Zusammenfassung
Die akute Angina tonsillaris mit den Leitsymptomen Halsschmerzen und Schluckbeschwerden hat viele Differenzialdiagnosen und Sonderformen, die als Übersicht in der Sektion Differenzialdiagnosen der akuten Tonsillitis aufgelistet werden.
Im Folgenden werden einige dieser Krankheitsbilder ausführlicher abgehandelt und mit Diagnostik- und Therapieanweisungen versehen.
Angina agranulocytotica
Ätiologie
- Sonderform der akuten Tonsillitis
- Opportunistische Erreger
- Auftreten im Rahmen einer Agranulozytose (z.B. bei Immunsuppression, Therapie mit Metamizol/Thyreostatika, Leukämie)
Klinik
- Schmutzige Nekrosen und tiefe Ulzera der Gaumenmandel
- Starker Foetor ex ore
- Starkes Krankheitsgefühl und Fieber
- Keine Lymphknotenschwellung
Diagnostik
- Medikamentenanamnese
- Blutbild: Neutropenie <500/μL, keine Thrombopenie, keine Anämie
- Knochenmarkpunktion (bei diagnostischer Unklarheit): „Promyelozytenmark“ bei normaler Erythro- und Thrombopoese
Therapie: Antibiotikatherapie bei Angina agranulocytotica
Es sollten immer Breitbandantibiotika verwendet werden.
- Piperacillin/Tazobactam (z.B. Tazobac®)
- Darreichungsform: Nur intravenöse Applikation (Trockensubstanz zur Injektion)!
- Dosierungsempfehlungen
- Zugelassen ab 2 Jahre
- Kinder 2–12 Jahre
- Kinder ≥13 Jahre und Erwachsene
- Zu beachten
- Nicht anzuwenden bei Allergien gegen den Wirkstoff oder andere Bestandteile, Kreuzreaktion bei Allergie gegen Cephalosporine möglich
- Bei Niereninsuffizienz Dosisanpassung notwendig (s.o.)
- Penicillin der Wahl bei Pseudomonasinfektionen
- Hoher Natriumgehalt der Infusionslösungen
Eine Tonsillektomie ist bei der Angina agranulocytotica immer kontraindiziert!
Angina Plaut-Vincenti
Ätiologie und Epidemiologie
- Sonderform der akuten Tonsillitis
- Auftreten häufig bei jüngeren Männern
- Synergistische Mischinfektion mit
- Treponema vincentii und
- Fusobacterium nucleatum
Klinik
- Ausgeprägter Lokalbefund
- Meist einseitige ulzeröse Veränderung der Gaumenmandel mit Schluckbeschwerden
- Starker Foetor ex ore
- Geringe Allgemeinsymptomatik
Therapie
- Penicillin V (z.B. Infectocillin®; 1. Wahl) [1][2]
- Darreichungsformen
- Saft
- Trinktabletten
- Tabletten
- Dosierungsempfehlungen [3]
- Zugelassen ab dem Geburtsalter (nicht zugelassen für Frühgeborene)
- Kinder Geburt–11 Jahre
- Kinder ≥12 Jahre und Erwachsene
- Zu beachten
- Nicht anzuwenden bei Allergien gegen den Wirkstoff oder andere Bestandteile, Kreuzreaktion bei Allergie gegen Cephalosporine möglich
- Bis zu einer Kreatinin-Clearance von 30–15 mL/min ist bei einem Dosierungsintervall von 8 h keine Dosisanpassung erforderlich
- Darreichungsformen
- Amoxicillin/Clavulansäure (z.B. Amoxiclav®; alternativ) [2]
- Darreichungsformen
- Saft
- Tabletten
- Tropfen
- Trockensubstanz zur Infusion
- Dosierungsempfehlungen [3]
- Zugelassen ab dem Geburtsalter (nicht zugelassen für Frühgeborene)
- Kinder Geburt–<3 Monate
- Kinder ≥3–<12 Monate
- Kinder ≥1–11 Jahre
- Kinder ≥12 Jahre und Erwachsene
- Zu beachten
- Nicht anzuwenden bei Allergien gegen den Wirkstoff oder andere Bestandteile, Kreuzreaktion bei Allergie gegen Cephalosporine möglich
- Bei Hepatopathie Transaminasenkontrollen, bei Kreatinin-Clearance <30 mL/min Dosisanpassung erforderlich
- Darreichungsformen
Angina specifica
Ätiologie
- Sonderform der akuten Tonsillitis
- Erreger: Treponema pallidum
Klinik
- Stadium 1 = Primäre Syphilis
- Durch direkten Erregerkontakt
- Extragenitale Lokalisation: Lippe, Zunge, Wangenschleimhaut, Gaumen
- Nach einer Inkubationszeit von 2–3 Wochen: schmerzloses Ulkus und regionale Lymphknotenschwellung
- Nach weiteren 2–3 Wochen narbenlose Abheilung
- Stadium 2 = Sekundärstadium
- Nach einer Latenzzeit von 4–6 Monaten
- Generalisierte Haut- und Schleimhautveränderungen
- Im Bereich der Mundschleimhaut
- Plaques muqueuses
- Plaques opalines
- Schwellung und rote Verfärbung der Tonsillen und des Pharynx (Tonsillitis specifica)
- Spontanheilung der infektiösen Schleimhautveränderungen über Monate bis Jahre
- Nach einer Latenzzeit von 4–6 Monaten
- Stadium 3: Nach 3–10 Jahren: schmerzlose ausgestanzte Geschwüre, sog. Gummen
Während des Sekundärstadiums ist aufgrund der hochinfektiösen Mundschleimhautveränderungen eine Übertragung schon durch Speichel möglich!
Diagnostik
siehe: Diagnostik der Syphilis
Therapie
- Penicillin V (z.B. Infectocillin®) (1. Wahl)
- Darreichungsformen
- Saft
- Trinktabletten
- Tabletten
- Dosierungsempfehlungen [3]
- Zugelassen ab dem Geburtsalter (nicht zugelassen für Frühgeborene)
- Kinder Geburtsalter–<12 Jahre
- Kinder ≥12 Jahre und Erwachsene
- Zu beachten
- Nicht anzuwenden bei Allergien gegen den Wirkstoff oder andere Bestandteile, Kreuzreaktion bei Allergie gegen Cephalosporine möglich
- Bis zu einer Kreatinin-Clearance von 30–15 mL/min ist bei einem Dosierungsintervall von 8 h keine Dosisanpassung erforderlich
- Darreichungsformen
- Ciprofloxacin (z.B. Ciprobay®) (Alternativ)
- Darreichungsformen
- Saft
- Tabletten
- Infusionslösung
- Dosierungsempfehlungen [3]
- Eingeschränkt zugelassen ab dem Geburtsalter (nicht zugelassen für Frühgeborene)
- Orale Applikation
- Kinder Geburtsalter–<12 Jahre
- Kinder ≥12 Jahre und Erwachsene
- Intravenöse Applikation
- Kinder Geburtsalter–<12 Jahre
- Kinder ≥12 Jahre und Erwachsene
- Orale Applikation
- Eingeschränkt zugelassen ab dem Geburtsalter (nicht zugelassen für Frühgeborene)
- Zu beachten [3][4]
- Nicht anzuwenden bei Allergien gegen die Wirkstoffe oder andere Bestandteile, Hepatopathie oder Kreatinin-Clearance <10 mL/min, Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase-Mangel
- Bei Kreatinin-Clearance <30 mL/min ist eine Dosisanpassung erforderlich
- Strenge Indikationsstellung bei
- Epilepsie (Senkung der Anfallsschwelle, möglichst nicht zeitgleich mit NSAID anwenden)
- Sehnenerkrankungen (Tendinitisrisiko)
- Herzerkrankungen (QT-Verlängerung)
- Geringes Risiko für irreversible Arthropathien und Tendopathien nicht ganz auszuschließen
- Unter den Fluorchinolonen das am besten untersuchte zur Behandlung im Kindes- und Jugendalter
- Darreichungsformen
Angina Ludovici
- Angina Ludovici = Mundbodenphlegmone (ohne Zusammenhang mit den Gaumenmandeln), meist im Anschluss an Stomatitis, Karies, Infekt der oberen Atemwege oder Zungengrundtonsillitis
Ätiologie
- Auftreten meist im Anschluss an eine Stomatitis, Karies, einen Infekt der oberen Atemwege oder eine Zungengrundtonsillitis
- Erreger
Klinik
- Mundbodenphlegmone und ggf. -abszess
- Schluckbeschwerden und Kieferklemme
- Schwellung und Bewegungseinschränkung der Zunge mit Sprechstörung
- Starkes Krankheitsgefühl mit Fieber
Diagnostik
- Erregerabstrich vor Antibiotikatherapie
- Sonografie
- Ggf. CT
Therapie
Initial sollte eine hochdosierte i.v. Antibiotikatherapie erfolgen. Im Verlauf kann die antibiotische Therapie je nach Klinik oralisiert werden.
- Amoxicillin/Clavulansäure (z.B. Amoxiclav®)
- Darreichungsformen
- Saft
- Tabletten
- Tropfen
- Trockensubstanz zur Infusion
- Dosierungsempfehlungen [3]
- Zugelassen ab dem Geburtsalter (nicht zugelassen für Frühgeborene)
- Kinder Geburt–<3 Monate
- Kinder ≥3–<12 Monate
- Kinder ≥1–11 Jahre
- Kinder ≥12 Jahre und Erwachsene
- Zu beachten
- Nicht anzuwenden bei Allergien gegen den Wirkstoff oder andere Bestandteile, Kreuzreaktion bei Allergie gegen Cephalosporine möglich
- Bei Hepatopathie Transaminasenkontrollen, bei Kreatinin-Clearance <30 mL/min Dosisanpassung erforderlich
- Darreichungsformen
- Clindamycin (z.B. Sobelin®) [3]
- Darreichungsformen
- Saft
- Tabletten
- Injektionslösung
- Dosierungsempfehlungen
- Zugelassen ab dem Alter von 1 Mon.
- Orale Applikation
- Kinder 1 Mon.–12 Jahre
- Kinder ≥13 Jahre und Erwachsene
- Intravenöse Applikation
- Kinder 1 Monat–12 Jahre
- Kinder ≥13 Jahre und Erwachsene
- Zu beachten
- Medikament der 2. Wahl zu Amoxicillin/Clavulansäure bei der Behandlung der Angina Ludovici
- Gut wirksam gegen grampositive Keime und Anaerobier
- Bei i.v. Applikation
- Keine parenterale Gabe bei jungen Säuglingen (enthält Benzylalkohol)
- Keine unverdünnte Applikation
- Kein Mischen mit Ampicillin, Elektrolyten, Barbituraten oder Phenytoin
- Nicht zu schnell injizieren (Blutdruckabfall!)
- Bei schwerer Leber- oder Niereninsuffizienz Überwachung der Plasmaspiegel und ggf. Dosisreduktion oder alternativ verlängertes Dosierungsintervall von 8–12 h
- Nicht anzuwenden bei Allergien gegen den Wirkstoff oder andere Bestandteile, bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen oder neuromuskulären Erkrankungen (z.B. Myasthenie)
- Darreichungsformen
Lokale antiseptische Therapie
- Chlorhexidin
- Darreichungsformen
- Lösung
- Spray
- Direkt-Gel
- Gel
- Dosierungsempfehlungen
- Zugelassen ab 12 Jahre
- Kinder ≥12 Jahre und Erwachsene
- Lösung
- Spray
- Direkt-Gel
- Gel
- Darreichungsformen
Weitere Maßnahmen
- Analgesie
- i.v. Flüssigkeitsgabe
- Ggf. parenterale Ernährung
- Mundhygiene
- Kühlen
- Drainage bei Abszess
Komplikationen
- Ersticken durch ausgeprägte Schwellung
- Mediastinitis durch Absenkung des Abszesses
Meldepflicht
Gemäß dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) besteht keine bundesweite Meldepflicht für die Sonderformen der Tonsillitis. Es gibt jedoch eine amtliche Meldepflicht für einige Situationen und Erreger.
- Arztmeldepflicht
- Nach § 6 IfSG: Namentliche Meldepflicht beim Auftreten von ≥2 gleichartigen Erkrankungen, bei denen „ein epidemischer Zusammenhang wahrscheinlich ist oder vermutet wird“ und eine „schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit besteht“
- Nach IfSGMeldeVO (nur in Sachsen ):
- Namentliche Meldepflicht bei Erkrankungs- und Todesfällen aufgrund konnataler (angeborener) Infektionen durch Treponema pallidum
- Nach IfSGMeldeVO und ThürIfKrMVO (nur in Sachsen und Thüringen ): Namentliche Meldepflicht bei Erkrankungs- und Todesfällen durch β-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A
- Labormeldepflicht
- Nach ThürIfKrMVO (nur in Thüringen ): Namentliche Meldepflicht bei Erregernachweis von β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A, auch bei asymptomatischen Keimträgern
- Nach IfSGMeldeVO (nur in Sachsen ): Nicht-namentliche Meldepflicht bei Erregernachweis von Treponema pallidum, der auf eine akute Infektion hinweist
- Meldepflicht für Leiter von Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 und § 34 IfSG
- Namentliche Meldepflicht von allen Infektionen, bei denen die Gefahr der Verbreitung besteht (§ 34 (6) IfSG)
- Namentliche Meldepflicht bei Verdachts- und Krankheitsfällen von Scharlach, sonstigen Streptococcus-pyogenes-Infektionen (§ 34 (1) IfSG)
- Namentliche Meldepflicht bei Auftreten von ≥2 gleichartigen, schwerwiegenden Erkrankungen, wenn als deren Ursache Krankheitserreger wahrscheinlich sind (§ 34 (6) IfSG)
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
Tonsillitis-Sonderformen
- D70.-: Agranulozytose und Neutropenie
- Inklusive: Angina agranulocytotica
- Exklusive: Transitorische Neutropenie beim Neugeborenen (P61.5)
- A69.-: Sonstige Spirochäteninfektionen
- A69.1: Sonstige Fusospirochätosen
- Nekrotisierend-ulzerös (akut): Gingivitis, Gingivostomatitis
- Pharyngitis durch Fusospirochäten
- Plaut-Vincent-Angina, Plaut-Vincent-Gingivitis
- Spirochäten-Stomatitis
- A69.1: Sonstige Fusospirochätosen
- A51.-: Frühsyphilis
- A51.2: Primäraffekt bei Syphilis, sonstige Lokalisationen
- Tonsillenlues im Primärstadium
- A51.3: Sekundäre Syphilis der Haut und der Schleimhäute
- Condyloma latum
- Syphilitisch: Alopezie† (L99.8*), Leukoderm† (L99.8*), Schleimhautpapeln [Plaques muqueuses]
- Sekundäre Lues der Tonsillen
- A51.2: Primäraffekt bei Syphilis, sonstige Lokalisationen
- A52.-: Spätsyphilis
- A52.7: Sonstige floride Spätsyphilis
- Glomeruläre Krankheit bei Syphilis† (N08.0*)
- Gumma (syphilitisch), Syphilis, Spät- oder tertiäre
- Spätsyphilitisch: Augenkrankheit, anderenorts nicht klassifiziert† (H58.8*), Bursitis† (M73.1-*), Chorioretinitis† (H32.0*), Entzündung im weiblichen Becken† (N74.2*), Episkleritis† (H19.0*), Leukoderm† (L99.8*), Peritonitis† (K67.2*)
-
Syphilis [nicht näher bezeichnetes Stadium]:
- Knochen† (M90.2-*), Leber† (K77.0*), Muskel† (M63.0-*), Synovialmembran† (M68.0-*)
- Lunge† (J99.8*)
- Tonsillenlues
- A52.7: Sonstige floride Spätsyphilis
Mundbodenphlegmone
- K12.-: Stomatitis und verwandte Krankheiten
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.