Zusammenfassung
Chronische Nierenerkrankungen sind in allen operativen Fachrichtungen häufig und bergen relevante perioperative Risiken. Die eingeschränkte Nierenfunktion beeinträchtigt die Regulierung des Wasser- und Elektrolythaushalts und beeinflusst die Pharmakologie vieler anästhesierelevanter Medikamente. Begleiterkrankungen sind häufig, das Risiko für eine perioperative akute Nierenschädigung ist erhöht. Zusätzliche Herausforderungen ergeben sich bei dialysepflichtigen chronischen Nierenerkrankungen.
Ein sorgfältiges perioperatives Management kann eine weitere Verschlechterung der Nierenfunktion und Komplikationen wie Hyperkaliämie und Hypervolämie vermeiden. Präoperativ werden das Ausmaß der Niereninsuffizienz und das Risiko für eine akute Nierenschädigung bewertet; bei fortgeschrittener Erkrankung sind Trinkmenge und letzter Dialysetermin entscheidend für die OP-Planung. Intraoperativ liegt der Fokus auf angepassten Dosierungen und der Aufrechterhaltung des renalen Perfusionsdrucks durch stabile Kreislaufverhältnisse und Normovolämie. Nephrotoxische Substanzen und Hyperglykämien sind zu vermeiden. Postoperativ muss ggf. die verlängerte Wirkdauer und Akkumulation der Medikamente berücksichtigt werden.
Physiologie der Nieren
- Relevanz: Grundverständnis insb. wichtig für
- Anästhesie bei chronischer Nierenerkrankung
- Eingriffe mit postoperativ verminderter Nierenfunktion
- Funktionen der Nieren im Überblick
- Ausscheidung harnpflichtiger Substanzen
- Produktion von Primär- und Endharn
- Ausscheidung von Medikamenten mit renaler Elimination
- Regulation des Wasser- und Elektrolythaushalts
- Regulation des Säure-Basen-Haushalts
- Regulation von Blutdruck (RAAS) und Blutvolumen
- Bildung von Hormonen
- Stoffwechselprozesse
- Ausscheidung harnpflichtiger Substanzen
- Durchblutung der Nieren
- Renaler Blutfluss entspricht ca. 20% des HZV
- Aufrechterhaltung einer konstanten Organdurchblutung trotz systemischer Blutdruckschwankungen
Die Nieren spielen eine zentrale Rolle zur Aufrechterhaltung der Homöostase, insb. im Hinblick auf den Wasser- und Elektrolythaushalt! [1]
Screening und Risikoeinschätzung
Abschätzung der Nierenfunktion bei chronischer Nierenerkrankung
- Abschätzung der GFR mittels CKD-EPI-Formel oder MDRD-Formel
- Grob orientierend anhand des Serumkreatinins und Gesamteindrucks der betroffenen Person [1]
- Anhand der GFR-Reduktion: Stadieneinteilung nach KDIGO möglich
- Siehe auch: Chronische Nierenerkrankung - Stadien
Abschätzung des perioperativen Risikos für eine akute Nierenschädigung
- Beurteilung der patienten- und eingriffsabhängigen Risikofaktoren
- Bei kardiochirurgischen Eingriffen: Cleveland Clinic Foundation Score
- Siehe auch: Einschätzen des perioperativen Risikos
Risikofaktoren für eine perioperative akute Nierenschädigung
Risikofaktoren für eine perioperative akute Nierenschädigung [2][3][4] | |
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Patientenabhängig | Eingriffsabhängig |
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Cleveland Clinic Foundation Score
Cleveland Clinic Foundation Score (Risiko für eine akute Nierenschädigung nach kardiochirurgischen Eingriffen) [5] | ||
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Parameter | Punkte | |
Weibliches Geschlecht | 1 | |
Vorerkrankungen | Herzinsuffizienz | 1 |
LVEF <35% | 1 | |
Präoperative IABP | 2 | |
COPD | 1 | |
Insulinpflichtiger Diabetes mellitus | 1 | |
Z.n. Herz-OP | 1 | |
Notfall-OP | 2 | |
Elektiver Eingriff | Klappen-OP | 1 |
Klappen-OP, kombiniert mit Koronarchirurgie | 2 | |
Andere Herz-OP | 2 | |
Präoperative Kreatininkonzentration im Serum | 1,2–2,0 mg/dL | 2 |
≥2,1 mg/dL | 5 | |
Auswertung (mögliche Punktzahl: 0–17 Punkte) | Risiko für dialysepflichtige akute Nierenschädigung
|
Aktuell gibt es nur für die Kardiochirurgie ein evidenzbasiertes Scoring-System zur Abschätzung des Risikos für eine perioperative akute Nierenschädigung!
Präoperatives Management
Anamnese und Untersuchungen [1]
- Anamnese und körperliche Untersuchung
- Bei fortgeschrittener chronischer Nierenerkrankung: Frage nach Trinkmenge und Restausscheidung [6]
- Bei Dialyse
- Art der Dialyse
- Zeitpunkt des letzten Termins
- Dialysezugang und dessen Funktionsfähigkeit
- Fokus auf häufige, anästhesiologisch relevante Begleiterkrankungen
- Labordiagnostik: Insb. Serumkonzentrationen beachten von
- Siehe auch: Präoperative Diagnostik und Laboruntersuchungen
Anästhesiologisch relevante Begleiterkrankungen bei chronischer Nierenerkrankung [7] | |
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Kardiovaskulär | |
Pulmonal | |
Endokrinologisch | |
Hämatologisch |
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Gastrointestinal |
|
Systemisch |
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Kardiovaskuläre Begleiterkrankungen sind bei chronischer Nierenerkrankung häufig! [8]
Bei fortgeschrittener chronischer Nierenerkrankung sind Trinkmenge, Restausscheidung und Zeitpunkt der letzten Dialyse vor dem OP-Termin besonders relevant für die perioperative Planung!
Präoperative Optimierung
- Vormedikation
- Individuelle Abwägung der perioperativen Gabe von Diuretika
- Berücksichtigung weiterer Medikamente zur Behandlung von Begleiterkrankungen [8]
- Siehe auch: Perioperativer Umgang mit Vormedikation
- Neuverordnung von Medikamenten: Bei Bedarf
- Medikamentöse Prämedikation
- Möglichst vermeiden (Patientenwunsch berücksichtigen)
- Bei starker Angst vor dem Eingriff: Kurzwirksames Benzodiazepin in reduzierter Dosis, bspw. Midazolam
- Weiteres
- Patient Blood Management
- Labordiagnostik: Grenzwerte der Kaliumkonzentration im Serum
- Durchführung einer elektiven OP: <5,5 mmol/L [1]
- Lebensbedrohliche Hyperkaliämie: ≥6,5 mmol/L
- Siehe auch: Therapie der Hyperkaliämie
- OP-Zeitpunkt: Elektive Eingriffe bestenfalls am Tag nach der Dialyse planen
Eine elektive Operation sollte bei einer erhöhten Kaliumkonzentration im Serum (etwa ab 5,5 mmol/L) ggf. verschoben werden! [1]
Bei Eingriffen unmittelbar nach einer Dialyse muss mit einem Volumenmangel und einer Heparinisierung gerechnet werden! [1]
Auswahl des Narkoseverfahrens [7]
- Regionalanästhesieverfahren bevorzugen
- Allgemeinanästhesie unter Berücksichtigung der spezifischen Risiken möglich
Intraoperatives Management
Vorbereitung [1][7]
- Monitoring: Kein spezielles hämodynamisches Monitoring nur aufgrund der Nierenerkrankung erforderlich
- Invasive Blutdruckmessung erwägen bei kardiovaskulärer Begleiterkrankung
- Keine Blutdruckmessung am Shunt-Arm
- Relaxometrie bei Muskelrelaxierung obligat
- Lagerung: Shunt-Arm besonders sorgfältig lagern und gegen Druck schützen
- Periphere Gefäßzugänge
- Anlage bevorzugt am Handrücken
- Keine Anlage am Shunt-Arm
- Zentrale Gefäßzugänge
- Anlage bevorzugt in der rechten V. jugularis interna [8]
- Möglichst keine ZVK-Anlage in der V. subclavia
- Keine Verwendung bereits liegender Dialysekatheter für Anästhetika
Keine Gefäßpunktionen, Anlage von Zugängen oder Blutdruckmessungen am Shunt-Arm! [7]
Narkoseeinleitung [1][7][8]
- Allgemeines Vorgehen
- Rapid Sequence Induction erwägen bei urämischer Gastroparese mit erhöhtem Aspirationsrisiko
- Keine Gabe von Succinylcholin bei Hyperkaliämie
- Engmaschige Blutdruckkontrollen
- Titrierte Gabe von Medikamenten
- Nephrotoxische Medikamente möglichst vermeiden [2]
- Natriumgehalt von Medikamenten beachten [9]
- Auswahl der Einleitungsmedikamente
- Opioid: Remifentanil, Sufentanil oder Alfentanil bevorzugen
- Allgemeinanästhetikum: Propofol bevorzugen , alternativ Thiopental, Midazolam oder Etomidat (titrierte Gabe nach Wirkung! )
- Muskelrelaxans: Atracurium oder Cisatracurium bevorzugen
Narkoseführung [1][7][8]
- Anästhesieverfahren: Auswahl des Verfahrens vornehmlich nach Begleiterkrankungen
- Balancierte Anästhesie: Desfluran oder Sevofluran bevorzugen [7]
- TIVA: Propofol und Remifentanil
- Monitoring
- Blutdruck: Intraoperative Hypotonie vermeiden, renale Perfusion aufrechterhalten [10]
- Ziel-MAP i.d.R. 65–75 mmHg [8]
- Bei Hypotonie: Hypovolämie ausgleichen, ggf. medikamentöse Kreislaufunterstützung mit Noradrenalin [11]
- Elektrolyte: Kaliumkonzentration im Serum bestimmen (zu OP-Beginn und im Verlauf per BGA)
- Blutzucker: Regelmäßige Kontrollen, Hyperglykämie vermeiden [2]
- Zusätzlich bei hohem Risiko für eine perioperative akute Nierenschädigung [2]
- Messung der stündlichen Urinausscheidung
- Regelmäßige Kontrollen der Kreatininkonzentration im Serum
- Ggf. erweitertes hämodynamisches Monitoring
- Blutdruck: Intraoperative Hypotonie vermeiden, renale Perfusion aufrechterhalten [10]
- Flüssigkeitstherapie: Optimierung des renalen Perfusionsdrucks und des Volumenstatus
- 1. Wahl: Balancierte Vollelektrolytlösung
- Keine Gabe von NaCl 0,9% (Risiko für hyperchlorämische Azidose)
- Zu beachten: Natriumeffekt von Infusionslösungen
- Intraoperative Gabe von Diuretika: Möglichst zurückhaltend bzw. vermeiden [12]
Perioperatives Flüssigkeitsmanagement bei chronischer Nierenerkrankung [1] | |||
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Stadium der chronischen Nierenerkrankung | Restausscheidung | Vorgaben zur täglichen Trinkmenge | Perioperatives Flüssigkeitsmanagement |
Kompensierte Retention |
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Dialysepflichtig |
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Nephrotoxische Medikamente, Hypotonie und Hyperglykämie sollten zur Prävention einer perioperativen akuten Nierenschädigung vermieden werden! [2][10]
Bei Personen ohne Trinkmengenbeschränkung ist das Ziel eine ausgeglichene Flüssigkeitsbilanz!
Narkoseausleitung
- Sicherstellung der Extubationskriterien
- Muskelrelaxanzien-Überhang ausschließen
- Durchführung siehe auch: Praktisches Vorgehen bei der Extubation
Postoperatives Management
- Schmerztherapie im Aufwachraum: Ggf. verlängerte Wirkdauer und Akkumulation berücksichtigen [1]
- Bevorzugt Lokal- oder Regionalanästhesieverfahren fortführen bzw. erwägen
- Kombination von Nicht-Opioid-Analgetika und Opioiden
- 1. Wahl: Metamizol und Piritramid
- Grundsätzlich auch NSAR möglich [14]
- Wiederholte Morphin-Gabe vermeiden
- Siehe auch: Beispielalgorithmus für die Schmerztherapie im Aufwachraum
- Postoperative Überwachung im Aufwachraum [1]
- Hypotonie vermeiden bzw. vorbeugen
- Ggf. invasives hämodynamisches Monitoring weiterführen
- Volumenverluste berücksichtigen, insb. Kontrolle der Ausscheidung und Drainagen
- Kontrolle der Kaliumkonzentration im Serum: Sinnvoll nach größeren Eingriffen (vor Entlassung aus dem Aufwachraum)
Bei chronischer Nierenerkrankung sollte eine wiederholte Morphin-Gabe zur postoperativen Schmerztherapie vermieden werden! [1]