Zusammenfassung
Der Hirnabszess ist eine seltene infektiöse Erkrankung und entsteht aus einer lokal begrenzten Entzündung des Hirnparenchyms (Herdenzephalitis) durch Abkapselung. Ursächlich kann eine Vielzahl von Erregern sein. Meist handelt es sich um Bakterien; es können aber auch Infektionen mit Pilzen, Protozoen oder Würmern ätiologisch relevant sein. Die Erreger gelangen durch lokale Fortleitung (etwa bei Sinusitis oder Otitis), hämatogen (etwa bei infektiösen Endokarditiden) oder bei Traumata in das Hirnparenchym. Je nach Ort und Ausdehnung des Abszesses können Kopfschmerzen, Fieber und fokal-neurologische Defizite auftreten. Als typischer Befund zeigt sich in der Bildgebung des Kopfes durch die Abszesskapsel eine ringförmige Kontrastmittelanreicherung. Der Hirnabszess wird i.d.R. operativ und mittels antibiotischer Mehrfachkombination behandelt.
Epidemiologie
Ätiologie
Erreger [1]
- Bakterien: Aerob und anaerob (häufig als Mischinfektion), insb.
- Streptokokken, insb. Viridans streptococci (ca. 35–50%)
- Gramnegative Bakterien (ca. 15–30%), bspw.
- Obligate Anaerobier, bspw. Bacteroides (ca. 15–40%)
- Staphylokokken
- Staphylococcus aureus (ca. 10–15%)
- Koagulasenegative Staphylokokken (ca. 5–10%)
- Pilze, bspw.
- Cryptococcus neoformans
- Aspergillus spp.
- Candida spp.
- Protozoen, bspw.
- Würmer
Infektionswege
- Per continuitatem: Fortleitung bei Sinusitis, Otitis, Mastoiditis oder odontogenen Infektionen
- Hämatogen: Durch infizierte Thromben (z.B. infektiöse Endokarditis) oder im Rahmen der Ausbreitung einer Sepsis (z.B. aufgrund einer Pneumonie)
- Direkt/traumatisch: Durch offenes Schädelhirntrauma, bei neurochirurgischen Eingriffen
- Kryptogen
Prädisponierende Faktoren
- Pulmonale arteriovenöse Malformationen
- Akute infektiöse Endokarditis
- Immunsuppressive Therapien (insb. nach Transplantationen, dann häufig Pilzinfektionen)
- Immunsuppression infolge von Erkrankungen (insb. HIV-Infektion, dann häufig Abszesse infolge von Toxoplasma-gondii-Infektionen)
- Alkohol- und Drogenabusus [4]
Symptomatik
- Meist subakute Symptomatik (fulminante Verläufe sind möglich) [1]
- Kopfschmerzen (70%)
- Übelkeit oder Erbrechen (50%)
- Fieber (50 %)
- Epileptische Anfälle (25%)
- Papillenödem (als Zeichen der Hirndruckerhöhung)
- Meningismus
- Vigilanzminderung und fokal-neurologische Defizite , je nach Abszesslokalisation und Größe des perifokalen Ödems (30–60 %)
Die Symptomtrias aus Fieber, Kopfschmerzen und fokal-neurologischen Defiziten kommt nur bei 20% der Betroffenen vor.
Meist wird die Symptomatik durch die raumfordernde Wirkung des Abszesses bestimmt! Fieber tritt nur bei etwa der Hälfte der Patienten auf!
Diagnostik
Anamnese
- Eigen- und ggf. Fremdanamnese: Fokus auf
- Begleiterkrankungen
- Zurückliegende Infektionen (insb. im Kopfbereich)
- Zurückliegendes Schädel-Hirn-Trauma
- Reise- und Suchtanamnese
Bildgebung [1]
- cMRT oder cCT zur Differenzialdiagnostik, jeweils mit Kontrastmittel
- Befundlokalisation: I.d.R. supratentoriell, insb. im Frontal- und Parietallappen, subkortikal
MRT
- T1: Zentral hypointense Läsion (= Nekrose), iso- bis hyperintenser Rand (= Kapsel), ggf. hypointenses Perifokalödem
- T1 mit Kontrastmittel: Zentral hypointense Läsion (= Nekrose), die ringförmig Kontrastmittel aufnimmt (= Kapsel), häufig perifokale hypointense Bereiche (= perifokales Ödem)
- T2: Zentraler hyperintenser Bereich (= Nekrose) mit iso- oder hypointensem Rand (= Kapsel) und perifokalen hyperintensen Bereichen (= perifokales Ödem)
- DWI-Sequenz: Hyperintenses zentrales Areal (hypointens in ADC)
- Magnetresonanzspektroskopie (MRS): Ermöglicht Metabolitencharakterisierung innerhalb des Abszesses; unterschiedliche Peaks erlauben (eingeschränkt) differenzialdiagnostische Überlegungen zur Abszess-Ätiologie und zu anderen Befunden
CT
- Typischer Befund: Zentral hypodense (nekrotische) Läsion mit ringförmiger Kontrastmittelaufnahme, umgeben von hypodensem Ödem
Hirnabszess - Stadienabhängigkeit der CT-Bildgebung (in MRT ähnlich) | |
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Frühes Cerebritis-Stadium |
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Spätes Cerebritis-Stadium |
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Frühes Kapselstadium |
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Spätes Kapselstadium |
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Erregerdiagnostik [1]
- Durchführung vor Beginn der kalkulierten antibiotischen Therapie!
- Blutkulturen
- Rasche Gewinnung von Abszessinhalt (mittels Punktion, Drainage oder Exzision), anschließend Kultur und/oder PCR
Weitere Diagnostik [1]
- Serum
- CRP↑ (60–90% der Fälle)
- Leukozytose (ca. 60%)
- HIV-Test und Blutzuckertagesprofil
- Unklarer diagnostischer Stellenwert: Procalcitonin
- Liquor
- Keine Routinediagnostik, Befunde häufig unspezifisch
- Bei raumfordernden Läsionen: Lumbalpunktion kontraindiziert (Herniationsgefahr!)
- Ggf. sinnvoll zur Erregerdiagnostik bei Begleitmeningitis oder Abszessruptur ins Liquorsystem
- EEG: Ggf. Herdbefund
Fokussuche [1]
- Suche des infektiologischen Fokus, je nach klinischem Verdacht
- Abszess in Frontal- oder Temporallappen: Meist bei lokal fortgeleiteten Infektionen
- Multiple Abszesse: Meist nach hämatogener Ausbreitung entfernter Infektionen wie Endokarditis bzw. unter Immunsuppression
- Basisdiagnostik: Untersuchung von Mundhöhle, Rachen und Gehörgängen, HNO-ärztliche und ggf. zahnärztliche Vorstellung
- Bildgebung
- CT von Schädelbasis, Mittelohr, Nebenhöhlen und Mastoid
- Röntgen- oder CT-Thorax
- Echokardiografie
- Abdomensonografie
- Weitere fachspezifische Untersuchungen nach vermutetem Fokus
Pathologie
Hirnabszess - Entwicklungsstadien
- Frühe Cerebritis (ca. Tag 1–3 nach Infektion)
- Fokal vorgeschädigtes Hirnparenchym (etwa mikrovaskuläre Läsion) obligat für Abszessentwicklung
- Übertritt von Erregern (meist Bakterien) aus geschädigten Gefäßen ins Parenchym
- Akkumulation von neutrophilen Granulozyten mit lokaler Entzündung und Ödembildung, in geringerem Maße auch nekrotische Areale
- Späte Cerebritis (ca. Tag 4–9 nach Infektion)
- Ausdehnung des von neutrophilen Granulozyten und Makrophagen dominierten inflammatorischen Areals
- Entwicklung einer zentralen Nekrose
- Frühes Kapselstadium (ca. Tag 10–13 nach Infektion)
- Neovaskularisation
- Kollagenfasern: Ausbildung einer dünnen vaskularisierten Kapsel (in Bildgebung: KM-Aufnahme!)
- Spätes Kapselstadium (ca. 14 Tage nach Infektion)
- Typische Abszesskonfiguration mit
- Zentraler Nekrose
- Saum aus Granulationsgewebe
- Vaskularisierter Kapsel aus Fibroblasten und Kollagen
- Typische Abszesskonfiguration mit
Differenzialdiagnosen
Andere raumfordernde Prozesse mit ringförmiger KM-Anreicherung in der CT
- Hirnmetastasen oder hirneigene Tumoren (Glioblastom) mit zentraler Nekrose
- Strahlennekrose
- In Resorption befindliche intrakranielle Blutung
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Allgemein [1]
- Vorgehen
- I.d.R operative und medikamentöse Therapie
- Mitbehandlung des primären Infektionsfokus
- Indikation
- Alleinige medikamentöse Therapie
- Frühstadium ohne Abkapselung (Cerebritis)
- Multiple tief gelegene und/oder kleine Abszesse <2,5 cm (keine Raumforderung/Liquorabflussstörung)
- Zusätzliche operative Therapie
- Ventrikelnaher Abszess (CAVE: Perforationsgefahr!)
- Chirurgisch günstige Lage
- Ab einer Abszessgröße ≥ 2,5 cm
- Alleinige medikamentöse Therapie
Operative Therapie [1]
- Ziele
- Erregerdiagnostik
- Reduktion der Raumforderung
- Methoden
- Abszessaspiration
- Standardverfahren
- Stereotaktische Bohrlochtrepanation → Abszesspunktion und -aspiration
- Anlage einer Spüldrainage möglich
- Kraniotomie mit Abszessexzision
- Offene Operation mit Entfernung der Abszesskapsel
- Indikation
- Kontraindikationen
- Frühstadium ohne Abkapselung (Cerebritis)
- Multiple Abszesse
- Gefahr iatrogener Schädigung eloquenter Areale, der Basalganglien und des Hirnstamms
- Kraniotomie ohne Abszessexzision
- Offene Operation mit Evakuation des Abszesses
- Keine Entfernung der Abszesskapsel
- Vorgehen bei Empyem
- Aspiration zerebraler subduraler Empyeme
- Notfallindikation zur OP aufgrund drohender Ausbreitung
- Bohrlochtrepanation mit Aspiration
- Aspiration zerebraler epiduraler Empyeme
- Weniger dringlich als bei subduralen Empyemen aufgrund geringerer Ausbreitungstendenz
- Bohrlochtrepanation mit Aspiration
- Aspiration zerebraler subduraler Empyeme
- Abszessaspiration
Medikamentöse Therapie [1]
- Beginn: Möglichst nach
- Abszesspunktion mit Erregerdiagnostik (wenn Patient:in stabil!)oder
- Blutkultur, wenn Abszesspunktion nicht zeitnah (innerhalb weniger Stunden) durchführbar
- Vorgehen
- Initialphase: Kalkulierte Kombinationstherapie (mehrere Antibiotika, ggf. mit Antimykotikum)
- Bei ambulant und nosokomial/posttraumatisch erworbenem Abszess bspw. mit: Cephalosporin der 3. Generation (Ceftriaxon oder Cefotaxim), Metronidazol und Vancomycin
- Dosisangaben und weitere Therapieschemata
- Im Verlauf: Antibiotikatherapie nach Erregerdiagnostik und Resistenztestung
- Initialphase: Kalkulierte Kombinationstherapie (mehrere Antibiotika, ggf. mit Antimykotikum)
- Dauer: I.d.R. 4–8 Wochen
- Ggf. Spiegelkontrollen: Kontrolle des Talspiegels unmittelbar vor Gabe einer Einzeldosierung erforderlich bei
- Verlaufsbeurteilung: Mittels MRT
- Hinweisend auf Therapieerfolg: Abnahme der zentralen Läsion sowie der T2-Hypointensität der Kapsel
Hirnabszess ambulant erworben – Antibiotische Therapie
- Cephalosporin der 3. Generation
- Ceftriaxon
- oder Cefotaxim
- plus Metronidazol
- Ggf. plus „Staphylokokken-Antibiotikum“ (bei möglicher MRSA-Infektion)
- Vancomycin
- Alternativ: Linezolid
Hirnabszess nosokomial oder posttraumatisch erworben – Antibiotische Therapie
- Vancomycin
- plus Meropenem
- Alternativ
- Vancomycin
- plus Cephalosporin der 3. Generation
- Ceftriaxon
- oder Cefotaxim
- plus Metronidazol
- plus Cephalosporin der 3. Generation
Hirnabszess nach Organtransplantation oder Chemotherapie – Antibiotische Therapie
- Vancomycin
- plus Cephalosporin der 3. Generation
- Ceftriaxon
- oder Cefotaxim
- plus Metronidazol
- plus Cotrimoxazol
- plus Voriconazol
- Alternativ
- Vancomycin
- plus Meropenem
- plus Cotrimoxazol
- plus Voriconazol
Antimykotische Therapie von Hirnabszessen
- Aspergillus spp.: Voriconazol
- Candida spp. oder Cryptococcus spp.
- Amphotericin B
- plus Flucytosin (regelmäßige Kontrolle der Nierenfunktion, 2×/Woche Spiegelkontrollen)
- Therapiedauer
- Candida spp: Nach vollständiger Beschwerdefreiheit noch weitere 4 Wochen [5]
- Kryptokokkose: Mind. 6 Wochen plus anschließende Erhaltungstherapie mit Fluconazol
Therapie des Amöbenhirnabszesses [6]
Therapie von Komplikationen
- Perifokalödem
- Corticosteroide
- Indikationen
- Dexamethason
- Osmotherapeutika
- Corticosteroide
- Epileptische Anfälle
- Anfallssuppressiva Prophylaxe in Akutphase möglich, etwa mit Levetiracetam
- Bei Anfallsfreiheit und EEG ohne epilepsietypische Potenziale im Verlauf: Medikation ausschleichen
- Abszessruptur
- Behandlung der Ventrikulitis (erregerspezifische Therapie, externe Ventrikeldrainage bei Obstruktion)
- Hyponatriämie
- Therapie nach differenzialdiagnostischer Abgrenzung eines zerebralen Salzverlust-Syndroms vom Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH)
- Obstruktiver Hydrozephalus
Prognose
- Letalität: Ca. 10% [1]
- Verlauf
- >50 % der Betroffenen nach Jahren größtenteils neurologisch genesen
- Häufig persistierende neuropsychologische Defizite
- Prognostische Faktoren für schlechteres Outcome, bspw.
- Abszessruptur im Ventrikel
- Ausgeprägtes Hirnödem
- Entwicklung eines Hydrozephalus
- Multiple Abszesse
- Koma
- Papillenödem
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
G06.-: Intrakranielle und intraspinale Abszesse und Granulome
- G06.0: Intrakranieller Abszess und intrakranielles Granulom
- G06.1: Intraspinaler Abszess und intraspinales Granulom
- G06.2: Extraduraler und subduraler Abszess, nicht näher bezeichnet
G07*: Intrakranielle und intraspinale Abszesse und Granulome bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
- Inklusive
- Hirnabszess (durch): Amöben (A06.6†), Gonokokken (A54.8†), tuberkulös (A17.8†)
- Hirngranulom bei Schistosomiasis (B65.-†)
- Tuberkulom: Gehirn (A17.8†), Meningen (A17.1†)
Sonstiges
- A06.-: Amöbiasis
- A17.-†: Tuberkulose des Nervensystems
- A17.1†: Meningeales Tuberkulom (G07*)
- Tuberkulom der Meningen
- A17.8†: Sonstige Tuberkulose des Nervensystems
-
Tuberkulös:
- Hirnabszess (G07*)
- Meningoenzephalitis (G05.0*), Myelitis (G05.0*), Polyneuropathie (G63.0*), Tuberkulose/Tuberkulom in Gehirn (G07*), Tuberkulose/Tuberkulom in Rückenmark (G07*)
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Tuberkulös:
- A17.1†: Meningeales Tuberkulom (G07*)
- A54.-: Gonokokkeninfektion
- A54.8: Sonstige Gonokokkeninfektionen
- Hirnabszess† (G07*) durch Gonokokken
- Endokarditis† (I39.8*), Hautläsionen, Meningitis† (G01*), Myokarditis† (I41.0*), Perikarditis† (I32.0*), Peritonitis† (K67.1*), Pneumonie† (J17.0*), Sepsis (jeweils durch Gonokokken)
- Exklusive: Gonokokkenpelviperitonitis (A54.2)
- A54.8: Sonstige Gonokokkeninfektionen
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.