Zusammenfassung
Bei der malignen Hyperthermie (MH) handelt es sich um eine hereditäre Myopathie mit einer gestörten Calciumhomöostase der Skelettmuskulatur. Typischerweise verläuft sie subklinisch, d.h. im normalen Alltag der Betroffenen treten keine Symptome in Erscheinung. Unter einer Allgemeinanästhesie jedoch können bestimmte Triggersubstanzen (volatile Anästhetika und Succinylcholin) durch einen Anstieg der intrazellulären Calciumkonzentration eine MH-Krise auslösen. Diese äußert sich durch Kontraktionen der Skelettmuskulatur, eine hyperkatabole Stoffwechselentgleisung mit vermehrter CO2-Produktion und einen (meist zeitverzögerten) Temperaturanstieg. Unbehandelt kann sie in bis zu 80% der Fälle letal verlaufen. Für das perioperative Management bei Patienten mit MH-Disposition siehe auch: Anästhesie bei MH-Disposition.
Epidemiologie
- Prävalenz der genetischen Disposition: Gering, in Deutschland ca. 1:2.000–1:3.000 [1]
- Inzidenz schwerer MH-Krisen: Angaben schwanken zwischen 1:10.000 und 1:250.000 durchgeführten Allgemeinanästhesien [1]
Unauffällige Vornarkosen schließen eine Disposition zur malignen Hyperthermie nicht sicher aus!
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Voraussetzungen einer malignen Hyperthermie
- Ursache: Angeborener Gendefekt
- Funktionelle Veränderung von Ca2+-Kanälen im sarkoplasmatischen Retikulum (Dihydropyridin- und Ryanodinrezeptoren)
- Meist autosomal-dominant vererbte Mutation des Ryanodinrezeptors
- Auslöser: Zufuhr von Triggersubstanzen
- Assoziation: Zusammenhang mit anderen Muskelerkrankungen
- Erhöhtes Risiko für maligne Hyperthermie aufgrund gestörter neuromuskulärer Übertragung bei myotonen Syndromen und Myopathien
- Siehe auch: MH-Disposition: Mögliche und gesicherte Zusammenhänge
Es gibt zwei Voraussetzungen für das klinische Auftreten einer malignen Hyperthermie: Die genetische Disposition und die Zufuhr von Triggersubstanzen!
Triggersubstanzen einer malignen Hyperthermie
Eindeutige Triggersubstanzen
- Succinylcholin
- Volatile Anästhetika
- Desfluran, Sevofluran, Isofluran
- Enfluran, Halothan (nicht mehr im klinischen Gebrauch)
Kritische Wirkstoffe und Medikamente
- Koffein [2]
- Triggerpotenz: In vivo höchstwahrscheinlich keine
- Diagnostische Substanz für den In-vitro-Kontraktur-Test
- Experimentell vermehrte intrazelluläre Calciumfreisetzung im Muskel
- Ketamin
- Triggerpotenz: Keine
- Kritisch wegen unerwünschter Nebenwirkungen: Muskeltonus↑, Tachykardie
- Psychopharmaka
- Triggerpotenz: Nicht geklärt
- Kritisch wegen möglicher Auslösung eines malignen neuroleptischen Syndroms
- Kresole [3][4]
- Triggerpotenz: Nicht geklärt
- Konservierungsstoff in vielen Medikamenten
- Kokain [5]
- Triggerpotenz: Nicht nachgewiesen
- MH-ähnliche Symptome bei Intoxikation (Rhabdomyolyse, Tachykardie, Hyperthermie)
- Alkohol [6]
- Triggerpotenz: Nicht gesichert
- Fallberichte zur anästhesieunabhängigen Auslösung einer MH-Krise
- MDMA, Ecstasy [7]
- Triggerpotenz: Nicht gesichert
- Kritisch wegen möglicher Überschneidungen mit malignem neuroleptischen Syndrom und serotoninergem Syndrom
Für die oft schwierige Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern siehe auch: Maligne Hyperthermie - Differenzialdiagnosen!
Pathophysiologie
- Zufuhr einer Triggersubstanz bei vorhandener Disposition → Starke Zunahme des Calciums in der Skelettmuskelzelle
-
Intrazelluläre Calciumzunahme → Erhöhte Kontraktilität der Skelettmuskulatur
- Zum normalen Ablauf einer Kontraktion siehe: Elektromechanische Kopplung am Skelettmuskel
- Kontraktionen → Stark gesteigerter Stoffwechsel mit O2-Verbrauch↑ → Zunahme von Lactat durch anaerobe Glykolyse, gesteigerte CO2- und Wärmeproduktion
- Azidose und Calciumakkumulation → Entkopplung der oxidativen Phosphorylierung → Zusammenbruch der Energieversorgung der Zelle → Zelluntergang (bis hin zur Rhabdomyolyse)
- Zelluntergang → Hyperkaliämie, Anstieg von CK und Myoglobin
Die glatte Muskulatur und Herzmuskulatur sind nicht betroffen!
Symptomatik
Einteilung nach klinischer Symptomatik [1]
- Abortive Form: Nur ein oder wenige Symptome, geringe Ausprägung
- Moderate Form: Mehrere Symptome, moderate Ausprägung
- Fulminante MH-Krise: Volle Ausprägung zahlreicher Symptome, rascher Verlauf
Frühzeichen [1][8][9][10]
- Bei maschineller Beatmung: Kontinuierlicher Anstieg des endexspiratorischen CO2
- Bei Spontanatmung: Tachypnoe
- Tachykarde Herzrhythmusstörungen (meist ventrikuläre Arrhythmien)
- Hämodynamische Instabilität
- Generalisierte Muskelrigidität
- Masseterspasmus (Trismus), insb. direkt nach Gabe von Succinylcholin
- Temperaturanstieg
Bei der maschinellen Beatmung gilt der endexspiratorische CO2-Anstieg als spezifisches Frühzeichen einer MH-Krise! [10]
Spätzeichen [1]
- Hyperthermie
- Deutlich erhöhte Körperkerntemperatur (möglicherweise >42 °C)
- In Einzelfällen: Hyperthermie als einziges Symptom
- Respiratorisch: Sauerstoffsättigung↓, Zyanose
- Muskulär: Zeichen der Rhabdomyolyse
- Kardial: Schwerwiegende Herzrhythmusstörungen bis hin zum Herz-Kreislauf-Stillstand
- Sekundäre Organschädigungen, bspw.
- Akute Nierenschädigung
- Epileptischer Anfall oder andere neurologische Komplikationen
- Verbrauchskoagulopathie
- Pulmonale Komplikationen
Die Hyperthermie zählt i.d.R. zu den Spätzeichen der malignen Hyperthermie. Bei fulminanten Verläufen kann sie jedoch bereits frühzeitig auftreten!
Diagnostik
- Akutdiagnostik [1]
- Kapnometrie und Kapnografie: Anstieg der endexspiratorischen CO2-Konzentration
- Arterielle Blutgasanalyse und laborchemische Analyse
- Kombinierte respiratorische und metabolische Azidose
- Hyperkapnie, Hypoxämie
- Negativer Basenüberschuss
- Lactat↑
- Hyperkaliämie
- Kontinuierliches EKG-Monitoring: Herzrhythmusstörungen
- Kontinuierliche Temperaturmessung: Anstieg der Körperkerntemperatur
- Verlaufsdiagnostik (>4 h)
- Zeichen der Rhabdomyolyse
- Massive Erhöhung der CK
- Myoglobinämie, ggf. Myoglobinurie
- Ggf. Zeichen der DIC, siehe auch: Disseminierte intravasale Koagulopathie - Symptome/Klinik
- Zeichen der Rhabdomyolyse
- Diagnostik zur Früherkennung, bspw. mittels In-vitro-Kontraktur-Test (IVKT)
Bei Verdacht auf eine maligne Hyperthermie muss eine frühzeitige Entnahme von Blutproben erfolgen, sowohl zur Diagnosesicherung als auch zur Bewertung des Verlaufs! [1]
Differenzialdiagnosen
- Differenzialdiagnosen bei Anstieg des endexspiratorischen CO2 [11]
- Anlage eines Kapnoperitoneums bei laparoskopischen OPs
- Weichteilemphysem bei Kapnoperitoneum (CO2-Resorption↑ über Subkutangewebe) [12]
- Insuffiziente Einstellung der Beatmungsparameter (Hypoventilation)
- Fieber
- Hyperthyreose
- Gabe von Natriumbicarbonat
- Abnehmende oder zu geringe Narkosetiefe, Rückatmung
- Differenzialdiagnosen bei Hyperthermie (perioperativ oder im Rahmen einer Notfallnarkose)
- Meningitis, Enzephalitis
- Sepsis
- Fieberkrampf
- Addison-Krise
- Anticholinerges Syndrom, bspw. durch akzidentelle Vergiftung mit der Schwarzen Tollkirsche
- Intoxikation, siehe: Differenzialdiagnose Drogenintoxikation
- Perniziöse Katatonie
- Serotonerges Syndrom
- Malignes neuroleptisches Syndrom
- Thyreotoxische Krise
- Malignes L-Dopa-Entzugssyndrom
- Phäochromozytom
- Akute Krise bei Porphyrien, siehe: akute intermittierende Porphyrie
Die abzuwägenden Differenzialdiagnosen unterscheiden sich je nach Setting erheblich (intraoperatives, intensiv- oder notfallmedizinisches Auftreten)!
Gegenüberstellung der Symptomkonstellationen wichtiger Differenzialdiagnosen [13] | ||||
---|---|---|---|---|
Maligne Hyperthermie | Serotoninerges Syndrom | Malignes neuroleptisches Syndrom | ||
Symptome | Temperaturanstieg | ✓ | ✓ | ✓ |
Rigor | ✓ | ✓ | ✓ | |
Tachykardie | ✓ | ✓ | ✓ | |
Tachypnoe | ✓ | ✓ | ✓ | |
Hämodynamische Veränderungen | ✓ | ✓ | ✓ | |
Verhaltensänderung | (✓) | ✓ | ✓ | |
Bewusstseinsstörungen | (✓) | ✓ | ✓ | |
Kloni | — | ✓ | — | |
Tremor | — | ✓ | (✓) | |
Hyperreflexie | — | ✓ | — | |
Laborchemische Veränderungen | CK-Anstieg | ✓ | ✓ | ✓ |
Myoglobinurie | ✓ | ✓ | ✓ | |
Rhabdomyolyse | ✓ | ✓ | ✓ | |
Hyperkapnie | ✓ | ✓ | ✓ | |
Leukozytose | — | ✓ | ✓ | |
Weitere Merkmale | Rasche Progredienz | ✓ | ✓ | — |
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Sofortmaßnahmen [1][14]
- Zufuhr aller potenziellen Triggersubstanzen beenden!
- Keine erneute Gabe von Succinylcholin
- Bei volatilen Anästhetika
- Entfernen des Vaporizers vom Narkosegerät
- Umstellung auf totale intravenöse Anästhesie (bspw. mit Propofol und Opioiden)
- Notruf: Hilfe anfordern
- Modifikation der Beatmung
- Atemminutenvolumen auf das Drei- bis Vierfache steigern
- Beatmung mit FiO2 100% O2 und Frischgasfluss von 10 L/min
- Entscheidung über weiteres Vorgehen
- Frühzeitige Absprache mit chirurgischem Personal (noch vor Diagnosesicherung)
- Bei Auftreten von Symptomen vor Beginn einer elektiven OP: Eingriff verschieben
- Schnellstmögliche Beendigung der Operation
- Wenn erforderlich: Verwendung eines nicht-depolarisierenden Muskelrelaxans (z.B. Rocuronium)
- Gabe von Dantrolen [1][15]
- Zeitpunkt: Unverzüglich bei Verdacht und nach Ausschluss anderer Ursachen (ohne Abwarten einer Temperaturerhöhung!)
- Aufziehen von Dantrolen (möglichst durch 2. Person)
- Dosierungsbeispiel: Bei 70 kgKG und initialer Dosierung von 2,5 mg/kgKG werden 175 mg Dantrolen benötigt (entspricht ca. 9 Injektionsflaschen!)
- Wirkung
- Verhindert Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum der quergestreiften Muskulatur (Calciumfreisetzungs-Inhibitor)
- Vermindert die Muskelarbeit, wirkt gering muskelrelaxierend
- Kein Einfluss auf die Wiederaufnahme von Ca2+
- Wirkungsdauer ca. 5–8 h
- Zu beachten
- Gabe von Calciumantagonisten kontraindiziert bei Anwendung von Dantrolen [10]
- Wirkverstärkung bei gleichzeitiger Anwendung von Dantrolen und nicht-depolarisierenden Muskelrelaxanzien
- Extravasale Injektion dringend vermeiden (Gewebenekrosen!)
- Korrektur der metabolischen Azidose: Gabe von Natriumhydrogencarbonat oder TRIS-Puffer
- Therapie der Hyperkaliämie
- Forcierte Diurese mit gleichzeitiger Gabe von Volumen (isotonische Kochsalzlösung) und Schleifendiuretika
- Alternativ: Glucose-Insulin-Infusion
- Bei Therapieversagen: Ggf. Dialyse
- Für konkrete Handlungsanweisungen und Dosierungen siehe auch: Hyperkaliämie - AMBOSS-SOP
- Prävention einer akuten Nierenschädigung : Forcierte Diurese und Kreislaufstabilisierung
- Volumentherapie
- Ggf. Gabe von Schleifendiuretika
- Zielwert: Urinproduktion 1–2 mL/kgKG/h
- Kreislaufstabilisierung: Volumentherapie, Gabe von Katecholaminen und Inotropika
- Bei therapierefraktären Herzrhythmusstörungen
- Mittel der 1. Wahl: Amiodaron
- Alternativ bei tachykarden Herzrhythmusstörungen: Betablocker (Esmolol oder Metoprolol )
- Bei Reanimationspflichtigkeit: Siehe Reanimation - AMBOSS-SOP
Entscheidend für die Prognose ist die sofortige Gabe von Dantrolen! Unter adäquater Behandlung liegt die Letalität bei <10%, ohne angemessene Therapie dagegen bei ca. 80%! [1]
Erweiterte Maßnahmen [1]
- Frühzeitig
- Erweitertes hämodynamisches Monitoring (ZVK-Anlage, arterieller Zugang)
- Anlage eines Blasenkatheters zur Bilanzierung
- Engmaschige Laborkontrollen
- Temperaturmessung
- Postoperativ intensivmedizinische Therapie und Überwachung
- Low-Dose-Heparinisierung (Gefahr einer disseminierten intravasalen Gerinnung) [10]
- Regelmäßige Kontrolle der Gerinnungsparameter
- Fortführung der Therapie für mind. 24 h
- Maßnahmen zur Kühlung, bspw.
- Oberflächenkühlung
- Intravenöse Gabe von kalten Infusionen (bspw. auf 4 °C gekühlte balancierte Elektrolytlösung, alternativ NaCI 0,9%)
- Spülung mit Eiswasser
- Kühlsysteme, bspw. Kühlkatheter
- Zielwert: <38,5 °C
Sekundärprävention [1]
- Aufklärung des Patienten und seiner Blutsverwandten über die Veranlagung
- Überweisung zur weiteren Diagnostik an ein spezialisiertes Zentrum, siehe: In-vitro-Kontraktur-Test
Prävention
- Detektion von Risikopatienten und Diagnostik bei Verdacht
- Durchführung einer triggerfreien Narkose
- Kritische Wirkstoffe und Medikamente vermeiden
- Adäquate postoperative Überwachung
- Siehe: Anästhesie bei MH-Disposition
Meditricks
In Kooperation mit Meditricks bieten wir durchdachte Merkhilfen an, mit denen du dir relevante Fakten optimal einprägen kannst. Dabei handelt es sich um animierte Videos und Erkundungsbilder, die auf AMBOSS abgestimmt oder ergänzend sind. Die Inhalte liegen meist in Lang- und Kurzfassung vor, enthalten Basis- sowie Expertenwissen und teilweise auch ein Quiz sowie eine Kurzwiederholung. Eine Übersicht aller Inhalte findest du im Kapitel „Meditricks“. Meditricks gibt es in unterschiedlichen Paketen – für genauere Informationen empfehlen wir einen Besuch im Shop.
Dantrolen
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- T88.-: Sonstige Komplikationen bei chirurgischen Eingriffen und medizinischer Behandlung, anderenorts nicht klassifiziert
- T88.3: Maligne Hyperthermie durch Anästhesie
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.