Zusammenfassung
Ein Hörsturz ist eine plötzlich einsetzende, schmerzlose, einseitige Innenohrschwerhörigkeit ohne erkennbare Ursache (idiopathisch), die häufig mit Tinnitus und gelegentlich auch mit Schwindel einhergeht. In seltenen Fällen kommt eine beidseitige Hörminderung vor. Eine medikamentöse Therapie mit systemischen oder intratympanalen Glucocorticoiden sollte zeitnah erfolgen. Sowohl Spontanheilungen als auch Rezidive sind möglich. Das Auftreten von vestibulären Symptomen gilt als prognostisch ungünstig.
Definition
- Hörsturz: Plötzliche, i.d.R. einseitige Schallempfindungsschwerhörigkeit kochleärer Genese und unterschiedlichen Schweregrads bis hin zur Ertaubung, ggf. mit Schwindel und/oder Ohrgeräuschen [1]
Epidemiologie
- Inzidenz: 160–400/100.000 pro Jahr, Tendenz steigend
- Häufigkeitsgipfel
- 50–60 Jahre, Inzidenz abnehmend mit jüngerem Lebensalter (bei Kindern selten)
- Jahreszeitliche Erkrankungsgipfel: März, Oktober [2]
- Geschlecht: ♂ = ♀
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Klassifikation
Grad der Schwerhörigkeit [3]
Grad | Hörschwelle |
---|---|
Geringgradige Schwerhörigkeit | 20–40 dB |
Mittelgradige Schwerhörigkeit | 40–70 dB |
Hochgradige Schwerhörigkeit | 70–95 dB |
Ertaubung | >95 dB |
Formen des Hörverlusts [2]
Formen des Hörverlusts | Häufigkeit |
---|---|
Isoliert (in bestimmten Frequenzbereichen) | |
| 35% |
| 5% |
| 50% |
Pankochleär (über alle Frequenzen) | 10% |
Symptomatik
- Leitsymptom: Plötzliche einseitige, schmerzlose Innenohrschwerhörigkeit ohne erkennbare Ursache
- Druckgefühl oder Gefühl von Watte im Ohr
- Pelziges Gefühl im Bereich um die Ohrmuschel
- Ggf. zusätzlich
Diagnostik
Erstmaßnahmen
- Anamnese
- Hörminderung seit wann? Ein-oder beidseitig? Ohrgeräusch? Schwindel?
-
HNO- und Allgemeinerkrankungen
- In Abhängigkeit von der vermuteten Ursache: HWS-Problematik bekannt? Hirninfarkt oder Hirnblutung in der Vorgeschichte?
- Medikamente: Insb. ototoxische Medikamente?
- Stress?
- HNO-Untersuchung mit Fokus auf Otoskopie: Bei Hörsturz reizloses, intaktes Trommelfell
- Im Rahmen der Untersuchung: Ausschluss anderer Ursachen für eine plötzliche einseitige Hörminderung
- Zur weiteren Abklärung sollte eine apparative Diagnostik erfolgen (s.u.)
- Bei fehlender Möglichkeit einer HNO-Konsultation: Nach Anamnese und erster Untersuchung (Ohrmikroskopie, orientierende Hörprüfung, Stimmgabel mit Weber-Versuch und Rinne-Versuch) kann ggf. direkt die Therapie erfolgen
- Siehe: Therapie bei Hörsturz
Apparative Diagnostik
- Basisdiagnostik
- Tonschwellenaudiogramm: Meist einseitige Innenohrschwerhörigkeit
- Tympanometrie: Normalbefund, also beidseits gipflig
- Bei gleichzeitigem Tinnitus
- Tinnitusbestimmung: Ggf. Nachweis eines subjektiven Tinnitus
- Prüfung der Tinnitusverdeckbarkeit
- Bei komplizierten Fällen (z.B. bei Ertaubung, ggf. mit Schwindel und Tinnitus oder bei V.a. eine Perilymphfistel)
- Ggf. Tympanoskopie und Abdeckung der Rundfenstermembran mit einem Prednisolon-getränkten resorbierbaren Wundschwämmchen (bspw. Gelita®)
Ursachenabklärung
- Zeitpunkt: Parallel zur Therapie
- Labor: Entzündungszeichen und kardiovaskuläres Risikoprofil
- Cholesterin, ggf. Triglyceride, LDL und HDL
- Differenzialblutbild, CRP (ggf. Procalcitonin), BSG, Retentionsparameter [1]
- Serologie: Zum Ausschluss infektiöser Ursachen
- Herpesviren (HSV, VZV), Influenza- und Adenoviren, Masernvirus, Mumpsvirus, Borrelien, ggf. Lues, ggf. HIV
- Doppler-Sonografie der Hals- und Intervertebralgefäße: Zum Ausschluss von Durchblutungsstörungen
- Interdisziplinäre Vorstellungen: Zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen
- Überweisung Innere Medizin
- Überweisung Orthopädie
- Überweisung Neurologie
Verlaufsuntersuchungen
- Zeitpunkt: Bis auf die Audiogramme sollten alle unter diesem Punkt aufgeführten Untersuchungen wegen der zusätzlichen Lärmbelastung frühestens eine Woche nach akutem Hörsturz erfolgen.
- Verlaufskontrolle der Hörminderung
- Kontrollaudiogramm
- Sprachaudiogramm: Je nach Ausprägung der Schallempfindungsschwerhörigkeit eingeschränktes Sprachverständnis
- Weitere Ursachenabklärung
- Objektive audiometrische Verfahren
- Otoakustische Emissionen
- Objektive Messung der Haarzellfunktion: Ausfall auf der betroffenen Seite
- BERA: Bei Erwachsenen zur Differenzialdiagnostik des Akustikusneurinoms eingesetzt [4]
- Otoakustische Emissionen
- MRT Kopf: Immer bei auffälliger BERA!
- Ausschluss eines Akustikusneurinoms oder anderer intrakranieller Raumforderungen/Ursachen
- Ggf. Messung der Stapediusreflexe [4]
- Objektive audiometrische Verfahren
Zusätzliche Diagnostik bei Schwindel
- Untersuchung mit der Frenzel-Brille
- (v)KIT = (videobasierter) Kopfimpulstest
- Patient wird gebeten, einen festen Punkt (z.B die Nase des Untersuchers) zu fixieren
- Untersucher nimmt den Kopf des Patienten in beide Hände und dreht diesen rasch jeweils ca. 30° nach rechts und links
- Normalerweise wird die Drehung sofort durch eine Augenbewegung ausgeglichen
- Bei Erkrankungen des Vestibularorgans, z.B. einer Neuronitis vestibularis, sieht man eine Korrektursakkade, wenn der Kopf zur erkrankten Seite gedreht wird
- Vorsicht bei HWS-Erkrankungen!
- Thermische Vestibularisprüfung
Bei neurologischen und/oder vestibulären Symptomen muss sofort eine Klinikeinweisung erfolgen!
Der Hörsturz ist eine Ausschlussdiagnose!
Differenzialdiagnosen
Erkrankungen des Ohres [2][5]
- Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis): Langsam progrediente, symmetrische Innenohrschwerhörigkeit beidseits bei Patienten in fortgeschrittenem Alter
- Knall- oder Explosionstrauma
- Labyrinthitis
-
Barotrauma
- Mittelohrbarotrauma: Ohrenschmerzen und Schallleitungsschwerhörigkeit, im Extremfall Trommelfellperforation
- Innenohrbarotrauma (Ruptur des runden oder ovalen Fensters): Starke Schmerzen, plötzliche Innenohrschwerhörigkeit mit Tinnitus und Schwindel
- Morbus Menière: Symptomtrias mit plötzlichem Drehschwindel, Hörverlust und Tinnitus
- Perilymphfistel: Plötzliche Hörminderung, Drehschwindel, meist auch Tinnitus
- Cerumen obturans: Hörminderung
Weitere mögliche Erkrankungen
- ZNS-Erkrankungen, bspw. Schlaganfall, Multiple Sklerose, Meningitis, Tumoren (insb. Akustikusneurinom), Liquorverlustsyndrom
- Toxisch oder metabolisch bedingte Hörminderung, bspw. durch dialysepflichtige Niereninsuffizienz oder ototoxische Medikamente (wie Aminoglykoside, Cisplatin)
- Virusinfektionen, bspw. Zoster oticus, Mumps, Adenoviren
- Bakterielle Infektionen, bspw. Borreliose, Lues
- Erkrankungen der HWS, bspw. funktionelles HWS Syndrom, degenerative Erkrankungen, HWS-Trauma, starke Muskelverspannungen
- Internistische Erkrankungen, bspw. kardiovaskuläre Erkrankungen, arterielle Hypertonie, Autoimmunerkrankungen (z.B. Cogan-Syndrom, Lupus erythematodes) [6]
- Psychogene Hörstörung
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Allgemeines
- Besteht nach HNO-ärztlicher Vorstellung der Verdacht auf einen Hörsturz
- Therapieoptionen sollten mit dem Patienten besprochen werden und sich am Beschwerdebild orientieren
- Zeitnaher Beginn der Therapie mit Glucocorticoiden, noch bevor die Diagnostik beendet ist
- Bei zusätzlichen neurologischen oder vestibulären Symptomen: Sofortige stationäre Einweisung
- Spontanremissionsrate: 30–80% [2][5]
- Minimieren von Stressfaktoren und Lärm
- Ggf. Attestieren einer Arbeitsunfähigkeit
Es sollten bei jedem Patienten diagnostische Maßnahmen zur Ursachenfindung veranlasst werden!
Glucocorticoidtherapie bei Hörsturz
- Indikation
- Bei hinreichendem Verdacht auf einen Hörsturz und fehlenden Kontraindikationen: Sofortiger Beginn einer Glucocorticoidtherapie
- Bei geringer objektiver und subjektiver Beeinträchtigung: Abwarten einer Spontanremission für 2–3 Tage möglich
- Bei ausbleibender Besserung: Sofortiger Therapiebeginn
- Durchführung
- Ambulant: Bei fehlenden Risikofaktoren für Cortisontherapie
- Stationär
- Bei ein- oder beidseitiger Ertaubung
- Bei kontralateral bereits ertaubtem oder hochgradig schwerhörigem Ohr
- Bei zusätzlicher vestibulärer und/oder neurologischer Symptomatik
- Bei zu erwartenden Nebenwirkungen durch die Glucocorticoidgabe (Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, Glaukom, Depression)
- Bei starker psychosomatischer Beeinträchtigung
- Systemische Glucocorticoidgabe
- Prednisolon hochdosiert
- Bei Kontraindikationen für die systemische Glucocorticoidgabe oder bei ausbleibender Besserung nach systemischer Gabe kann eine intratympanale Gabe erfolgen
- Zusätzlich Gabe von Protonenpumpeninhibitoren (wegen Glucocorticoid-Nebenwirkungen)
Weitere Therapieansätze ohne Evidenz (Wirksamkeit nicht bewiesen)
- Indikation
- Alternative zu einer Therapie mit Glucocorticoiden
- Nach frustraner Glucocorticoidtherapie (oral und intratympanal)
- Maßnahmen
- Ginkgo [7]
- Magnesium [8]
- Hyperbare Sauerstofftherapie [9]
- HELP-Apherese (HELP = Heparin-induzierte extrakorporale LDL-Präzipitation) [10]
- Nicht mehr verwendet werden Pentoxifyllin und HAES-Infusionen
Ein früher Therapiebeginn verbessert die Prognose erheblich! Die Therapie mit Prednisolon sollte spätestens 2 Wochen nach Auftreten der Symptome begonnen werden! [11]
Bei einseitiger Ertaubung, objektivierbarer vestibulärer Symptomatik oder wenn es das „letzthörende“ Ohr ist, sollte in jedem Fall eine stationäre Therapie, ggf. mit Tympanoskopie, erfolgen!
Prognose
- Spontanremissionen
- Innerhalb der ersten Tage möglich, insb. bei primär nur leichtgradigen Hörverlusten
- Unterschiedliche Literaturangaben von 30% [2] bzw. 50% [12] bis zu 70–80% [5]
- Beste Prognose: Isolierte Hörverluste im Tief- oder Hochtonbereich [2]
- Ungünstigste Prognose
- Bei primär an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit oder pankochleärer Ertaubung
- Prognoseverschlechterung, je später mit der Therapie begonnen wird
- Verlauf
- Rezidivneigung, insb. bei Hörstürzen im Tief- und Mittelfrequenzbereich [1]
- Bei starker Hörminderung und ausbleibender Besserung: Versorgung mit Hörgeräten notwendig
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- H91.-: Sonstiger Hörverlust
- H91.2: Idiopathischer Hörsturz
- Akuter Hörverlust o.n.A.
- H91.2: Idiopathischer Hörsturz
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.