem Visusverlust und Nicht-Ansprechen auf andere Pharmakotherapie
- Präoperative Maßnahme vor interventioneller Therapie
- Keine Langzeittherapie
- Symptomatisch bei Kopfschmerzen: Paracetamol p.o. oder Ibuprofen
- Wiederholte Lumbalpunktion
- Ablass von 20–30 ml Liquor täglich oder zweitäglich mit Liquordruckmessung
- Bei Liquordruckabfall <180 mmH2O: Abnahmeintervall verlängern
- Interventionelle Therapie
- Fensterung der Optikusscheide (ONSF, Optic nerve sheath fenestration)
- Indikation: Rasch progredienter Visusverlust
- Mikrochirurgische Dekompression durch Inzision der Optikusscheide → Liquorabfluss → Rückgang der Stauungspapille → Besserung der Sehstörung
- I.d.R. beidseitiger Eingriff notwendig
- Besserung der Sehstörungen
- Intrakranieller Druck und Kopfschmerzen werden häufig nicht wesentlich beeinflusst
- Interne Liquorableitung (Liquorshunt)
- Indikation
- Versagen wiederholter Liquorpunktionen und konservativer Therapie
- Unzureichender Effekt der ONSF
- Permanente Ableitung von Liquor aus dem Seitenventrikel in eine Körperhöhle
- Formen
- Siehe auch: Liquor-Shunt (für Komplikationen nach Shunt-Anlage)
- Indikation
- Endovaskuläre Stentangioplastie
- Indikation: Option bei venösen Abflussbehinderungen (etwa Sinusverengungen nach Sinusvenenthrombose) mit sekundärer idiopathischer intrakranieller Hypertension
- Nach Stenteinlage lebenslange Therapie mit Thrombozytenfunktionshemmern notwendig
- Fensterung der Optikusscheide (ONSF, Optic nerve sheath fenestration)
Therapeutisches Stufenschema
- Dringlichkeit der Maßnahmen orientiert sich am Papillenödem und am Vorliegen von Sehstörungen
- Individuelle Entscheidung über Vorgehen und therapeutische Optionen
- Verlaufskontrolle: Regelmäßige Perimetrie
Stufe 1 (leichte Stauungspapille)
- Gewichtsabnahme + Acetazolamid (ggf. zusätzlich Furosemid)
- Alternativ Topiramat
Stufe 2 (deutliche Stauungspapille, Sehstörungen)
- Zusätzlich zu Stufe 1: Wiederholte Lumbalpunktion
Stufe 3 (progrediente Sehstörungen)
- Zusätzlich zu Stufe 1 und 2: Interventionelles Verfahren nach Einzelfallentscheidung
Besondere Patientengruppen
Schwangerschaft [1]
- Interventionell
- Wiederholte therapeutische Lumbalpunktionen
- Als Eskalation bei Visusverschlechterung: Optikusscheidenfensterung (ONSF)
- Pharmakotherapie
- Absolute Kontraindikationen: Topiramat [2]
-
Relative Kontraindikationen
- Furosemid (strenge Indikationsstellung, nur Kurzzeittherapie) [3]
- Acetazolamid (nur bei fehlender bzw. unzureichender Wirksamkeit anderer Therapiemaßnahmen) [4]
- Symptomatische Schmerztherapie mit Paracetamol p.o. [5]
Stillzeit
- Pharmakotherapie
- Nur symptomatische Schmerztherapie mit Paracetamol p.o. oder Ibuprofen p.o. [5][6]
- Ggf. Abstillen erwägen, um medikamentöse Therapie zur Liquordrucksenkung zu ermöglichen
Prognose
- Gewichtsabnahme und konservative Therapie: Häufig guter Therapieerfolg
- Rezidive häufig, insbesondere nach erneuter Gewichtszunahme
- Durch die Stauungspapille bleibende Visusbeeinträchtigung möglich
- Unbehandelt: Progrediente Visusminderung bis zur Erblindung
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- G93.2: Benigne intrakranielle Hypertension (Pseudotumor cerebri)
- Exklusive: Hypertensive Enzephalopathie (I67.4)
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.