Zusammenfassung
Beim anticholinergen Syndrom handelt es sich um einen Symptomkomplex, bei dem durch die Einnahme bzw. Überdosierung anticholinerg wirkender Stoffe im vegetativen Nervensystem ein relativer Mangel an cholinerger Transmission entsteht. Je nach den spezifischen Eigenschaften des aufgenommenen Stoffes (insbesondere der Fettlöslichkeit) resultiert aus der Blockade von Acetylcholinrezeptoren eine Mischung aus zentralnervösen neuropsychiatrischen (u.a. Vigilanzminderung) und peripher-anticholinergen (u.a. Tachykardie) Symptomen. Mit Physostigmin steht ein spezifisches Antidot zur Verfügung, das sowohl diagnostisch als auch therapeutisch eingesetzt wird.
Ätiologie
Eine Vielzahl von Substanzen/Substanzgruppen kann ein anticholinerges Syndrom auslösen, zu den häufigsten gehören:
- Medikamente [1][2][3]
- Anticholinergika: Bspw. Ipratropiumbromid, Tiotropiumbromid, Aclidiniumbromid, Glycopyrroniumbromid, Umeclidiniumbromid
- Antidepressiva: Insb. Trizyklika (bspw. Amitriptylin, Imipramin, Doxepin)
- Spasmolytika (urologisch, gastrointestinal): Bspw. Atropin, Butylscopolamin, Pirenzepin, Oxybutynin, Trospium, Tolterodin, Darifenacin, Fesoterodin, Solifenacin
- Sedativa: Bspw. Diphenhydramin, Doxylamin, Benzodiazepine
- Hypnotika, Anästhetika und Analgetika: Bspw. Propofol, Fentanyl, Inhalationsanästhetika [4]
- Antipsychotika
- Insb. typische Antipsychotika: Bspw. Promethazin, Levomepromazin
- Seltener auch einige atypische Antipsychotika: Bspw. Clozapin, Olanzapin, Quetiapin, Aripiprazol
- Antihistaminika
- H1-Antihistaminika der 1. Generation mit trizyklischer Struktur: Bspw. Dimetinden, Dimenhydrinat, Diphenhydramin
- H2-Antihistaminika: Bspw. Cimetidin, Ranitidin
- Antiparkinsonmittel: Bspw. Biperiden, Benzatropin, Metixen, Trihexyphenidyl
- Mydriatika: Bspw. Atropin, Homatropin, Cyclopentolat, Scopolamin, Tropicamid
- Weitere: Codein, Digitoxin, Digoxin, Dipyridamol, Furosemid, Nifedipin, Prednisolon, Theophyllin
- Drogen: Bspw. Opioide [5]
- Pflanzengifte: Insb. Atropin und Scopolamin in Pflanzen der Familie Solanaceae (bspw. Alraune , Engelstrompete , Bilsenkraut , Stechapfel und Tollkirsche ) [6]
Insbesondere ältere Patienten weisen oftmals bereits ein grundsätzliches cholinerges Defizit auf! Durch die Einnahme anticholinerg wirkender Substanzen steigt - gerade bei Polypharmazie oder zerebraler Vorschädigung - das Risiko für die Entwicklung eines anticholinergen Syndroms! [7][8]
Symptomatik
Je nach individueller Anamnese, eingenommener Substanz und Dosis besteht ein klinisches Kontinuum von leichten peripheren anticholinergen Syndromen bis hin zum Vollbild eines anticholinergen Delirs.
- Zentrale Symptome
- Komatöse Form: Psychomotorische Dämpfung, Vigilanzminderung
-
Delirante Form
- Agitation, Erregbarkeit
- Desorientierung
- Halluzinationen
- Angst
- Epileptische Anfälle
- Beide Formen
- Maximalvariante: Anticholinerges Delir
- Anticholinerges Syndrom mit:
- Ausgeprägten Symptomen eines Delirs: Insb. Störungen des Bewusstseins
- Ggf. kardiogenem Schock
- Anticholinerges Syndrom mit:
- Periphere Symptome
- Mydriasis, Akkommodationslähmung, Verengung des Kammerwinkels
- Mundtrockenheit durch Speichel- und Magensaftsekretion↓
- Paralytischer Ileus durch Verdauungsstörungen/Darmatonie
- Miktionsstörungen/Harnverhalt
- Trockene, heiße, gerötete Haut durch Schweißsekretion↓
- Tachykardie, AV-Überleitungszeit↓
- Vasokonstriktion
- Bronchodilatation, bronchiale Sekretion↓
„Feuerrot, glühend heiß, strohtrocken, total verrückt!“
Diagnostik
Zum allgemeinen Vorgehen bei akuten Vergiftungen siehe auch: Akute Intoxikationen - AMBOSS-SOP.
- Diagnostische Kriterien: Mind. ein zentrales und zwei periphere Symptome [1][9]
- Beim anticholinergen Delir zusätzlich: Erfüllung der Diagnosekriterien des Delirs
- Diagnosesicherung durch Physostigmin-Test [1][10]
- Prinzip: Probatorische Gabe von Physostigmin → Bei bestehendem anticholinergen Syndrom klinische/apparative Besserung (Test positiv)
- Anwendung
- Injektion von 0,03 mg/kgKG Physostigmin (als Kurzinfusion über 10 min, unter Monitorüberwachung)
- Nach 15–20 min: erneute Anamnese (soweit möglich), klinische Untersuchung und EKG-Aufzeichnung
- Bewertung des Tests als positiv bei Vorliegen von mind. einem der folgenden Phänomene
- Zunahme der Reaktivität anhand der Münchner Komaskala um mind. 1 Stufe
- Besserung/Normalisierung der sonstigen neuropsychiatrischen Symptomatik (bspw. Abnahme/Sistieren deliranten Verhaltens, Besserung/Sistieren von Orientierungsstörungen)
- Normalisierung einer Herzrhythmusstörung
- Rückbildung einer zuvor bestehenden Mydriasis
- Bei fehlendem Ansprechen oder bei Symptomrekurrenz nach zunächst positivem Test: Wiederholung der probatorischen Dosierung nach frühestens 15 min (nur bei fehlenden Zeichen einer cholinergen Überstimulation)
Differenzialdiagnosen
-
Intoxikation mit anderen Stoffen (siehe auch: Differenzialdiagnose Drogenintoxikation)
- Wichtige Intoxikations-Differenzialdiagnosen des anticholinergen Syndroms
- Wegweisender Hinweis
- Anticholinerges Syndrom: Trockene Haut
- Malignes neuroleptisches Syndrom, zentrales Serotonin-Syndrom oder Psychostimulanzien-Intoxikation: i.d.R. Schwitzen
- Entzugssymptomatik (Alkohol, Sedativa/Hypnotika)
- Psychose
- Nebenwirkungen fachgerecht eingenommener Arzneimittel (bspw. Opioid-Analgetika)
- Metabolische, infektiöse/entzündliche und strukturelle Ursachen für Vigilanzminderungen (bspw. Hypoglykämie, Sepsis, Hirntumor)
- Delir anderer Genese (siehe auch: Ursachenabklärung eines Delirs)
- Postoperative Unruhe/Somnolenz anderer Genese (siehe auch: Allgemeine postoperative Komplikationen)
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Zum allgemeinen Vorgehen bei akuten Vergiftungen siehe auch: Akute Intoxikationen - AMBOSS-SOP.
- Absetzen der auslösenden Substanz
- Gabe des passenden Antidots
- Supportive Maßnahmen
- Atemwegssicherung (siehe auch: Erstmaßnahmen zur Atemwegssicherung)
- Oxygenierung (siehe auch: Primary Survey (Erstuntersuchung und Grundversorgung) für „Breathing“)
- Kreislaufkontrolle
- Sedierung durch Benzodiazepine
- Gabe von Physostigmin [1][11]
- Zu beachten [12]
- Bei Überdosierung mit Physostigmin kann Atropin sowohl die zentralen als auch die peripheren Wirkungen antagonisieren
- Bei QRS-Verbreiterung ist Physostigmin kontraindiziert, bei Intoxikationen mit Trizyklika können Bradykardien auftreten
- Physostigmin ist kein „Koma-Antidot“ und nicht immer wirksam (Alkoholintoxikation/Alkoholentzug) bzw. nicht indiziert (Intoxikationen mit Benzodiazepinen oder Opioiden)
- Zu beachten [12]
- Ggf. weitere Maßnahmen abhängig vom Expositionspfad
Physostigmin ist bei QRS-Verbreiterung kontraindiziert, da es die Herzrhythmusstörungen verschlimmern kann und im schlimmsten Fall zum Herzstillstand führt!
Meditricks
In Kooperation mit Meditricks bieten wir durchdachte Merkhilfen an, mit denen du dir relevante Fakten optimal einprägen kannst. Dabei handelt es sich um animierte Videos und Erkundungsbilder, die auf AMBOSS abgestimmt oder ergänzend sind. Die Inhalte liegen meist in Lang- und Kurzfassung vor, enthalten Basis- sowie Expertenwissen und teilweise auch ein Quiz sowie eine Kurzwiederholung. Eine Übersicht aller Inhalte findest du im Kapitel „Meditricks“. Meditricks gibt es in unterschiedlichen Paketen – für genauere Informationen empfehlen wir einen Besuch im Shop.
Anticholinerges Syndrom
Atropin
Ipra- & Tiotropiumbromid
Inhaltliches Feedback zu den Meditricks-Videos bitte über den zugehörigen Feedback-Button einreichen (dieser erscheint beim Öffnen der Meditricks).
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- T44.- : Vergiftung durch primär auf das autonome Nervensystem wirkende Arzneimittel
- T44.3: Sonstige Parasympatholytika [Anticholinergika und Antimuskarinika] und Spasmolytika, andernorts nicht klassifiziert
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.