Zusammenfassung
Eine periphere Fazialisparese tritt oftmals idiopathisch auf, kann aber auch zahlreiche andere Ursachen haben. Neben erregerbedingter Genese kann sie z.B. auch traumatisch oder iatrogen verursacht sein. Die Gesichtsmuskulatur ist ipsilateral in unterschiedlichem Ausmaß gelähmt. Bei einer vollständigen Lähmung hängt der Mundwinkel, die Stirn kann nicht gerunzelt und das Auge nicht geschlossen werden. Die idiopathische Fazialisparese wird für einige Tage mit Prednisolon behandelt. Kann das Auge nicht geschlossen werden, ist ein Schutz der Hornhaut mit Salbe notwendig. Die Prognose ist relativ gut. Bei erregerbedingten Fazialisparesen wird antibiotisch (bei Neuroborreliose) oder antiviral (bei Zoster oticus) behandelt.
Die periphere Fazialisparese ist von der zentralen fazialen Parese abzugrenzen. Bei der zentralen Form bleibt das Stirnrunzeln sowie der Lidschluss aufgrund der motorischen Innervation beider Großhirnhemisphären erhalten, die mimische Muskulatur fällt kontralateral aus.
Epidemiologie
- Idiopathische Fazialisparese [1]
- Sonstige periphere Fazialisparesen
- Keine Zahlen aufgrund heterogener Ätiologie
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Idiopathisch (60–75%)
- Sekundäre Ursachen (25–40%)
- Häufige entzündliche Ursachen
- Neuroborreliose: Gelegentlich Manifestation als beidseitige Fazialisparese (Diplegia facialis); häufige Ursache der peripheren Fazialisparese, insb. im Kindesalter [2]
- Zoster oticus (z.B. Ramsay-Hunt-Syndrom: Zoster oticus mit peripherer Fazialisparese)
- Seltene entzündliche Ursachen (Auswahl)
- Iatrogen [3][4][5]
- Passagere Parese bei
- Infiltrationsanästhesie im Bereich des Ohres, der Wange oder des Kiefer-/Zahnbereich
- Iatrogener Muskellähmung beim Gebrauch von Botulinumtoxin
-
Verletzung des N. facialis bei
- Operativem Eingriff an der Gl. parotis
- Resektion der Gl. submandibularis oder Entfernung submandibulärer Lymphknoten (ggf. Läsion des Ramus marginalis mandibularis nervi facialis)
- Operativem Eingriff am Ohr (insb. Mittelohr) oder der seitlichen Schädelbasis
- Operativen Hauteingriffen im Bereich der Wange
- Operativen Eingriffen an der A. carotis (bspw. Thrombendarteriektomie)
- Passagere Parese bei
- Traumatisch
- Tumorös
- Parotistumor (dann Hinweis auf Malignität!)
- Schwannom des N. facialis
- Vestibularisschwannom (Akustikusneurinom)
- Meningeosis carcinomatosa
- Paragangliome/Glomustumoren
- Maligne Tumoren der Laterobasis oder des Ohrs
- Metabolisch
- Demyelinisierende Erkrankungen
- Guillain-Barré-Syndrom, hier auch als beidseitige Fazialisparese (Diplegia facialis)
- Otogen
- Komplikation einer Otitis media
- Cholesteatom
- Weitere Ursachen
- Melkersson-Rosenthal-Syndrom (rezidivierende, meist einseitige, periphere Fazialislähmung)
- Sarkoidose (Heerfordt-Syndrom)
- Karotisdissektion
- Häufige entzündliche Ursachen
Pathophysiologie
Je nach Läsionsort kann die Fazialisparese in eine periphere oder zentrale Parese eingeteilt werden. Eine periphere Fazialisparese resultiert meist aus einer Schädigung des Nerven in seinem Verlauf nach Austritt aus dem Hirnstamm bis zum innervierten Organ oder (seltener) aus einer isolierten Läsion der motorischen Kerngebiete im Hirnstamm (nukleäre Fazialisparese). Der zentralen fazialen Parese liegt eine Schädigung der Bahnen zwischen Kortex und motorischen Fazialiskernen (supranukleäre Fazialisparese) zugrunde.
Peripherer bzw. infranukleärer Verlauf des Nervus Fazialis
Fasern aus Kerngebieten des Pons sowie des Übergangsbereiches zwischen Pons und Medulla oblongata umrunden den Nucleus nervi abducentis → Austritt an der Unterkante des Pons, aufgeteilt in den eigentlichen N. facialis und den N. intermedius → Zieht durch den Porus acusticus internus ins Felsenbein → Canalis nervi facialis → Innerhalb des Kanals liegen das äußere Fazialisknie und der Abgang folgender Nerven
- N. petrosus major: Parasympathische Fasern für Schleimhautdrüsen in der Nase und für die Tränendrüse
- N. stapedius: Motorische Fasern zum M. stapedius
- Chorda tympani: Via Ganglion geniculi als Geschmacksfasern und via Ganglion submandibulare als parasympathische Fasern für die Speicheldrüsen Glandula sublingualis und Glandula submandibularis
Ende des Canalis nervi facialis und Austritt durch das Foramen stylomastoideum mitsamt der A. stylomastoidea → Danach Abzweigung des N. auricularis posterior → Danach Bildung des Plexus intraparotideus mit Abgang der motorischen Fasern für die mimische Muskulatur, den M. stylohyoideus und den M. digastricus
Symptomatik
-
Ipsilateraler Ausfall der kompletten mimischen Muskulatur
- Hängender Mundwinkel
- Fehlender Lidschluss
- Stirnrunzeln nicht möglich
- Keratitis e lagophthalmo
- Je nach Höhe der Läsion (von peripher nach zentral):
- Geschmacksstörung der vorderen zwei Drittel der Zunge (Läsion vor Abgang der Chorda tympani)
- Verminderte Speichelproduktion (Läsion vor Abgang der Chorda tympani )
- Hyperakusis durch Ausfall des M. stapedius (Läsion vor Abgang des N. stapedius)
- Verminderte Tränensekretion (Läsion vor Abgang des N. petrosus major)
Die Kaumuskulatur ist von einer Fazialisparese nicht betroffen, sie wird durch den N. trigeminus innerviert!
Diagnostik
Körperliche Untersuchung
- AMBOSS-Video-Tutorial zur Prüfung des N. fazialis:
- Untersuchung der mimischen Muskulatur
- Zähne zeigen
- Pfeifen
- Wangen aufblasen
-
Augen schließen
- Signe des cils („Wimpernzeichen“)
- Bell-Phänomen
- Stirn runzeln
- Untersuchung von Gehörgang (Otoskopie) und Ohrmuschel
- Bei Effloreszenzen (Bläschen) → Verdacht auf Zoster oticus
- Zosterinfektion auch ohne Effloreszenzen möglich (Zoster sine herpete)!
- Ggf. zusätzlich HNO-ärztliche Ohrmikroskopie zur Beurteilung des Gehörgangs und Trommelfells
- Bei Effloreszenzen (Bläschen) → Verdacht auf Zoster oticus
Weitergehende Diagnostik
- Laborchemische Untersuchungen: Ausschluss insb. einer erregerbedingten peripheren Fazialisparese (Neuroborreliose, Zoster sine herpete) [3][4]
- Blutuntersuchungen
- Borrelienserologie
- Bei klinischem Verdacht: VZV-Serologie
- Liquordiagnostik
-
Absolute Indikationen
- Kinder (häufiger Neuroborreliose)
- Verdacht auf Neuroborreliose (Zeckenstich-Anamnese, beidseitige Paresen, Hinweise auf Bannwarth-Syndrom)
- Verdacht auf Zoster oticus (Schmerzen, Effloreszenzen in und/oder um Ohr)
- Maligne Grunderkrankung (Abklärung einer möglichen Meningeosis neoplastica, hier vorherige Bildgebung sinnvoll, Diagnostik siehe: Meningeosis neoplastica)
- Parameter
- Befunde
- Idiopathisch: Unauffälliger Liquorbefund, ggf. leichte Zellzahlerhöhung
- Bei Neuroborreliose: Lymphozytäre Pleozytose (50– 500 Zellen), Nachweis Borrelien-spezifischer, intrathekaler Antikörperproduktion [6]
- Bei VZV: Lymphozytäre Pleozytose (<500 Zellen), positive VZV-PCR
-
Absolute Indikationen
- Blutuntersuchungen
- Topodiagnostik [3]
- Audiometrie und Messung der Stapediusreflexe
- Geringer Stellenwert in klinischer Routine
- Schirmer-Test
- Gustometrie: Testung des Geschmackssinnes der vorderen zwei Drittel der Zunge
- Bildgebung
- Sonografie Regio parotidea
- Schnittbildgebung des Kopfes: I.d.R. nicht notwendig
- Ausnahmen
- Verdacht auf Tumorerkrankung
- MRT bei Hinweisen auf zentrale neurologische Defizite (Hirnstammprozesse?)
- Felsenbein-CT bei otogener oder traumatischer Fazialisparese
- Ausnahmen
- Magnetstimulation
- Kanalikuläre Untererregbarkeit untermauert periphere Genese
- Bei idiopathischer Fazialisparese i.d.R. schon am ersten Erkrankungstag vorhanden
- Keine Unterscheidung zwischen idiopathischer und nicht-idiopathischer Ätiologie möglich
- Kanalikuläre Untererregbarkeit untermauert periphere Genese
- Elektrophysiologische Untersuchungen: Prognosebeurteilung bei idiopathischer Fazialisparese [3][4][5]
- Elektroneurografie
- Transkutane elektrische Reizung des N. fazialis beidseits und Messung der Reizantwort mittels Oberflächenelektroden
- Ausmaß des axonalen Schadens nach 10 Tage nachweisbar
- Elektromyografie
- Bestimmung der Muskelpotenziale bei willkürlicher Innervation
- Nachweis von Reinnervationspotenzialen sind prognostisch günstig
- Pathologische Spontanaktivität bei degenerativer Schädigung
- Elektroneurografie
Die idiopathische periphere Fazialisparese ist eine Ausschlussdiagnose!
Differenzialdiagnosen
Zentrale faziale Parese („Zentrale Fazialisparese“)
- Ätiologie
- Ischämischer oder hämorrhagischer Schlaganfall
- Multiple Sklerose
- Raumforderungen
- Pathophysiologie: Läsion im supranukleären Verlauf der Nervenbahn
- Anatomischer Verlauf: Motorischer Kortex im Gyrus praecentralis → Zug als kortikonukleäre Bahn (Tractus corticonuclearis) mit Pyramidenbahn durch Capsula interna → Kreuzung der kortikonukleären Bahn im Hirnstamm auf die Gegenseite → Innervation motorischer Kerngebiete des N. facialis im Pons
- Klinik
- Einseitige Läsion
- Ausfall der kontralateralen mimischen Muskulatur → Kontralateral hängender Mundwinkel
- Lidschluss und Stirnmuskulatur sind nicht betroffen
- Beidseitige Läsion: Diplegia facialis
- Einseitige Läsion
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Allgemeine Maßnahmen
- Schutz des Auges vor Austrocknung bei unzureichendem Lidschluss
- Dexpanthenol-Augensalbe
- Tränenersatzmittel
- Uhrglasverband in der Nacht
- Bei persistierendem fehlendem Lidschluss (nach 1 Jahr)
- Implantation von Gewichten in das Lid für Lidschluss („Lidloading“)
- Mikrochirurgische Reinnervation durch Nervenanastomose etwa vom N. hypoglossus oder als Cross-Face-Nervennaht vom kontralateralen N. fazialis
- Physiotherapie der mimischen Muskulatur
Maßnahmen nach Ursache
- Idiopathische Fazialisparese
-
Prednisolon oral für 5–10 Tage
- Therapieschema („Sullivan-Schema“): Prednisolon in fester Dosierung für 10 Tage [7]
- Therapieschema: Prednisolon für 5 Tage und anschließendem Ausschleichen
- Nur in Einzelfällen: Zusätzlich Virostatika
- Mögliche Indikationen: Komplette Fazialisparesen, Immunsuppression [1]
- Nicht indiziert sind operative Dekompressionsversuche
-
Prednisolon oral für 5–10 Tage
- Bei Neuroborreliose: Antibiotische Therapie, siehe: Lyme-Borreliose
- Bei Zoster oticus
- Virostatika wie Aciclovir oder Valaciclovir zusätzlich zu Prednisolontherapie (s.o., bei Immunsuppression i.v. Virostatikatherapie und ggf. auf Steroide verzichten)
- Bei Otitis media
- Antibiotische Therapie, siehe: Akute Otitis media
- Parazentese / Paukendrainage sowie ggf. Adenotomie
- Bei Raumforderungen oder Trauma: Operative Therapie, falls möglich
Prognose
- In 80% der Fälle vollständige Ausheilung der idiopathischen Fazialisparese
- Ungünstige prognostische Faktoren
- Hohes Alter
- Komplette Lähmung
- Keine Besserung unter Therapie in den ersten drei Wochen
- Teilweise Defektheilung mit pathologischen Mitbewegungen (Lidspalte bei Mundbewegung), Kontrakturen oder Krokodilstränen beim Essen (durch nervale Fehleinsprossung)
- Ungünstige prognostische Faktoren
- Sekundäre periphere Fazialisparese
- Prognose bei Neuroborreliose besser als bei Zoster oticus [4]
Besondere Patientengruppen
Schwangere [4]
- Insb. 3. Trimenon
- Prednisolontherapie nur stationär in Klinik für Geburtshilfe, sonst keine Abweichungen in Diagnostik und Therapie
- Regelmäßige Blutzuckerkontrollen unter Therapie
- Etwas ungünstigere Prognose als in der Normalbevölkerung
Periphere Fazialisparese im Kindes- und Jugendalter
Ätiologie
- Erworben
- Idiopathisch (ca. 60–80%) [9]
-
Infektionen
- Neuroborreliose (Je nach Region, in Deutschland ca. ⅓ der Fälle im Kindesalter ) [10]
- Otitis media
- Viral: Herpes simplex, Herpes zoster
- Traumatisch: Frakturen
- Neoplasien
- Neuroimmunologisch: Kawasaki-Syndrom, Sarkoidose
- Angeboren / postnatal
- Geburtstraumatische Fazialisparese
- Möbius-Syndrom
- Differenzialdiagnose: Angeborene Hypo-/Agenesie mimischer Muskulatur [11]
Diagnostik
- Anamnese: Zeckenbiss, Erythema migrans, zeitliche Dynamik
- Körperliche Untersuchung: Ohrinspektion , Hautinspektion , Blutdruck [9]
- Blutuntersuchung
- Borrelienserologie (IgG, IgM)
- Erregernachweis (PCR oder Kultur)
- Liquordiagnostik (immer!)
- Zeichen einer Neuroborreliose im Liquor
- Pleozytose
- Deutliche Eiweißerhöhung, ggf. oligoklonale Banden
- Anti-Borrelia-burgdorferi-IgM und ggf. -IgG
- Positiver Antikörperindex (Liquor/Serum ≥1,5)
- Ggf. positive Erregerdiagnostik (PCR, Kultur) [2]
- Zeichen einer Neuroborreliose im Liquor
- Diagnosekriterien Neuroborreliose [12]
- Liquorpleozytose und
- Nachweis von Anti-Borrelia-burgdorferi-IgM im Serum
- Siehe auch: Periphere Fazialisparese - Diagnostik
Bei Kindern mit peripherer Fazialisparese muss IMMER eine Liquorpunktion zum Ausschluss einer Neuroborreliose erfolgen!
Bei Liquorpleozytose und Nachweis von Anti-Borrelia-burgdorferi-IgM im Serum ist die antibiotische Therapie der Neuroborreliose bereits indiziert!
Therapie
- Fehlender Lidschluss siehe: Schutz des Auges vor Austrocknung bei unzureichendem Lidschluss
- Physiotherapie
- Neuroborreliose
- Ceftriaxon (oder Doxycyclin oder Cefotaxim)
- Siehe: Antibiotische Therapie der Borreliose bei Kindern [10]
- Zoster oticus oder Herpesenzephalitis siehe: Therapie des Herpes zoster bei Kindern
- Otitis media siehe: Therapie der Otitis media
- Idiopathische Fazialisparese
- I.d.R. keine Therapie notwendig
- Ggf. Prednisolon innerhalb von 3(–7) Tage nach Symptombeginn erwägen [9][13][14][15]
Prognose
- Allgemein: 90% Symptomrückbildung
- Idiopathische Fazialisparese: 90% innerhalb von 6 Monaten, nahezu 100% nach 1 Jahr
- Selten Spätfolgen
- Fazialisspamus
- Fehlerhafte Reinnervation: Fazialis-Synkinesie
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- G51.-: Krankheiten des N. facialis [VII. Hirnnerv]
- G51.0: Fazialisparese
- Bell-Lähmung
- G51.1: Entzündung des Ganglion geniculi
- Exklusive: Entzündung des Ganglion geniculi nach Zoster (B02.2)
- G51.2: Melkersson-Rosenthal-Syndrom
- G51.3: Spasmus (hemi)facialis
- G51.4: Faziale Myokymie
- G51.8: Sonstige Krankheiten des N. facialis
- G51.9: Krankheit des N. facialis, nicht näher bezeichnet
- G51.0: Fazialisparese
- P11.-: Sonstige Geburtsverletzungen des Zentralnervensystems
- P11.3: Geburtsverletzung des N. facialis [VII. Hirnnerv]
- Fazialislähmung durch Geburtsverletzung
- P11.3: Geburtsverletzung des N. facialis [VII. Hirnnerv]
- S04.-: Verletzung von Hirnnerven
- S04.5: Verletzung des N. facialis
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.