Zusammenfassung
Die Neurochirurgie umfasst ein breites Spektrum an operativen und interventionellen Eingriffen zur Behandlung sowohl intra- als auch extrakranieller Pathologien. Um eine optimale anästhesiologische Betreuung zu gewährleisten, sind grundlegende Kenntnisse der Neuroanatomie bzw. Neurophysiologie ebenso unerlässlich wie eine enge Absprache mit der behandelnden Fachabteilung (insb. im Hinblick auf Art und Umfang des Eingriffs sowie auf die geplanten Lagerungs- und Behandlungsmaßnahmen).
Neurochirurgische Eingriffe werden typischerweise in Allgemeinanästhesie durchgeführt. Einen Sonderfall stellt in diesem Zusammenhang die sog. Wachkraniotomie für bestimmte intrakranielle Eingriffe dar, bei der das Bewusstsein der behandelten Person intermittierend oder durchgehend erhalten bleibt. Bei der Auswahl des Narkosemittels muss der wirkstoffspezifische Einfluss auf Hirndurchblutung, Hirnstoffwechsel und intrakraniellen Druck beachtet werden. Zur adäquaten intraoperativen Überwachung neurochirurgischer Patient:innen ist nicht selten ein erweitertes hämodynamisches Monitoring erforderlich. Kleinere Eingriffe wie bspw. die Anlage eines ventrikuloperitonealen Shunts oder die Entlastung eines chronischen subduralen Hämatoms können jedoch i.d.R. auch problemlos ohne arteriellen bzw. zentralvenösen Zugang durchgeführt werden.
Sowohl aus medikolegalen Gründen als auch zur Verlaufsbeurteilung ist die präoperative Erhebung und Dokumentation des neurologischen Status in der Neurochirurgie von besonderer Wichtigkeit. Um das neurologische Outcome zu verbessern, ist insb. bei intrakraniellen Eingriffen eine sorgfältige Aufrechterhaltung der Homöostase anzustreben. Die Notwendigkeit einer postoperativen Überwachung auf einer Intensiv- bzw. Intermediate-Care-Station muss individuell geprüft werden.
Anatomische und physiologische Grundlagen
Anatomische Grundlagen
Gehirn
- Makroanatomie
- Knöcherne Begrenzung durch Hirnschädel
- Siehe auch: Schädelgruben und Schädelbasis
- Gefäßversorgung des Gehirns
- Arterielle Versorgung über Aa. carotides internae (70%) und Aa. vertebrales / A. basilaris (30%) [1]
- Venöser Abfluss über durale Sinus in die V. jugularis interna
- Für weitere Grundlagen der Neuroanatomie siehe auch:
Rückenmark
- Makroanatomie
- Knöcherne Begrenzung durch Wirbelsäule bzw. Spinalkanal
- Gefäßversorgung des Rückenmarks
- Arterielle Versorgung über zwei stark anastomosierende Gefäßsysteme
- Horizontales System: A. radicularis anterior und A. radicularis posterior
- Vertikales System: A. spinalis anterior (ventral) und Aa. spinales posteriores (dorsal)
- Venöser Abfluss ebenfalls über zwei Gefäßsysteme
- Horizontales System: Vv. radiculares und Vv. intervertebrales
- Vertikales System: V. spinalis anterior und V. spinalis posterior
- Arterielle Versorgung über zwei stark anastomosierende Gefäßsysteme
Physiologische Grundlagen [1][2][3]
Hirndurchblutung
- Zerebraler Sauerstoffumsatz (CMRO2)
- Produkt aus zerebralem Blutfluss und arteriovenöser Sauerstoffdifferenz (CMRO2 = CBF × avDO2)
- Orientierender Normwert: 3–3,5 mL/min pro 100 g Hirngewebe bzw. 50 mL/min für das gesamte Gehirn
- Graue Substanz hat eine ca. 4-fach höhere CMRO2 als weiße Substanz
- Wert wird durch Körpertemperatur beeinflusst
- Zerebraler Blutfluss (CBF)
- Quotient aus zerebralem Perfusionsdruck und Gefäßwiderstand (CBF = CPP / CVR)
- Orientierender Normwert: 50 mL/min pro 100 g Hirngewebe
- Graue Substanz weist deutlich höheren CBF auf als weiße Substanz
- Wert wird durch Körpertemperatur beeinflusst
- Wert wird durch paCO2 beeinflusst (vaskuläre CO2-Reagibilität)
- Pathologische Grenzwerte
- Beginn einer zerebralen Ischämie bei CBF <30 mL/min pro 100 g Hirngewebe
- Isoelektrisches EEG bei CBF <10 mL/min pro 100 g Hirngewebe
- Rascher Zelluntergang bei CBF <6 mL/min pro 100 g Hirngewebe
- Neurovaskuläre Kopplung: (Regionale) Anpassung des CBF an den zerebralen Stoffwechsel [4][5]
- Zerebraler Perfusionsdruck (CPP)
- Differenz zwischen arteriellem Mitteldruck und intrakraniellem Druck (CPP = MAP - ICP)
- Orientierender Normwert: 70–100 mmHg [6][7][8]
- Im klinischen Alltag häufig genutzte Richt- und Steuerungsgröße der Hirndurchblutung
- Vorteil: Deutlich leichter zu bestimmen als der CBF
- Nachteil: Mögliche Fehlinterpretation durch Messungenauigkeiten oder Begleitpathologien
- Zerebrale Autoregulation
- Mechanismus zur Aufrechterhaltung eines konstanten CBF bei Schwankungen des CPP
- CPP↓ → Vasodilatation → CBF↑
- CPP↑ → Vasokonstriktion → CBF↓
- Regulation geschieht über Anpassung des Durchmessers der Hirngefäße [9]
- Orientierender Normbereich: Konstanter CBF gewährleistet bei MAP ca. 60–160 mmHg (bzw. bei CPP ca. 50–150 mmHg) unter physiologischen Bedingungen
- Bei unzureichend therapierter arterieller Hypertonie ist der Autoregulationsbereich in Richtung höherer Werte verschoben
- Mögliche Ursachen für eingeschränkte bzw. aufgehobene Autoregulation
- Intrakranielle Blutung oder Hirnödem
- Intrakranielle Hypertension
- Schädel-Hirn-Trauma
- Inhalationsanästhetika (bei hoher Dosierung)
- Mechanismus zur Aufrechterhaltung eines konstanten CBF bei Schwankungen des CPP
- Zerebraler Gefäßwiderstand (CVR): Ergibt sich nach dem Hagen-Poiseuille Gesetz aus Blutviskosität, Gefäßlänge und Gefäßdurchmesser
- Einflussfaktoren
- paCO2
- Beeinflussung des CVR in einem Bereich von 20–75 mmHg (vaskuläre CO2-Reagibilität)
- Mechanismus: Diffusion von CO2 über die Blut-Hirn-Schranke → Veränderung des pH-Wertes der perivaskulären extrazellulären Flüssigkeit sowie des Liquors
- paCO2↑ → pH↓ → Vasodilatation → CBF↑
- paCO2↓ → pH↑ → Vasokonstriktion → CBF↓
- paO2
- Unter physiologischen Bedingungen keine relevante Beeinflussung des CVR
- Bei Hypoxie (paO2 <50 mmHg) allerdings starke Vasodilatation → CBF↑
- Sehr hohe Werte können zu einer Vasokonstriktion führen → CBF↓
- paCO2
- Einflussfaktoren
- Zerebrales Blutvolumen (CBV)
- Blutmenge innerhalb des Hirnschädels
- Orientierender Normwert: 100–150 mL
Zum Erhalt der zerebralen Autoregulation sollte der arterielle Mitteldruck während einer Allgemeinanästhesie möglichst nicht mehr als 20(–25)% vom Ausgangswert abweichen!
Die Hirndurchblutung wird in einem relevanten Maße vom arteriellen CO2-Partialdruck (paCO2) beeinflusst!
Intrakranieller Druck (ICP) [10]
- Einflussfaktoren: Druckverhältnisse in den drei intrakraniellen Kompartimenten (siehe auch: Monro-Kellie-Doktrin)
- Orientierender Normwert: 5–15 mmHg
- Normwert ist abhängig von Lebensalter, Körperlage und Aktivität
- Siehe auch: Intrakranielle Druckerhöhung
- Pathologische Grenzwerte
Eine intrakranielle Druckerhöhung ist potenziell lebensbedrohlich! Anhaltende ICP-Werte >20 mmHg sollten unverzüglich therapiert werden!
Typische Eingriffe
Supratentorielle Tumorchirurgie [11]
- Beispielhafte Indikationen [12]
- Besonderheiten [12]
- Intraoperative Lagerung abhängig von genauer Tumorlokalisation
- Frontal, parietal oder temporal gelegene Tumoren: Bevorzugt Rücken- bzw. Halbseitenlagerung
- Okzipital gelegene Tumoren: Ggf. Bauch- bzw. Seitenlagerung oder (halb‑)sitzende Position erforderlich
- Durchführung ggf. als Wachkraniotomie
- Tumorspezifisch erhöhtes intraoperatives Blutungsrisiko
- Intraoperative Lagerung abhängig von genauer Tumorlokalisation
Infratentorielle Tumorchirurgie [13]
- Beispielhafte Indikationen
- Besonderheiten
- Lokalisationsbedingt häufig Bauch- bzw. Seitenlagerung oder (halb‑)sitzende Position erforderlich
- Begrenzte anatomische Platzverhältnisse in der hinteren Schädelgrube
- OP in unmittelbarer Nähe zum Hirnstamm
- Befundabhängig oft keine Extubation im OP-Saal möglich
Bei infratentoriellen Eingriffen sind die begrenzten anatomischen Platzverhältnisse in der hinteren Schädelgrube sowie die unmittelbare Nähe zum Hirnstamm zu beachten!
Hypophysenchirurgie [14]
- Beispielhafte Indikationen
- Besonderheiten
- Verschiedene Zugangswege möglich (abhängig von Größe und Lokalisation) [15][16]
- Ggf. Rachentamponade: Insb. bei transsphenoidalem Zugang sinnvoll
Bei hormonproduzierenden Hypophysenadenomen sind mögliche Folgeerscheinungen wie bspw. eine Akromegalie oder ein Morbus Cushing zu beachten!
Shuntanlagen [17]
- Beispielhafte Indikationen
- Besonderheiten
- Ventrikuloperitonealer Shunt (VPS) als Standardverfahren
- Vergleichsweise kurze und komplikationsarme Eingriffe
- Adäquate Narkosetiefe und Analgesie berücksichtigen
Operative Versorgung intrakranieller Blutungen
- Beispielhafte Indikationen
- Besonderheiten
- Meist Notfalleingriffe (außer beim chronischen subduralen Hämatom)
- Art und Umfang des Eingriffs abhängig von Lokalisation und Ausmaß der Blutung
- Bei entsprechender Vormedikation ggf. Antagonisierung der Antikoagulation erforderlich
- Möglicherweise kompromittierte Gerinnung bei SHT berücksichtigen
Eingriffe im Bereich der Wirbelsäule
- Beispielhafte Indikationen
- Bandscheibenprolaps
- Spinalkanalstenose
- Wirbelkörperfraktur [18]
- Wirbelsäulenmetastasen
- Spinales epidurales Hämatom
- Spinaler epiduraler Abszess
- Spondylose
- Besonderheiten
- Breites Spektrum (heterogene Patientengruppe, vielfältige Eingriffe )
- Typischerweise Bauchlagerung erforderlich
- Größerer Blutverlust möglich
- Intraoperativ ggf. neurophysiologisches Monitoring (bspw. SEP oder MEP) [19]
Je nach Verletzungshöhe kann es bei akutem traumatischen Querschnittsyndrom zu relevanten Störungen der Herz-Kreislauf- und Atemfunktion kommen!
Stereotaktische Eingriffe
- Beispielhafte Indikationen
- Biopsieentnahme, bspw. bei unklaren zerebralen Raumforderungen bzw. Läsionen
- Tiefe Hirnstimulation, bspw. bei Morbus Parkinson, essenziellem Tremor, Epilepsie, Dystonie [20]
- Besonderheiten
Interventionelle Neuroradiologie [21][22][23]
- Beispielhafte Indikationen
- Coiling bei zerebralem Aneurysma
- Thrombektomie bei zerebraler Thrombose bzw. Thromboembolie
- Embolisation bei arteriovenöser Malformation bzw. Fistel
- Stentimplantation bei intra- oder extrakranieller Stenose
- Besonderheiten
- Zugang zur behandelten Person in der Neuroradiologie häufig eingeschränkt
- Strahlenschutz streng beachten
- Teilweise sehr komplexe (lang andauernde) Interventionen mit Gefahr einer perioperativen Hypothermie
- Invasive Blutdruckmessung obligat
- Zu flache Narkose während der Intervention unbedingt vermeiden
- Bei Interventionen im Bereich des Sinus caroticus: Gefahr von Bradykardie bis Asystolie
- Allergische Reaktion auf Kontrastmittel möglich
Periphere Nervenchirurgie [24][25][26]
- Beispielhafte Indikationen
- Traumatische periphere Nervenläsionen
- Periphere Nerventumoren
- Besonderheiten
Präoperative Anamnese und Diagnostik
Allgemeine präoperative Einschätzung
- Für allgemeine Grundlagen der präoperativen anästhesiologischen Einschätzung siehe: Präoperative Evaluation und Aufklärung in der Anästhesiologie
- Für allgemeine Empfehlungen zur (erweiterten) präoperativen Diagnostik sowie zum Umgang mit einer vorbestehenden Dauermedikation siehe:
- Für die klinische Funktionsprüfung des Nervensystems siehe: Neurologische Untersuchung
Die Erhebung und Dokumentation des neurologischen Status ist bei neurochirurgischen Patient:innen von besonderer Wichtigkeit!
Spezielle präoperative Einschätzung [13]
- Kaudale Hirnnerven (IX–XII) und Kleinhirn: Mögliche Funktionsstörungen abklären
- Insb. bei Pathologien im Bereich der hinteren Schädelgrube relevant
- Bulbäre Symptomatik mit Schluck- und Sprechstörungen sowie zerebelläre Ataxie möglich
- Begünstigung einer Aspirationspneumonie durch Schluckstörungen
- Ggf. erschwerte Kommunikation aufgrund von Sprechstörungen
- Intrakranielle Raumforderung bzw. Hydrozephalus: Auf mögliche klinische Hirndruckzeichen achten
- Vigilanzminderung und pathologische Atmungsformen als deutliche Warnzeichen
- Ggf. bereits präoperativ Anlage einer externen Ventrikeldrainage erforderlich
- Wasser- und Elektrolythaushalt: Vorbestehende Störungen abklären und möglichst zeitnah ausgleichen
- Dehydratation und Elektrolytstörungen als häufige Komorbiditäten bei neurochirurgischen Patient:innen
- Verschlechterung vorbestehender Elektrolytstörungen durch Kontrastmittelgabe im Rahmen der Diagnostik möglich
- Eingriff mit geplanter (halb‑)sitzender Position
- Screening auf persistierendes Foramen ovale durchführen : Transösophageale Echokardiografie mit „Bubble-Test“ als Standardverfahren [27]
- Bei älteren Personen zusätzliche Bildgebung der HWS erwägen
- Pathologien bzw. Voroperationen im Bereich der HWS: Mögliche Auswirkungen auf Atemwegsmanagement und Lagerung beachten
Bei Eingriffen mit geplanter (halb‑)sitzender Position droht eine paradoxe Luftembolie im Falle eines persistierenden Foramen ovale! [13][27]
Anästhesiologische Besonderheiten
Allgemeine Hinweise [12][28]
- Medikamentöse Prämedikation: Nur bei normalem intrakraniellen Druck
- Erhöhte Empfindlichkeit auf zentral dämpfende Wirkstoffe bei Personen mit intrakraniellen Erkrankungen [2]
- Gefahr der Atemdepression mit Anstieg des paCO2 und konsekutiver Erhöhung des intrakraniellen Drucks [1]
- Aufrechterhaltung der Homöostase
- Mitentscheidend für neurologisches Outcome
- Intraoperative Zielwerte in der Neurochirurgie
- Normoxämie (paO2 >80 mmHg)
- Normokapnie (paCO2 35–38 mmHg)
- Normovolämie (Diurese >0,5 mL/kgKG/h, szvO2 >70%)
- Normotension (BDsys >100 mmHg, CPP 60–70 mmHg)
- Normothermie (Körpertemperatur 36,5–37,5°C)
- Normoglykämie (Blutzucker 80–180 mg/dL bzw. 4,4–10 mmol/L)
- Erhöhtes PONV-Risiko nach Kraniotomie [29][30]
Pharmakologische Besonderheiten [1][2]
Anforderungen an das „ideale Anästhetikum“
- Keine Beeinflussung von zerebraler Autoregulation und neurovaskulärer Kopplung
- Aufrechterhaltung des zerebralen Blutflusses bzw. des zerebralen Perfusionsdrucks
- Keine Steigerung des intrakraniellen Drucks
- Keine Senkung der epileptischen Anfallsschwelle
- Erhalt der Integrität der Blut-Hirn-Schranke
Wie ein Anästhetikum konkret auf das Gehirn wirkt, ist auch vom aktuellen zerebralen Metabolismus bzw. Gefäßtonus, der Fähigkeit zur zerebralen Autoregulation und der vorliegenden Pathologie abhängig!
Bei der Auswahl des Anästhetikums muss stets das substanzspezifische Nebenwirkungsprofil beachtet werden!
Injektionsanästhetika
- Propofol, Thiopental
- Zerebraler Sauerstoffumsatz (CMRO2)↓
- Zerebrale Vasokonstriktion → CBF, CBV und ICP↓
- Keine Beeinflussung von zerebraler Autoregulation und vaskulärer CO2-Reagibilität
- Gute anfallssuppressive Eigenschaften
- Nur geringfügige Beeinflussung der SEP/MEP-Messung durch Propofol
- Etomidat
- Im Wesentlichen identische Effekte wie Propofol und Thiopental
- Myoklonien bei Bolusgabe zur Narkoseeinleitung möglich
- Ketamin, Esketamin
- CBF und CBV↑
- CPP und ICP unter Normoventilation unverändert
- Keine Beeinflussung von zerebraler Autoregulation und vaskulärer CO2-Reagibilität
- Neuroprotektive und anfallssuppressive Eigenschaften [31][32]
- Keine Anwendung als Monoanästhetikum bei spontan atmenden Personen mit erhöhtem intrakraniellen Druck
Aufgrund der geringen Beeinflussung der SEP/MEP-Messung bietet sich bei geplantem neurophysiologischen Monitoring die Verwendung von Propofol zur Aufrechterhaltung der Narkose an! [33]
Inhalationsanästhetika
- Sevofluran, Desfluran, Isofluran
- Zerebraler Sauerstoffumsatz (CMRO2)↓
- Zerebrale Vasodilatation → CBF, CBV und ICP↑
- Bei hoher Dosierung: Beeinträchtigung der zerebralen Autoregulation
- Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke↑ [34][35]
- Lachgas
- CMRO2, CBV und ICP↑ möglich
- Anwendung bei erhöhtem intrakraniellen Druck oder schweren Kopfverletzungen kontraindiziert
Bei klinischen Zeichen einer intrakraniellen Druckerhöhung sollte auf den Einsatz von Inhalationsanästhetika verzichtet werden! [1]
Opioide
- Fentanyl, Alfentanil, Sufentanil, Remifentanil
- Keine oder nur geringe Beeinflussung von CMRO2 und CBF
- Keine Beeinflussung von zerebraler Autoregulation und vaskulärer CO2-Reagibilität
- Gabe auch bei erhöhtem intrakraniellen Druck möglich
Muskelrelaxanzien
- Nicht-depolarisierende Muskelrelaxanzien
- Keine direkte Beeinflussung der Hirndurchblutung bzw. des Hirnstoffwechsels
- Wirkung kann durch Wechselwirkung mit dauerhaft verabreichten Anfallssuppressiva abgeschwächt sein [36]
- Verzicht auf die Gabe einer Repetitionsdosis bei geplanter MEP-Messung
- Succinylcholin
- Kurzzeitig ICP↑ möglich
- Einsatz in der Neurochirurgie grundsätzlich möglich, aber nicht unumstritten [37]
- Bei erforderlicher RSI Verwendung von Rocuronium als sichere Alternative erwägen
Anästhesiologisches Management: Intrakranielle Eingriffe
Im Folgenden werden die grundlegenden Prinzipien des anästhesiologischen Managements bei intrakraniellen Eingriffen genannt. Bei der praktischen Umsetzung sind stets klinik- und patientenspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen!
Allgemeine Hinweise
- Allgemeinanästhesie als Standardverfahren bei intrakraniellen Eingriffen
- Großzügige Indikationsstellung zur Anlage eines arteriellen Katheters bereits vor der Narkoseeinleitung
- Erforderlichkeit für einen ZVK individuell prüfen
- Routinemäßige Ableitung eines 7-Kanal-EKG sinnvoll
- Eingriffsdauer (abhängig vom individuellen Befund) ca. 2–4 h
- Eingeschränkten Zugang zum Kopfbereich während des Eingriffs beachten
- Enge perioperative Absprache mit der behandelnden Fachabteilung wichtig
Narkoseeinleitung
- Atemwegssicherung: Endotracheale Intubation
- Blutdruckspitzen, Husten und Pressen möglichst vermeiden
- Intubation nur bei ausreichender Narkosetiefe und vollständiger Muskelrelaxierung
- Prophylaktische Gabe von Lidocain erwägen (Off-Label Use)
- Bei erhöhtem ICP oder nicht-nüchternen Personen: RSI
- Bei bekanntem schwierigen Atemweg: FOI
- Ausnahme: Geplante Wachkraniotomie
- Für die Durchführung siehe:
- Blutdruckspitzen, Husten und Pressen möglichst vermeiden
- Weitere Maßnahmen nach erfolgreicher Atemwegssicherung
- Anlage weiterer Gefäßzugänge und Vervollständigung des Monitorings
- Anlage einer Magensonde sowie eines Blasenkatheters
- Erneute Kontrolle der Tubusfixierung sowie sämtlicher Konnektionsstellen vor der sterilen Abdeckung, Augenschutz
- Dauertherapie von Glucocorticoiden fortführen (Gabe von Hydrocortison)
- Ggf. Ödemprophylaxe (Indikation und Dosierung stets mit der behandelnden Fachabteilung absprechen)
Narkoseführung
- Aufrechterhaltung der Narkose
- Typischerweise mittels TIVA (Propofol, Remifentanil)
- Bei normalem ICP: Grundsätzlich auch balancierte Anästhesie möglich
- Maschinelle Beatmung
- Standardmäßig Normoventilation anstreben (regelmäßige BGA-Kontrolle)
- Bei erhöhtem ICP kurzzeitige, leichte Hyperventilation erwägen
- Hyperkapnie und Hypoxämie unbedingt vermeiden
- Siehe auch: Grundeinstellungen des Beatmungsgerätes und Intraoperative Zielwerte in der Neurochirurgie
- Blutdruckmanagement
- Anbringen des Druckaufnehmers für die invasive Blutdruckmessung auf Höhe des äußeren Gehörgangs
- Größere Abweichungen vom Ausgangswert des arteriellen Mitteldrucks vermeiden
- Aufrechterhaltung eines adäquaten CPP anstreben (idealerweise 60–70 mmHg)
- Ggf. kurzzeitige Anhebung des Blutdrucks vor Duraverschluss zur Hämostasekontrolle (Durchführung immer nur auf Ansage) [39]
- Flüssigkeitsmanagement
- Normovolämie und ausgeglichene Flüssigkeitsbilanz anstreben
- Ersatz größerer Blutverluste durch kolloidale Infusionslösungen, EK und FFP
- Gabe hypotoner Infusionslösungen (bspw. Glucose-Lösung) kann zur Entstehung eines Hirnödems führen
- Kritische Momente
- Etablierung bzw. Aufhebung der intraoperativen Lagerung
- Einspannen des Kopfes in die Mayfield-Klemme
Bei intraoperativer Verwendung von Remifentanil ist auf eine rechtzeitige Gabe von Analgetika für die postoperative Phase (bspw. Metamizol und Piritramid) zu achten!
Narkoseausleitung
- Extubation
- Erfolgt typischerweise bereits im OP-Saal
- Wichtig für eine möglichst frühzeitige Beurteilbarkeit des neurologischen Status
- Voraussetzung: Präoperativ keine schweren Bewusstseinsstörungen vorhanden
- Durchführung
- Kontrollierte Ventilation bis zum Vorliegen einer ausreichenden Spontanatmung
- Blutdruckspitzen, Husten und Pressen möglichst vermeiden
- Nachbeatmung: Mögliche Gründe
- Ausgeprägte Vigilanzminderung vor dem Eingriff
- Schwerwiegende Komplikationen während des Eingriffs
- Hämodynamische und/oder respiratorische Instabilität
- Körpertemperatur <35 °C
- Risikofaktoren für postoperative intrakranielle Druckerhöhung vorhanden
- Siehe auch: Extubationskriterien
Sonderfall: Wachkraniotomie [40][41][42]
- Definition: Intrakranielle Chirurgie bei (intermittierend oder durchgehend) erhaltenem Bewusstsein
- Erfordert eine suffiziente kraniale Leitungsanästhesie bzw. Infiltrationsanästhesie des operierten Gebiets
- Sorgfältige Patientenauswahl und einfühlsame Patientenführung als weitere Grundvoraussetzungen
- Ziel: Direkte klinische Funktionsprüfung der operierten Hirnregion
- Mögliche Indikationen
- Tumorchirurgie
- Tiefe Hirnstimulation
- Epilepsiechirurgie
- Vaskuläre Neurochirurgie
- Durchführung: Verschiedene Techniken möglich
- Schlaf-Wach-Schlaf-Technik
- Allgemeinanästhesie zur Kraniotomie und Duraeröffnung
- Intraoperative Narkoseausleitung zur Lokalisation und Resektion der Läsion
- Erneute Allgemeinanästhesie zur Reimplantation des Knochendeckels und Wundverschluss
- Wach-Wach-Wach-Technik
- Kompletter Eingriff in (milder) Analgosedierung
- Optional zusätzliche Anwendung psychologischer Entspannungstechniken
- Schlaf-Wach-Schlaf-Technik
- Gefäßzugänge und Monitoring: Identisch zu intrakraniellen Eingriffen in Allgemeinanästhesie
- Mögliche Komplikationen bei intraoperativer Wachheit
- Epileptischer Anfall
- Erbrechen, Aspiration
- Agitation, Spontanbewegungen
Aufgrund der sterilen Abdeckung und der Einspannung des Kopfes in die Mayfield-Klemme kann die (geplante oder notfallmäßige) Atemwegssicherung während einer Wachkraniotomie erschwert sein!
Spezielle Risiken und Komplikationen
Intrakranielle Druckerhöhung [2]
- Mögliche Ursachen: In der Neurochirurgie insb. durch intrakranielle Raumforderungen bedingt
- Hirntumor, -ödem oder -abszess
- Intrakranielle Blutung
- Zunahme des Liquorvolumens
- Verstärkende bzw. auslösende Faktoren: Auch durch anästhesiologisches Management beeinflussbar
- Unzureichende Narkosetiefe
- Inadäquate Einstellung der Beatmungsgerätes
- Einsatz hirndrucksteigernder Wirkstoffe [37][43][44]
- Falsche Lagerung
- Hyperhydratation
- Für weitere Informationen siehe:
Luftembolie [1][2][28][45]
- Hintergrund
- Auftreten grundsätzlich bei allen Eingriffen mit Eröffnung intrakranieller Venen bzw. Sinus möglich
- Höchstes Risiko bei Eingriffen in (halb‑)sitzender Position
- Kleinere Luftembolien bleiben häufig klinisch unauffällig
- Gefahr der paradoxen Luftembolie bei persistierendem Foramen ovale
- Klinische Anzeichen
- paO2↓, paCO2↑, petCO2↓
- Blutdruckabfall, Reflextachykardie, ggf. Herzrhythmusstörungen
- Ggf. neu aufgetretenes Herzgeräusch bei Auskultation
- Bei wachen Personen: Husten, Dyspnoe, Brustschmerzen, Übelkeit
- Ggf. gestaute Halsvenen und zunehmende Blutung im OP-Bereich
- Diagnostik
- Transösophageale Echokardiografie (Goldstandard)
- Doppler-Sonografie des rechten Herzens („präkordialer Doppler“) [46]
- Symptomatische Therapie (je nach Schweregrad)
- OP-Team über das Vorliegen einer Luftembolie informieren
- Erhöhung der Sauerstoffzufuhr (FiO2 = 1,0) [2][45]
- Kreislaufstabilisierung
- Kausale Therapie
- Verhindern weiterer Luftembolien (weiteres Eindringen von Luft in das venöse System verhindern)
- Identifikation und Verschluss der Eintrittsstelle
- Ggf. Umlagerung (Rückenlagerung oder Kopftieflage)
- Ggf. beidseitige Kompression der Jugularvenen [46]
- Entfernung eingedrungener Luft aus rechtem Vorhof
- Zunächst Umlagerung auf die linke Seite (falls möglich)
- Anschließend Aspiration von Luft über den ZVK [27]
- Verhindern weiterer Luftembolien (weiteres Eindringen von Luft in das venöse System verhindern)
Lagerungsschäden [47][48]
- Hintergrund: Häufig vergleichsweise anspruchsvolle Lagerung erforderlich, bspw.
- Seitenlagerung oder (halb‑)sitzende Position für intrakranielle Eingriffe
- Bauchlagerung für Eingriffe im Bereich der Wirbelsäule
- Prävention
- Interdisziplinäre Zusammenarbeit des gesamten OP-Teams
- Etablierung klinikspezifischer Lagerungsstandards